“Der Traum und der Wunsch nach einer anderen Welt überdauern die Barbarei”

Übersetzung: Cornelia Steinigen

im Interview mit Júlio do Carmo Gomes


Aus Paris erzählte Charles Reeve dem Utopie-Magazin Ende letzten Jahres, dass die scheinbare Schwäche der aktuellen sozialen Bewegungen den roten Faden der Bewegungen nicht abbrechen lasse, da dieser „bestehen bleibt und wieder aufgenommen wird, sobald eine neue Protestbewegung entsteht, die das aktuelle Chaos beantwortet“. Eine Auffassung, die die historische Bedeutung der Verbindung zur Vergangenheit der sozialen Kämpfe betont und die jüngste Offenbarung sozialer Unruhen auf den Straßen und Plätzen Frankreichs, die Nuit debout vorausahnen ließ.
Nicht ohne Zynismus sagte der romänische Philosoph Emil Cioran, dass “der Mensch durch die Verweigerung des gegebenen Glücks zu einem historischen Tier wird ”. Seit den 70er Jahren widmet sich Charles Reeve in seinen Essays (siehe biografische Notiz) der Aufgabe, dieses “historische Tier” als soziales und politisches Subjekt ans Tageslicht zu befördern.
Ein historisches oder im aristotelischen Sinne politisches Tier, das die Kirche des Endes der Geschichte unter allen Umständen – die Hostie des Individualismus und den schlechten Wein des guten Bürgers verabreichend – vor dem Altar des Neoliberalismus niederknien lassen will. Wenn die Enzyklika der „weiche[n], demokratische[n] Integration, d[er] Unterordnung unter die Warendemokratie“ auch keine Seelen konvertiert, so werden die Untreuen aller Provenienz in die Verliese der Realpolitik geworfen.
Um die Dramaturgie des Endes und der Messe des neoliberalen Realismus hinter uns zu lassen, mahnt uns Reeve „die Erinnerung an die Momente des Umbruchs in der Geschichte aufrechtzuerhalten, den Zweifel in eine historische Perspektive zu setzen und auf Fragen, die uns in einer Zeit der Normalität, des Konsenses und der Dienstbarkeit an der momentanen (sich als ewig und definitiv ausgebenden) Ordnung scheinbar ohne Antwort lassen, die positiven, konkreten Antworten parat zu halten, die die sozialen Bewegungen bereits geliefert haben.“
Seit den 60er Jahren in Paris verpflichtet sich Reeve als Autodidakt seiner Zeit. Die libertäre Ader ist der Kompass seiner in zahlreichen Publikationen materialisierten Reise zu den verschiedenen Epochen der Zeitgeschichte und zu voneinander so entfernten wie verschiedenen Gesellschaften, wie der portugiesischen, der chinesischen, der französischen und nordamerikanischen. Die kollektiven Prozesse der Kämpfe sind dabei ebenso sein Thema, wie die historischen Erfahrungen der Transformation und Emanzipation oder die persönliche Entwicklung des Denkens und Handelns von revolutionären Kämpfern wie Paul Mattick und Francisco Palomo.
Dieses Vermächtnis lässt ihn nicht seinen Sinn für Selbstkritik verlieren, wenn er zu Beginn des Interviews mahnt, dass selbst die Erfahrung des Mai ‘68, der Mobilisierungen gegen den Vietnamkrieg und die USA, oder der Nelkenrevolution in Portugal weder dazu führten, “Antworten auf alles“ zu haben, noch „eine Meinung zu allem zu haben”. Er gesteht sogar, dass er im Laufe der Zeit „umso mehr darüber nachdenke, was [er] erlebt habe und [ihm] umso mehr Zweifel, ja Fragen aufkommen.“
Der Lauf der Zeit ist schöpferisch darin, Verwirrung zu verbreiten und vor allem darin, Antworten zu entwerfen auf Fragen, die ihren unaufhaltsamen und katastrophalen Lauf nicht herausfordern. Die neueste Phantasie der späten Moderne ist es, uns davon zu überzeugen, dass sich die Barbarei wie die Datenbank einer Steueroase verwalten lässt und dass sie – die Barbarei – zu einem Verhängnis geworden ist, das Gewinn abwirft wie jede andere Ware auch. Reeve gibt der Barbarei ihren weniger facebooktauglichen Zusammenhang zurück, die Verbindung, die am wenigsten likes einbringt: “Das Ende der Geschichte war der Beginn einer anderen Geschichte, einer Geschichte, die sich beschleunigt hat und die uns bis an den Punkt des planetaren, ökologischen, kriegerischen Desasters gebracht hat, an dem wir uns nunmehr befinden. Das Trümmerfeld, das vom alten Libyen bis nach Pakistan reicht, die Millionen Vertriebenen und Flüchtlinge sind die Negation dieser Ideologie vom Ende der Geschichte.“
So sehr uns die Zeit auch mit einer neuen Palette von Opium fürs Volk zerstreut, “Man produziert Angst und verkauft sie, obwohl das Ende der Geschichte beruhigend und einschläfernd sein wollte“, findet der in Portugal geborene Autor die historische Grundlage, um zu bekräftigen: „Der Traum und der Wunsch nach einer anderen Welt, der Sinn für Gerechtigkeit und Gleichheit lassen sich vom Kampf ums Überleben nicht trennen. Es ist sogar dieser Sinn, der die Barbarei überdauert.
Unter den vielen Fragen und den während des Interviews geäußerten Bedenken gibt es darüber eine tiefe und unumstößliche Gewissheit, die es dieser Tage zu berücksichtigen gilt.

Wenn man einen Blick auf die jüngere Geschichte wirft, scheint es, dass die Linke, sobald sie an die Macht kommt, systematisch aufhört, links zu sein: von der Russischen Revolution, über Lulas Brasilien bis hin zum Scheitern von Syriza. Hältst du es nach fünf Jahrhunderten des modernen Staats als Paradigma der gesellschaftlichen Organisation und mit der gut verkauften Niederlage der Idee einer anderen Gesellschaft für notwendig, die Politik ohne den Staat zu denken? Müssen wir die Art und Weise, wie wir Gesellschaft denken, neu erfinden?

Die Linke, der Staat und das heutige Nachdenken über Politik! Drei Themen, die unseren Austausch in eine gute Richtung lenken. Aber man muss sich zunächst vor der Versuchung bewahren, über alles reden zu wollen, alle Fragen zu behandeln, Antworten auf alle Fragen finden zu wollen. Weil ich einige Aufsätze geschrieben und die Chance hatte, einige Perioden intensiver gesellschaftlicher Umbrüche zu erleben – den Mai ‘68 in Paris, die Mobilisierung gegen den Vietnamkrieg in den USA, die Portugiesische Revolution von 1974 – habe ich weder Antworten auf alles, noch fühle ich mich frei, eine Meinung zu allem zu haben. Ich würde sogar sagen, dass ich, je mehr ich im Leben voranschreite, umso mehr darüber nachdenke, was ich erlebt habe und mir umso mehr Zweifel, ja Fragen aufkommen. Mir fällt es leichter, Fragen zu stellen als Antworten zu liefern. Ich bin mit all den Fragen überfordert ...

Wobei wir alle Gewissheiten, Richtwerte und Orientierungen haben. Das Denken macht sie erforderlich, um die Welt um uns herum betrachten zu können. Was sind die Früchte der Lebenserfahrung jedes Einzelnen, der Lebenserfahrung derjenigen, die uns vorangegangen sind und die uns die Geschichte überliefert haben? Was sind die Früchte unserer Überlegungen und unserer Schlussfolgerungen, unserer völlig provisorischen, begrenzten, manchmal auch starren Perspektiven?
Ich glaube nicht, dass das Konzept der „Linken“ sehr nützlich ist, um die politische Welt zu verstehen, in der wir leben und die sich uns aufzwingt. Um ehrlich zu sein, glaube ich nicht, dass die „Linke“ heute noch existiert. Allenfalls reduziert sie sich auf eine klägliche Summe mehr oder weniger humanistischer Werte, auf eine kurzfristige Moral. Und weil man diese gleichen Werte auch bei Menschen findet, die sich für rechts halten, und nicht nur bei Menschen, die von sich sagen, sie seien linksorientiert.
Für sie alle wird eine fast vereinheitlichte Politik mit gemeinsamen Zielen für das Innere des Systems betrieben, mit zaghaften Variationen in Taktik und Verhalten. Verwirrung herrscht vor; man sieht zum Beispiel heute in Frankreich wie eine Partei, die sich sozialistisch nennt, vollkommen auf neoliberale Kriterien ausgerichtet ist, rechtsgerichtete und sogar extrem rechtsorientierte Politik realisiert, indem sie Vorschläge derjenigen annimmt, die sie wie besessen als ihre politischen Feinde darstellt. Die Linke wird nicht rechts, wenn sie an die Macht gelangt. Das war sie bereits bevor sie dort ankam und umgekehrt. Diese Verworrenheit ist Ausdruck der aktuellen Krise der Politik, welche ihrerseits Ausdruck der Krise des Systems in seiner Gesamtheit ist. Der Staat kolonisiert nicht die Gehirne der Politiker. Um sich auf dem Feld der Politik zu bewegen, muss man den Staat schon zuvor und zuallererst im Geiste haben, muss man in Begriffen des Staates, des Kalküls, der Effektivität, der Verantwortlichkeit (im Bezug auf das System), alles in allem in Begriffen der Staatsraison, denken.
Um zu den Ursprüngen zurückzukehren: Die Idee der Linken war eng mit der Periode verknüpft, in der sich der Kapitalismus entwickelt hat und in der das Profitsystem so funktionierte, dass man Kapital anhäufen und zur gleichen Zeit die Existenzbedingungen der Frauen und Männer verbessern konnte, die es produzierten. Mit anderen Worten: Eine Periode, in der sich der Kapitalismus entwickeln konnte, indem er soziale Reformen unterstützte, die die Produzenten an das System und gleichzeitig an dessen Fortbestand banden. Solange sich dieser Prozess fortsetzte, gab es Aufstände und Proteste, aber die große Mehrheit der Personen passte sich ihrem Schicksal an und sah nicht ein, warum daran etwas geändert werden sollte, zumal sich ihr Schicksal durch ihre als Teilhabe wahrgenommene Unterordnung schrittweise verbesserte. Auf diesem Nährboden reproduzierten sich die politisch linken Kräfte in Form von Partei-Gewerkschaften und fanden ihre Unterstützung. Selbstverständlich lief „Politik machen“ notwendigerweise über den Staat, zumal es der Staat war, der diesen Konsens und die materielle Verteilung der Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen verwaltete. Die Linke und der Staat haben sich immer zusammen entwickelt; die so genannten linken Politiken gehörten im Wesentlichen zum Interventionismus des Staates in Wirtschaft und Gesellschaft. Die Hauptströmung des marxistischen Sozialismus, ein Modell, dass sich der Sozialdemokratie annähert, hat sich in der Gesellschaft mit der Idee verankert, dass die Bedingungen für den Übergang zum Sozialismus durch verstärkte Eingriffe des Staates in die Wirtschaft geschaffen würden. Und die bolschewistische, leninistische Variante dieser Strömung hob sich davon ab – jedoch nicht bezüglich des angestrebten Ziels, nämlich eines Staatssozialismus, sondern bezüglich der Mittel, um dieses zu erreichen: durch einen Parteivoluntarismus und -aktivismus.
Das ganze Gedankengebäude bröckelt heute. Der Staatssozialismus bolschewistischen Typs hat sich als nichts weiter als eine besondere historische Phase der Entwicklung des Kapitalismus in solchen Gesellschaften herausgestellt, die unter kapitalistischen Gesichtspunkten zunächst zurückgeblieben waren. Der Totalitarismus dieser Regime hat eine beschleunigte kapitalistische Entwicklung mit schrecklichen zerstörerischen Konsequenzen für die Gesellschaft und ihre Umwelt (sofern man beide voneinander trennen kann) mit sich gebracht. Dies ist insbesondere im Falle Chinas sichtbar. Wir werden darauf zurückkommen.
Eine letzte Bemerkung über die nicht wirklich existierende „Linke“. Die politischen Gruppierungen, die weiterhin das Konzept der „Linken“ für sich beanspruchen, sind nicht nur dem Prinzip des Staates, sondern auch den Werten des Nationalismus und somit unvermeidlich kriegerischen Praktiken verhaftet.
Es gibt Varianten und Besonderheiten, aber das französische Beispiel ist gleichwohl aufschlussreich. In dem Maße, wie der Raum für Reformen mit der Ertragskrise des Kapitalismus schwindet, wird der reformerische Inhalt der Linken schrittweise durch reaktionäre Werte des Patriotismus und Nationalismus ersetzt.
Die französische Linke, insbesondere der Sozialismus, ist seit dem Ende des 19. Jahrhunderts mit dem Nationalismus fusioniert. Die französische sozialistische Partei war an allen Kriegen beteiligt, angefangen beim ersten großen Gemetzel von 1914-18, bis hin zu den letzten Kolonialkriegen in Indochina und Algerien, und jüngst den Kriegen des Nahen Ostens. Die französische sozialistische Partei ist heute vollkommen dem militärisch-industriellen Komplex unterworfen, der zusammen mit der Kernenergie das Zentrum der französischen Wirtschaft darstellt. Und die Beharrlichkeit, mit der ihre Ideologen „republikanische“ Werte anbringen, reduziert sich auf den Patriotismus. Wenn das nicht ausreicht, um den Sinn und den Inhalt des Konzepts der „Linken“ in Frage zu stellen ...

Wie kann man die Ideologie vom Ende der Geschichte überwinden, wenn die Industrie, die den Tod der Geschichte fabriziert, spektakulärer ist als Hollywood und Bollywood zusammen?

Eduardo Lourenço, einer der wenigen Intellektuellen, der dafür bekannt ist, die portugiesische Gesellschaft auf kosmopolitische Weise zu denken, erinnerte vor kurzem daran, dass diese Idee von Hegel und Marx in umgekehrter Weise aufgegriffen worden ist. Für Marx bedeutete sie das Ende der entfremdeten Geschichte, also jener, die sich den Menschen auferlegte, und den Beginn der Geschichte, die bewusst durch die Menschen kreiert wird. Bei Fukuyama ist die Idee vom Ende der Geschichte auf einen Moment der entfremdeten Geschichte reduziert, auf den Moment, in dem sich der Block des Staatskapitalismus auflöst und das Gleichgewicht durch den nuklearen Terror zwischen den zwei Blöcken endet. Dies war nicht die reine Ideologie. Die Vorstellung vom Ende der Geschichte brachte zum Ausdruck, dass der demokratische Marktkapitalismus dem Planeten von nun an seine Ordnung auferlegen und wie die ewige Zukunft, also ohne Geschichte, herrschen würde. Der Untergang des Staatskapitalismus fällt nun aber genau zusammen mit dem Beginn der großen Krise des Marktkapitalismus, der zu einem globalen Kapitalismus geworden ist, und mit dem Beginn einer Reihe von historischen und das System sowie die Gesellschaften destabilisierenden Ereignissen, wie Krisen, Kriegen und geopolitischen Umbrüchen. Die Länder, die aus dem Block des Staatskapitalismus ausgetreten sind, übernehmen den Marktkapitalismus genau in dem Moment, in dem dieser die ersten Anzeichen von Erschöpfung zeigt. Die Ideologie vom Ende der Geschichte ist schnell vom Fortgang der Geschichte verworfen worden. Das Ende der Geschichte war der Beginn einer anderen Geschichte, einer Geschichte, die sich beschleunigt hat und die uns bis an den Punkt des planetaren, ökologischen, kriegerischen Desasters gebracht hat, an dem wir uns nunmehr befinden. Das Trümmerfeld, das vom alten Libyen bis nach Pakistan reicht, die Millionen Vertriebenen und Flüchtlinge sind die Negation dieser Ideologie vom Ende der Geschichte. Die Ideologieproduktion hat das Ende der Geschichte aufgegeben und konzentriert sich von nun an auf die Gefahr der Apokalypse der so genannten modernen Gesellschaften, die durch die Kräfte des Bösen bedroht werden. Man produziert Angst und verkauft sie, obwohl das Ende der Geschichte beruhigend und einschläfernd sein wollte.

Letzten Endes wird Tag für Tag, Bild für Bild, der Tod der Träume fabriziert. Mit den Worten Adornos „das Netz der Täuschung“. Die Neu-Erzähler der Geschichte werden durch die technische und publizistische Verwaltung dieses Archiv des politischen Nachrufs vollenden: Marxismus, Dadaismus, Surrealismus, Beatniks, Situationismus ... Sind diese visionären Kräfte vergangen? Hat der Mensch aufgehört, sich ausgehend vom Traum, vom Idealismus, vom sozialen Wandel in Frage zu stellen?

Ich glaube nicht, dass man die Bewegung der Gesellschaften vom Gesichtspunkt der Erfahrung einer Generation, unserer Generationen in diesem Fall, beurteilen kann. Die Zeit der Gesellschaften und die Zeit der Individuen ist nicht dieselbe und deshalb müssen wir unsere Leben immer ins Verhältnis zur Geschichte und zur Erfahrung anderer Generationen setzen. Es ist wahr, wir leben einen historischen Moment, einen Übergang und in einer Zeit, in der es scheint, als ob „der Mensch sich nicht mehr ins Verhältnis zum Traum, zum Idealismus, zum sozialen Wandel setzt“. Aber selbst diese Behauptung scheint mir relativ zu sein. Wir sind Teil von Generationen, die den Mai ‘68, die antibürokratischen Revolten in den staatskapitalistischen Ländern, die letzten antikolonialen Aufstände, die Auflösung der bürokratischen Systeme des Staatskapitalismus direkt oder aus nächster Nähe miterlebt haben. Immerhin! Nachher ist es legitim, sich folgende Frage zu stellen: Werden das menschliche Desaster, die Barbarei, die sich ausbreitet, die Visionen und Wünsche nach einer neuen Welt begrenzen, ja unterdrücken? Sicher, die Barbarei erzeugt Angst und lähmt. Ich denke, dass dies nur eine bestimmte Zeit anhält. Wir überwinden diese Zeit. Der Traum und der Wunsch nach einer anderen Welt, der Sinn für Gerechtigkeit und Gleichheit lassen sich vom Kampf ums Überleben nicht trennen. Es ist sogar dieser Sinn, der die Barbarei überdauert. Noch einmal zurück zur Erfahrung: Ich bin Teil einer Generation, die den Alltag einer extrem autoritären Gesellschaft mit unbestreitbar totalitären Erscheinungsformen gelebt hat. Trotzdem haben wir auch den Traum, den Protest, eine subversive Vorstellungswelt gelebt. Wir haben zu Genüge festgestellt, dass die weiche, demokratische Integration, die Unterordnung unter die Warendemokratie die „Bürger“ mehr als die autoritären Regime ausgeschaltet hat. Es geht nicht darum, die berühmte „Politik der schlechtesten Lösungen“ zu verteidigen. Es geht vielmehr darum, festzuhalten, dass das „Beste“ oft eine schleichende Folge des „Schlechtesten“ ist und dass die beiden sich auf derselben Ebene der Entfremdung befinden. Hier also noch eine Idee, die all denjenigen unzugänglich ist, die darüber aus der Kapsel der Konzepte von „Linke“ und „Rechte“ heraus nachdenken.

Ganz im Gegenteil, auf den Straßen Islands, auf den Plätzen Spaniens, Griechenlands, oder in der „Occupy Wall Street“-Bewegung bis hin zum Taksim-Platz hat man dieses Denken und die repräsentative Logik überwunden und sich jenseits individualistischer Selbstdarstellung entworfen. Was bleibt von dieser Vielfalt der Aufstände?

Ich bin davon überzeugt, dass diese Bewegungen in der politischen Krise in den heutigen Gesellschaften einen wichtigen Moment markieren. Die Forderung nach direkter Demokratie, die Zurückweisung von Trennungen, wie der zwischen Wirtschaft und Politik, Führern und Geführten drücken die Prinzipien von Selbstregierung und sozialer Emanzipation aus, die auf der alten Linie der antiautoritären Strömungen des Sozialismus liegen – von den wütenden Aufständischen der großen Französischen Revolution, über die Sowjet- und Rätebewegungen, bis hin zur Spanischen Revolution und zum Mai ‘68. Dies sind kurzlebige Bewegungen, denn sie können per Definition nicht fortbestehen, wenn sie sich nicht behaupten. Aber der rote Faden bleibt bestehen. Und er wird wieder aufgenommen, sobald eine neue Protestbewegung das aktuelle Chaos beantwortet. Keine der modernen sozialen Bewegungen bildet mehr die alten Organisationsformen, Parteien und Gewerkschaften, vielmehr werden neue Formen erzeugt.

Dennoch lauern stets die alten Formen ...

Das ist der Rücklauf und die Niederlage, die die Schemata der Vergangenheit reproduzieren. Syriza oder Podemos sind dafür ausgezeichnete Beispiele. In den USA hätte die Wählermobilisierung, die auch der Mumie Bernie Sanders wieder Leben eingehaucht hat, niemals ohne Occupy existieren können. Diese Organisationen sind noch immer von der Dynamik der „realen“ Demokratie geleitet – und genau das verschafft ihnen ihre Eigenheit – aber diese Dynamik tendiert allmählich dazu, zu verblassen und durch den alten Betrieb der politischen Institutionen ersetzt zu werden: Delegation, Vertikalität, Verhandlungen, Verantwortung gegenüber dem System, Respekt vor der Macht. Sehr schnell erschöpft sich das Neue, neutralisiert durch das Alte. Aber die Krise des Repräsentationssystems geht weit über diese Bewegungen hinaus. In der Tat hat sich auch die Wahlmüdigkeit gewandelt. Man sieht dies gut in Gesellschaften wie der Französischen, in der sie stetig größer wird. Was die Wahlspezialisten einen „Anstieg“ des Populismus nennen, ist in Wahrheit kein Anstieg, sondern das Ergebnis einer Stimmenthaltung riesigen Ausmaßes, die den reaktionären Parteien mehr Sichtbarkeit verschafft. Eine große Anzahl der Wähler ist heute nur noch aus Angst und Verunsicherung Wähler – man wählt rückwärtsgewandt, ohne daran zu glauben; im besten Fall wählt man dagegen. Die Idee von der Delegation der Macht selbst gibt es nicht; sie wird ignoriert und ist verloren gegangen.

Bist Du auch der Auffassung, dass „normale Leute“ im allgemeinen die Demokratielüge bemerkt haben, aber an einem fortschrittlichen und egalitären Ideal der Demokratie festhalten und sich zugleich keine Zukunft ohne Kapitalismus vorstellen können. Was bleibt zu tun, um die Leute dazu zu bringen, an eine andere Wirtschaftsform und an eine andere Form wirtschaftlicher Beziehungen zu glauben?

Das ist eine sehr wichtige Frage. Ich bin nicht sicher, ob man etwas tun kann, um die Frage zu präzisieren, wenn wir von „tun“ im voluntaristischen, aktivistischen Sinne sprechen. Die Frage „Was tun?“ versteckt, wie man heute weiß, eine autoritäre Antwort: das „Tun“ des Chefs im Namen der Ausgebeuteten. Und da die „Wahrheit“ nun als Antwort gegeben ist, kann sie nur eine einzige sein und muss bei Bedarf mit Zwang umgesetzt werden. In dem sozialen Bewusstsein, das man als „falsch“, als ideologisch bezeichnen könnte, wird man „wirtschaftlich“ und „politisch“ trennen. Dies ist keine „Verwechslung“, man kann sich nur einfach keine andere Ordnung der Dinge vorstellen, außer wenn man sich auf die imaginäre Ebene und die Ebene der Utopie begibt. Um zu leben, ist man dazu angehalten, das Denken des Systems zu achten. Diese Trennung ist dem kapitalistischen Denken eigen und nur in Zeiten des Umbruchs der gesellschaftlichen Ordnung durch kollektive Subversion oder durch einen Systemzusammenbruch stellt sich die Gemeinschaft die unumgängliche Frage nach der Reproduktion des Lebens. So kommt es dann zu einer Vereinigung aus der Art und Weise wie, und dem Grund warum man sich organisiert. In diesem Moment erscheint es offensichtlich, dass die Erschaffung einer neuen Wirtschaft untrennbar mit der völligen Kontrolle durch die Beteiligten am Gesellschaftsprojekt verbunden ist. Eine Wirtschaft ohne Kapitalismus wird notwendigerweise eine Wirtschaft sein, die im weitesten Sinne mit der Kontrolle der Produzenten gekoppelt ist. Vielleicht nennt sich das auch nicht mehr „Wirtschaft“!
In der modernen Geschichte ist die Verweigerung einer Knechtschaft, die sich als freiwillig darstellt, aber eigentlich von der Notwendigkeit bestimmt wird, seit der großen Französischen Revolution und im Zuge der revolutionären Phasen artikuliert worden. Aber erst um die Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert hat sich die Idee der Selbstregierung wirklich auf positive Weise geäußert: Sie hat sich in den sozialen Bewegungen, in den Strömungen der revolutionären Gewerkschaftsbewegung und des Anarchokommunismus, in der Sowjet- und Rätebewegung der russischen Revolutionen und dann in der deutschen Revolution und in der Räte-Idee als Prinzip von Emanzipation und Selbstregierung behauptet. Ein Prinzip, das man dann in den kollektivistischen Praktiken der Spanischen Revolution von 1936, in begrenzteren Bewegungen wie der des großen Generalstreiks vom Mai ‘68 in Frankreich, in den „parteilosen“ und selbstverwalterischen Tendenzen der Portugiesischen Revolution, in den autonomen Besetzungen in Chile 1974 und in der Solidarnosc-Bewegung in Polen wiederfinden wird; ebenso in allen großen Streiks und Kämpfen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Das Einzige, was man „tun“ kann, ist die Erinnerung an die Momente des Umbruchs in der Geschichte aufrechtzuerhalten, den Zweifel in eine historische Perspektive zu setzen und auf Fragen, die uns in einer Zeit der Normalität, des Konsenses und der Dienstbarkeit an der momentanen (sich als ewig und definitiv ausgebenden) Ordnung scheinbar ohne Antwort lassen, die positiven, konkreten Antworten parat zu halten, die die sozialen Bewegungen bereits geliefert haben.

Wenn man Lateinamerika betrachtet, so denken viele im linken Lager, dass es auf der einen Seite eine von Chávez, Lula, Morales und Correa gebildete neue Linke, sowie einen erneuerten Kapitalismus gibt. Auf der anderen Seite, so glaubt man, gibt es die aktuelle indigene Revolte und Vergemeinschaftung (die 1964 mit der Gründung der Shuar-Föderation in Äquatorialamazonien begann und mit den Zapatisten der EZLN* in Mexiko Fahrt aufnahm), sowie in der städtischen Sphäre zum Beispiel die kooperative Arbeiterbewegung (Argentinien Movimiento Nacional de Fábricas Recuperadas, Los Piqueteros, etc.). Sind dies unvereinbare Visionen? Wenn es das Ziel ist, eine neue Welt zu kreieren, welche dieser Perspektiven hältst Du für politisch und strategisch wichtiger?

Es scheint mir, dass Du Dich auf Fakten, auf Bewegungen und Mobilisierungen beziehst, die sich nicht auf dem gleichen Terrain verorten, die nicht die gleichen Potenziale und Perspektiven teilen und unterschiedlicher Natur sind. Die Bewegung der Besetzungen, der Piqueteros und der Kooperativen, die sich in Argentinien entwickelt hat, sowie die aufständischen Kämpfe und Streiks von Oxaca in Mexiko hatten sehr klare Inhalte. Sie positionierten sich gegen das System der Ausbeutung und hatten die Bestimmung, sich auf die Gesellschaft auszuweiten, andere Kämpfe zu integrieren und die Weichen für eine neue gesellschaftliche Organisation zu stellen. Mit den sogenannten indigenen Bewegungen ist es noch eine andere Sache. Die kulturalistische Dimension stellt eine Begrenzung dar, tendiert sie doch zu den Trennungen vom Typ national und kommunitaristisch. Der Fall der EZLN ist auch speziell, da die politische Organisation, die die Revolte strukturiert und politisiert hat, eine seltene politische Intelligenz an den Tag legte und es geschafft hat, die gemeinschaftlichen Probleme in größere Fragen der gesellschaftlichen Reorganisation umzuwandeln und somit eine universelle Dimension zu gewinnen. Dies erklärt die Bedeutung und das Echo, die diese Bewegung bei einer ganzen Generation europäischer und nordamerikanischer Aktivisten erlangte.
Die Occupy-Bewegung war zum Beispiel stark durch die Militanz und die Erfahrung der jungen Leute geprägt, die von zapatistischen Reden und Praktiken, im Wesentlichen von den libertären Aspekten dieser Bewegung und nicht von seinen militärischen und gemeinschaftlichen Seiten, durchdrungen waren. In der Tat bestand die politische Intelligenz der EZLN-Chefs darin, sensibel für den libertären Geist und die antiautoritären Prinzipien der modernen Epoche zu sein. Bei aller Differenz der Proportionen hat diese Wende jüngst in das maoistisch-stalinistische Lager der kurdischen PKK eingeschlagen, als sie den „freien Munizipalimus‘“ bekanntgab. Hinter dieser Demagogie und Rhetorik muss man zweifellos einen Versuch sehen, die Macht auf einer Grundlage zu halten, die der stalinistischen Starrheit der Vergangenheit entkommt und die eine neue Kampfesenergie in der Öffnung gegenüber antiautoritären Prinzipien entdeckt. Die Rolle der militanten jungen Frauen an diesem Wendepunkt war maßgebend. Es handelt sich um zwei voneinander abweichende Dynamiken, die sich schneiden; nämlich die einer Basis, die danach strebt zu atmen und die einer Leitung, die danach strebt, ihre Macht zu erhalten. Eine Unterstützung und Ermutigung der Erstgenannten kann die Zweitgenannte nur schwächen. Für die PKK wirkt sich der kapitalistische Krieg, der alles verwüstet, vor allem zugunsten der Chefs aus, so wie es schon immer der Fall war. Die Kriege fressen die Aufstände und die Revolutionen.
Was die „Neue Linke“ betrifft, die von Chávez, Lula, Morales und Correa gebildet wird, so haben wir es mit einem Betrug zu tun, der sich auf einen begrenzten historischen Zeitraum und auf beschränkte Räume innerhalb des Kapitalismus bezieht. Es handelt sich um diverse Formen des Populismus. Auch hier sollte man man differenzieren. Die brasilianische Arbeiterpartei (PT) zeichnete sich immerhin durch eine ziemlich spezifische Natur aus, da diese Partei in der Woge einer mächtigen Bewegung von Arbeiterkämpfen und -mobilisierungen gegründet wurde. Die PT ähnelte eher einer Partei sozialdemokratischen Typs, die schnell an die Macht gekommen ist und die es durch Korruption und organische Verbindungen mit der Gewerkschaftselite vermochte, ihren Parteiapparat einzunisten. Lange Zeit hat sie ihre Arbeiter- und Volksbasis durch die Verwaltung zwar begrenzter, aber nicht unbedeutender Verbesserungen der armseligen Lebensbedingungen der Arbeiter behalten. So zum Beispiel durch die Einführung des „Familienstipendiums“, einer Art Basisbeihilfe für die Ärmsten in Brasilien. Der Fall Venezuelas ist meiner Meinung nach ein vollendetes Beispiel für die Dürftigkeit der europäischen und nordamerikanischen Linksextremen, wenn es darum geht, diese populistischen Regime zu verstehen. Wenn man mit der EZLN noch einen sozialen Aufstand der proletarisierten indigenen Bevölkerung hatte anzetteln wollen, so ist die Begeisterung für den Chavismus das Zeichen einer absoluten Schwäche für den Wunsch, die Welt umzustürzen und vor dem aktuellen Hintergrund glaube ich, das Zeichen einer absoluten Verblendung gegenüber der konkreten Situation in der Gesellschaft. Die venezolanischen Freiheitsdenker, so schwach sie auch sind, leisteten eine außergewöhnliche Arbeit, um das chavistische Modell einer elenden wirtschaftlichen Abhängigkeit vom Staat, das sich auf die wenigen Erdöleinnahmen stützt, zu erhellen und zu entmystifizieren. Ein Modell, das zu einer Einstellung von Passivität und Knechtschaft gegenüber dem chavistischen Staat geführt hat. Ich war 2007 in Venezuela und habe Freunde und Kameraden, die dort – seit Jahren und bereits vor dem Chavismus – einen täglichen Kampf austragen, um ihr Streben nach gesellschaftlicher Emanzipation gegen alle Autoritarismen zu verteidigen. Ich konnte im Alltag, im Leben der Stadtteile, der großen Städte und kleinen Städtchen eine völlig individualistische, gefügige Einstellung der Arbeiter feststellen, die von Chávez lediglich eine Umverteilung der Erdöleinnahmen erwarteten. Diese war offensichtlich vor allem zugunsten der neuen chavistischen Bürokratie und zu Lasten der ehemaligen privaten lokalen Bourgeoisie vorgenommen worden. Das Bisschen, das an die armen Klassen verteilt worden ist, hat deren Entfremdung nur noch verstärkt. Im chavistischen Venezuela hat es nie eine wirkliche gesellschaftliche Mobilisierung der Arbeiter oder Bauern gegeben, weder als Selbstorganisation noch als Arbeiter- oder Bauernmobilisierungen. Und die wenigen, wenn auch begrenzten Streiks, haben das chavistische Regime und seine bewaffneten Schergen niedergeschlagen. Die Zahl der durch das Regime verhafteten, verurteilten und getöteten Gewerkschafter spricht für sich. Die bestehenden Basisorganisationen, die den linken Touristen auf der Durchreise “verkauft” werden, sind Zweigstellen der chavistischen Bürokratie, eine Basis, die den Chefs und den kleinen Chefs untergeordnet ist. Man darf auch nicht die militaristische Dimension des Chavismus vergessen; die Rolle, die die militärische Institution im Regime, in der Organisation der “Basisorganisationen” und in der Neuverteilung der Erdöleinnahmen spielte. In der dekadenten Endphase des Regimes, unter Maduro, spielte es erneut die Karte des “Basismus‘“, der von oben herab organisiert wird und versucht, sich gegen den Kontrollverlust gegenüber den unteren Volksschichten und damit der passiven Basis des Regimes, zu wehren – eine bürokratische Konstruktion aus Basiskomitees, Basisräten und “Basiskommunen” unter Leitung der führenden Mafia – nur, dass all dies zum Scheitern verurteilt und nicht mit Leben erfüllt war. Vom Anfang bis zum Ende war der “Chavismus” ein militärisch-populistisches Regime, das die Armen manipulierte und in dem es nie eine echte Selbstorganisation des Volkes gab. Davon als von einer “neuen Linken” zu sprechen, ist ein Angriff auf die Intelligenz. Das ist, als würde man im Maoismus eine Wiederbelebung des Sozialismus sehen.

Glaubst Du – angesichts des Wissens darum, dass autokratische Institutionen menschliche Beziehungen untergraben und Fortschritte gegen die Kommerzialisierung diverser Lebensbereiche blockieren – dass sich soziale Bewegungen, die nicht-hierarchische und nicht-kapitalistische Ziele verfolgen, zu ihrer Erreichung, an politischen Prozessen beteiligen sollten, die eine Selbstverwaltung oder Bestrebungen danach ausschließen und verhindern?

Wenn ich die Frage richtig verstehe, dann geht es darum, zu erfahren, ob man mit antiautoritären Ideen und emanzipatorischen Projekten am politischen Leben in den Regimen und Gesellschaften teilhaben sollte, die der Idee der Emanzipation entgegensteuern? Man muss sich bereits über den Sinn von “teilhaben” verständigen. Es scheint mir, dass die Antwort bereits in der Frage suggeriert wird ... Ich denke nicht, dass die Ziele die Mittel rechtfertigen. Im Gegenteil, die Ziele müssen bereits in den Mitteln enthalten sein. Ich teile auch nicht die Idee des alten Bernstein, einem der Gründer des modernen Reformismus, der Folgendes vertrat: “Das endgültige Ziel ist nichts, die Bewegung ist alles”. Die Bewegung ist für die Bewegung im besten Fall “aktivistische Gymnastik”. Die einzige Bewegung, die einen Sinn hat, ist diejenige, die ein Ziel hat, diejenige, die ein Ziel aufbauen kann, und es ist dieses Ziel, das der Bewegung einen Rhythmus geben muss. Und es scheint mir, dass das Ende der Ausbeutung, soziale Gleichheit und Gerechtigkeit sowie die Entmystifizierung der politischen, rein formellen Gleichheit (das leere Konzept des Staatsbürgers), die ja angebliches Synonym der wirtschaftlichen und sozialen Gleichheit ist, zwangsläufige Ziele sind.

Welche politischen Grundlagen und Potenziale siehst Du bei den postkapitalistischen, anti-industriellen und ökologischen Transitionsbewegungen, von denen einige eine ideologische Brücke zu der kommunalen zapatistischen Revolution schlagen? Wie können wir das Transformationspotenzial dieser ökologischen Bewegungen kritisch umsetzen, ohne in unmögliche Mystik zu verfallen?

Diese Bewegungen haben mit Sicherheit eine “politische Basis”, politische Prinzipien, die wie bei jeder Bewegung kritisiert und in Frage gestellt werden können. Legen wir also die Fehler, von denen du sprichst, aber auch die verführerische Absicht der Polemik zur Seite. In meinen Augen liegen die Transformationspotenziale einer Gesellschaft im Bereich der Produktion und der Reproduktion dieser Gesellschaft. Der Bereich des Konsums und der Distribution ist eine passive Sphäre. Ich kann nicht erkennen, wie man eine soziale Struktur umwandeln kann, wie man von einem System zum anderen wechseln kann, ohne die Produktionsbeziehungen, den Lohn und die Warenproduktion im Kapitalismus umzustürzen. Jedes gesellschaftliche System schließt eine Produktion von Leben mit klaren sozialen Beziehungen ein, ohne die es keine Gesellschaft gibt. Ich spreche hier von einem System im globalen Sinne, denn im Inneren eines bestimmten gegebenen Systems lassen sich durch kollektive Kämpfe die Lebensweisen und die sozialen Beziehungen natürlich ändern, zum Beispiel die Beziehung zwischen den Geschlechtern. Es lässt sich nicht von der Hand weisen, dass dies mit Sicherheit einen Einfluss auf die Potenziale eines größeren sozialen Umbruchs, eines Umbruchs der Produktionsbeziehungen und der Lohnbeziehungen hat. Das soll nicht heißen, dass sich dieser Umbruch einer unumgänglichen produktivistischen Sichtweise der gesellschaftlichen Reorganisation unterwirft. Ganz im Gegenteil, ein kollektiver Kampf, der revolutionäres Ausmaß annimmt, wird notwendigerweise ein Kampf um die Selbstregierung der Gesellschaft sein und wird sich notwendigerweise den großen Fragen der Umweltzerstörung stellen müssen, die der Kapitalismus ins Extrem getrieben hat. Einige dieser Fragen werden angesichts des Niveaus der Zerstörung von Lebensbedingungen und Umwelt wahrscheinlich nicht einmal gelöst werden können. Man wird wahrscheinlich dazu angehalten sein, sie zu umgehen und andere Überlebenswege zu finden. Ich denke an die Kernenergie: Welche revolutionäre “Lösung” gibt es für Tschernobyl oder Fukushima? Das ökologische Problem wird ohne Zweifel im Zentrum jedes postrevolutionären Wiederaufbauprojektes stehen. Gerade durch ihr Ausmaß und ihre Komplexität geben diese Fragen eine Koordination, eine horizontale Planung, Basisorganisationen der Macht mit Verantwortung für die soziale Neuordnung vor. Die Idee der zapatistischen oder anderer “Kommunen” erscheint mir diesseits von der Dringlichkeit und den Erfordernissen dieser Probleme zu liegen. Die ökologische Frage ist um einiges größer als die von Community-Gärten oder Verfahren der Permakultur. Aber diese Ideen stehen nicht im Gegensatz zu dem Problem. Sie dürfen nicht zurückgewiesen werden; sie müssen in ein größeres Problem eingebunden werden. Was mir letztlich positiv, subversiv erscheint in diesen begrenzten und lokalen Projekten, ist das Erlernen direkter Demokratie und kollektiver Verantwortlichkeit und die Suche und der Wunsch nach einer anderen Welt, ein mentaler Bruch mit der deterministischen Idee, dass der aktuelle Horizont der einzig mögliche ist.

Ist die politische Intervention, die nach echter sozialer Veränderung strebt, blockiert, wie viele meinen? Wie können wir revolutionär denken, wenn es keine Widerstandskämpfe gibt?

Der Beweis ist, dass man es tut. Außerhalb revolutionärer Zeiten kann man eine andere Welt denken, man kann sich den Umbruch der Welt vorstellen, die auf ewig tonangebend erscheint. Um ein solches Denken zu entwickeln, muss man die Geschichte, muss man historische Erfahrungen hinzuziehen. Man darf niemals vergessen, daran zu erinnern, dass die Vergangenheit Teil der Gegenwart ist, dass sie eine Dimension der Gegenwart darstellt. Aber das revolutionäre Denken ist auch nützlich, um die Zukunft zu denken. In Anbetracht all der revolutionären Niederlagen, die im Kapitalismus aufeinander folgten, haben wir vor allem gelernt, was man nicht tun soll. Zum Beispiel sind der Zusammenbruch des staatskapitalistischen Blocks, der viel menschliches Elend hinterließ und die in den ehemals zu diesem Block gehörenden Gesellschaften vorherrschenden Denkweisen, ein positives Element für die Zukunft. Es ist fortan klar, dass jedes autoritäre, staatliche Projekt, das sich auf den Sozialismus beruft, am Ende bis zu einer Ablehnung der Prinzipien des Sozialismus führt und dies erneuert die Idee, die dem frühen Sozialismus zu Grunde lag: Die Emanzipation der Ausgebeuteten muss das Werk der Ausgebeuteten selbst sein, denn ohne diese Form der Emanzipation werden sich lediglich andere Formen der Unterdrückung auftun.

Ein surrealistischer Dichter und portugiesischer Freidenker, António José Forte, warnte: „Verteidige dich bis auf die Zähne gegen das proletarische, aristokratische, bürgerliche Leben ...“. Glaubst Du nicht, dass das Paradigma des Klassenkampfes überholt ist, selbst für die marxistische, nicht-dogmatische Linke?

Ich lese den Ausspruch von Forte anders. Mit seiner bewundernswert poetischen Art forderte er wutentbrannt dazu auf, sich vor den unterschiedlichen Aspekten des entfremdeten Lebens „zu hüten“; sei es, vor der schwermütigen Traurigkeit der Arbeiter oder vor der stumpfsinnigen bürgerlichen Bequemlichkeit oder gar vor der aristokratischen Fortschrittsfeindlichkeit ... Er verleugnete nicht die Existenz sozialer Klassen, die Existenz der Ausbeutung, des Kapitalismus. Es genügt, seine Texte erneut zu lesen, um ihn zu verstehen. Ich kann nicht erkennen, inwiefern seine Behauptung ein Ansporn ist, das “Paradigma des Klassenkampfes” zu überwinden. Wie denkt man dann die Gesellschaften? In Begriffen des Individuums? Was genau ist ein Individuum? Forte ist niemals in diesen Sumpf geraten. Ich folge ihm. Um einen weiteren Ausspruch eines anderen großen und nicht weniger libertären Herrn des Surrealismus aufzunehmen, würde ich mit Benjamin Péret zu diesem Thema sagen: “Ich esse nicht von diesem Brot da!”

Im Grunde ist das antithetische Denken des Klassenkampfes, sowohl der Proletarier als auch der Bourgeois, in Begriffen definiert, die von einer einzigen Perspektive, dem Kapital, ausgehen. Wie zu sehen war und ist, ist es nicht sehr schwer, einen Proletarier zu einem Anwärter eines “self-made Bourgeois” zu machen. Nimm dem Wort die altmodische Bedeutung (schon Cesariny sagte, dass wir alle Bourgeois sind ...) und verwende postmoderne Ausdrücke, wie Freiberufler, Selbstständigkeit ... was das tägliche Leben der modernen, zeitgenössischen Lohnarbeiter betrifft, so gleichen sich die Ideale, die Bestrebungen, die Wünsche etc., Wünsche und Ideale, die durch die Ideologie derjenigen erzeugt werden, die die Arbeitskraft ausbeuten. Meine Sichtweise ist die Folgende: Wenn das Paradigma des Klassenkampfes historisch dazu beiträgt, die Moral des Herren und des Chefs zu reproduzieren, dann ist etwas falsch an diesem Konzept.

Also, “Bourgeois sind wir alle” ist noch eine poetische Formulierung, die verschiedentlich gelesen werden kann und die eine variable Geometrie besitzt. Wir werden dies nicht in politischen Begriffen diskutieren. Und zu sagen “Es ist nicht schwer, einen Proletarier in einen Bourgeois zu verwandeln.” gehört zum gleichen Stil. Das ist nicht so üblich, vielmehr ist es ziemlich selten. Im Krimi im äußersten Fall ... Auch dort handelt es sich um den individuellen Fall. Es scheint mir, dass Du Dich vielmehr auf die alte Idee von der Vereinheitlichung der Klassen aufgrund des Konsumverhaltens beziehst, die Idee der Arbeiterintegration aufgrund des Lebensniveaus, die zu einem Zeitpunkt einen glühenden Verteidiger in Marcuse gefunden hat. Ich habe die Kritik, die Paul Mattick zu dieser Idee des eindimensionalen Menschen geäußert hatte, schon immer sehr gerechtfertigt und treffend gefunden – und Marcuse hat diese Kritik damals als die beste seines Buchs betrachtet. Heute belegt der Eintritt in diese lange Krise des kapitalistischen Systems, die durch die Verarmung der Gesellschaften, die Zunahme der sozialen Ungleichheiten und die zunehmende Proletarisierung der ehemaligen mittleren Klassen gekennzeichnet ist, dass die Kritik gerechtfertigt war. Der Kapitalismus ist ein System, das die Gesamtheit der Gesellschaft zugunsten einer Minderheit verarmen lässt und proletarisiert. Die Idee, die Proletarier durch ihren Konsum in die mittleren Klassen zu integrieren, war eine Illusion eines begrenzten Zeitraums der Geschichte, nämlich der Jahre der Entwicklung einer gemischten Wirtschaftsordnung nach dem Zweiten Weltkrieg. Das ist heute eine vergessene Vergangenheit.

Apropos Proletarisierung ... lass uns über China sprechen. In Deinem gemeinsam mit Hsi Hsuan-wou verfassten Buch „China Blues: Voyage au pays de l’Harmonie Précaire“ (China Blues: Reise in das Land der prekären Harmonie) kommt Ihr zu dem Schluss, dass das China des „Marktsozialismus“ ein Vektor der globalen Vereinheitlichung des Kapitalismus ist. Ist das unvermeidlich? Konnte der zentralistische und hyper-industrielle Sozialismus in den Händen einer bürokratischen Elite, die auf kommunistischer Propaganda basiert, nur in der gewinnträchtigen Effektivität des wirtschaftlichen Expansionismus Chinas enden?

Die Frage scheint mir zu deterministisch gestellt. Dass der Staatskapitalismus in der Sowjetunion … ohne Sowjets (Räte) und in der Volksrepublik China ein System der primitiven Kapitalanhäufung und der kapitalistischen Transformation der Gesellschaft gewesen ist, die kaum aus den Feudalstrukturen oder sogenannten asiatischen Produktionsweisen herauskam – das ist unbestreitbar. Dass sich diese Transformation schnell durch eine extreme und tödliche Klassengewalt mit Millionen von Toten realisiert hat, ist ebenso unbestreitbar. Ein totalitäres politisches System, das eine zentralisierte und terroristische Kontrolle gegenüber der Bevölkerung zuallererst gegen Bauern und Arbeiter ausübte, ermöglichte dies. Gleichsam war die Entwicklung nach der Verankerung des Einparteienregimes in der Sowjetunion und der Unterdrückung jeglicher Form von Opposition, zunächst in den Sowjets und Betriebskomitees, dann im politischen Leben und schließlich auch in der Einheitspartei selbst, nicht unbedingt vorhersehbar. Aber man konnte das Schlimmste befürchten. Ab den 1920er Jahren begannen die anarchistischen Strömungen und die nicht-bolschewistischen Kommunisten das System als ein totalitäres System der Ausbeutung, einen Staatskapitalismus, zu beschreiben. Trotzdem blieben viele Fragen offen. Das Projekt des Sozialismus in einem einzigen Land und der Stalinismus besiegelten das Schicksal der Möglichkeiten der Revolution. Sicherlich war die Gewalt der primitiven Akkumulation im Kapitalismus auch im alten Europa und in den Vereinigten Staaten zu beobachten, hier vollzog sie sich jedoch während eines viel längeren Zeitraums.

Seit dem Beginn der neoliberalen Reformen, insbesondere seit der ab 1984 umgesetzten Stadtplanung und der Übertragung sowie Privatisierung von Ressourcen, die bis dato durch den Staat gehalten wurden, schließlich mit dem Gegenschlag auf dem Tia’anmen-Platz 1989 und fast ein Jahrzehnt nachdem Du “China Blues” verfasst hast – was hat sich seitdem auf diesem “Fließband der Welt” verändert?

Die Wurzeln der gewaltsamen, zynischen und korrumpierten Natur der chinesischen Führungsklasse liegen tief in ihrer revolutionären Vergangenheit. Die derzeitige Situation korrespondiert mit den menschlich zerstörerischen politischen Linien der Vergangenheit, dem großen Sprung nach vorn, der Kulturrevolution und den “Reformen” der Deng-Periode. Nach wie vor haben “Reformen”, die das Regime verspricht, wenig Chancen, realisiert zu werden, weil Funktion und Struktur der Führungsklasse eine Reformierung nicht zulässt. Diejenigen, die die Versprechungen machen, sind Teil des Problems. Die Struktur der chinesischen Gesellschaft und die Form der Arbeitskraftausbeutung sind das Produkt einer spezifischen historischen Entwicklung, die sich in einem spezifischen Regierungsstil der Führungsklasse zeigt: Offene Repression wird mit alten Methoden sozialer Kontrolle wie der Wohnsitzkontrolle, dem hukou, die das Herzstück der Verwaltung und der sozialen Repression bleibt, kombiniert. Dies hat sich während der Kulturrevolution und während der Revolte auf dem Tia’anmen-Platz 1989 bewährt und bewährt sich bei Streiks und Erhebungen in der heutigen Bauernschaft.
Grundsätzlich hat sich nichts verändert. Man befindet sich in einem gleichmäßigen Fortgang. Alles hat sich verstetigt und verschlimmert. Die kapitalistische Natur des Systems hat sich gefestigt und seine wirtschaftlichen und sozialen Konsequenzen bilden heute das Zentrum des großen Ungleichgewichts und der politischen Sackgassen.
Aber das chinesische Volk ist nicht per se eine passive und unterwürfige Masse. Es besitzt eine ausgeprägte und angestammte Kultur der Revolte und Eigeninitiative. Wie es die jüngste Vergangenheit beweist, ist es fähig, sich in Bewegung zu setzen, um die bürokratischen Formen der Unterdrückung umzustürzen und sich zu organisieren, um eine egalitäre Gesellschaft zu erschaffen. Wenn dies eine Perspektive darstellt, die die herrschende chinesische Klasse und ihre Freunde in Angst und Schrecken zu versetzen vermag, so ist es für uns ein wichtiges Zeichen der Hoffnung.

Im Jahr 2010 ging eine Streikwelle von Wanderarbeitern durch die Fabriken der Ostküste Chinas. Dieser Kampf führte zu allgemeinen Lohnerhöhungen und löste eine Debatte über das Ende des Modells billiger Arbeitskräfte auf globaler Ebene aus. Im Jahr 2011, als der Funken der Unruhen vom Arabischen Frühling ausging, kam es in China zu immer mehr Demonstrationen gegen den Missbrauch von Autorität, Veruntreuung von Land, Lohnstreitigkeiten und Unterdrückung von Minderheiten. Welche Formen haben diese Kämpfe angenommen? Wie sind sie organisiert?

Die Situation in China ist heute komplex. Die Einheitsgewerkschaft (ACFTU, All China Federation of Trade Unions) ist mit der kommunistischen Partei verbunden und hat als Polizei der Arbeiterklasse während der Zeit des Maoismus eine wichtige Rolle gespielt. Seit der “Öffnung” (hin zum privaten Kapitalismus) ist sie zu einem riesigen Verwaltungsapparat der Arbeitskraft im Dienste der Unternehmen geworden, einschließlich der ausländischen Privatunternehmen in den speziellen Wirtschaftszonen. Seit einigen Jahren hat die Bürokratie der kommunistischen Partei Anstrengungen unternommen, um der Einheitsgewerkschaft einen Hauch von Glaubwürdigkeit zurückzugeben. So wurden zum Beispiel Kampagnen gestartet, um die Mingong* zu organisieren, das heißt, um eine gewisse Kontrolle der Partei im Inneren ihres eigenen Landes gegenüber den marginalisierten Arbeitergemeinschaften, die aus Migranten ohne Papieren aus dem Landesinneren bestehen, einzuführen. All dies hatte weder Auswirkungen noch Folgen auf das Image, das die ACFTU bei den Arbeitern hat. Manchmal übt die Zentralmacht Druck aus, damit die Instanzen der ACFTU sich gegen diese oder jene Leitung eines Unternehmens mit ausländischem Kapital positionieren. In den aktuellen Kämpfen, jenen von 2011, und anderen, die weiterhin im ganzen Land ausbrechen, hat man erneut gesehen, wie die Handlanger der Gewerkschaft die Streikenden und die Mitarbeiter mit Bereitschaftsdienst angreifen, die dieselben Unternehmen verteidigen. Daran lässt sich erkennen, dass diese Organisation aufgrund ihrer Natur durch und durch reaktionär ist und sich auf Seiten der Macht, auf Seiten aller Mächte, befindet. Ebenso zeigt sich daran, dass die Regierung nicht bereit ist, klein beizugeben. Sie hat Angst vor einem Dammbruch, Angst von großen sozialen Aufständen hinweggeschwemmt zu werden, die unvermeidlich zu blutigen Auseinandersetzungen führen werden.
In China gibt es keine unabhängige Gewerkschaftsbewegung und es wird sie nicht geben, solange die politische Ordnung des Parteistaates weiter besteht. Angesichts der Stärke der Streikbewegung, die nun schon seit Jahren anhält, zeugt die Abwesenheit von Organisationen, die von der Basis aus geschaffen wurden, vom Ausmaß der Unterdrückung durch die Staatsmacht. Alle Streiks sind per definitionem wilde Streiks, da sie außerhalb der Autorisierung und der Kontrolle der ACFTU stattfinden müssen. Jede Bewegung und jeder Kampf bedarf einer Organisation, des Kerns des Arbeiterkampfes. Es gibt kurzlebige Organisationen und informelle Streikkomitees, die von den militantesten Arbeiterinnen und Arbeitern geleitet werden. Diese Organisationen verschwinden nach dem Kampf wieder. Meistens tragen die aktiveren und mutigeren Arbeiter als Einzelpersonen die Konsequenzen – sie werden verhaftet, verschwinden in einem „Gefängnisuniversum“. Manchmal ist die Macht auch toleranter und weniger grausam in ihrer Repression. Dieser Einstellungswandel begründet sich durch die tiefe und komplexe Krise der chinesischen politischen Klasse und ihre internen Unstimmigkeiten. Eine der Facetten dieser Krise ist der Bruch zwischen den lokalen Mächten und der Zentralmacht, die zuweilen soweit geht, die Streikenden zu unterstützen, um die lokalen Machthaber besser schwächen zu können. Die Streikenden ihrerseits neigen ebenfalls dazu, mit diesen Unstimmigkeiten und Gegensätzen zu spielen.
Bis vor Kurzem blieben die Arbeitskämpfe isoliert und auf Unternehmen oder Regionen beschränkt. Diese Isolierung hebt sich jedoch zunehmend auf. Es gibt eine Einigkeit, die durch die gemeinsamen Forderungen entsteht. Das Bewusstsein, die enorme soziale Unzufriedenheit zu teilen, zu einer Gesellschaft von Ausgebeuteten zu gehören, sich der Mafia der Macht und der roten Kapitalisten entgegenzusetzen, verbindet. Die Rolle der neuen Technologien, insbesondere der Blogosphäre, ist dabei entscheidend. Man könnte fast sagen, dass Informationen in China heute viel schneller zirkulieren als in den Gesellschaften der “Informationsfreiheit” wie den unseren, in denen man durch die Möglichkeit alles sagen und wissen zu können, nichts sagt und nichts weiß. Wo die Information dem Konsens dessen, was “wichtig” ist und was als “Information” angesehen wird, stetig untergeordnet ist. Durch das Netzwerk neuer Technologien lassen sich in China Geschehnisse wie ein wichtiger Kampf, ein Volksaufstand, Demonstrationen gegen eine umweltschädliche Fabrik schnell mit hunderttausenden anderen Arbeitern kommunizieren.
Selten gibt es “Formen der Koordinierung” was diese Kämpfe betrifft und vor allem bleiben sie vollkommen geheim. Man kann im Gegenteil die Ausweitung heute als neue Tendenz der Kämpfe ausmachen. Seit einiger Zeit verlassen die Kämpfe schnell die Unternehmen und greifen Orte der Lokalmacht, Rathäuser, Parteisitze, Polizei, Gerichte an. Außerdem weiten sich die Kämpfe in den Industriegebieten zu allgemeineren Anliegen aus. Der Klassenzusammenhalt steigt und Arbeiter reisen herum, um diejenigen, die anderswo kämpfen, zu unterstützen. Die Präsenz der mingong, gewaltsam ausgebeutete Arbeitergemeinschaften ohne Rechte, spielen eine wichtige Rolle in dieser Ausweitung. Es handelt sich um einen gerade stattfindenden, sehr bewusst gelebten Prozess, der in dem Sinne sehr politisch ist, dass er schnell die unmittelbaren Forderungen übersteigt und sich den Repressions- und Entscheidungsorganen der Führungsklasse entgegenstellt. Politisch ist er auch in dem Sinne, dass diese Kämpfe den Wunsch nach einer anderen Gesellschaft in sich tragen, einer nicht-ungleichen, nicht-repressiven Gesellschaft, die nicht durch die Mafia der Partei kontrolliert wird. Allerdings kann das parlamentarische Demokratieprojekt westlichen Typs, das von Dissidentenbewegungen verteidigt wird, hier wurzeln. Das ist unumgänglich und logisch. Dass sich dieseses durchsetzen kann und damit jegliche Perspektive gesellschaftlicher Emanzipation versperrt – auch dass ist möglich. Alles hängt letztendlich vom Ausmaß der sozialen Bewegungen und ihrer Radikalität ab.

Glaubst Du, dass diese Kämpfe zu einer grundlegenden Transformation auf politischer und gesellschaftlicher Ebene führen können, in China und anderswo?

An dem Punkt, an dem wir uns derzeit befinden, kann man die Auffassung vertreten, dass Reformen nur nach einem mächtigen politischen und sozialen Bruch möglich sein werden. Es soll hier nicht vom Schlimmsten die Rede sein. Aufgrund der Natur und Geschichte des Regimes lässt sich lediglich nicht erkennen, wie sich die chinesische Führungsklasse modernisieren, wie sie sich von Innen heraus liberalisieren könnte. Jegliche Veränderung und jegliche Reform führt zu einer Implosion dieser Klasse selbst. Daher muss man einen blutigen Zusammenstoß der Gruppen unterschiedlicher, beziehungsweise gegensätzlicher Interessen befürchten. Derzeit herrscht eine sanfte Form von Säuberungen und Abrechnungen vor, die nichts grundsätzlich regeln. Angesichts der Dimension von China als Gesellschaft, angesichts der Bedeutung, die die chinesische Wirtschaft in der globalisierten kapitalistischen Welt einnimmt, angesichts der Gewalt der Klassenverhältnisse und der tiefen und unterdrückten Auflehnung der chinesischen Arbeiter gegen ihre Unternehmensleitungen, würde ein solches Geschehen die Form eines riesigen Erdbebens auf globaler Ebene einnehmen. In der Tat lässt sich vorstellen, dass diese Gefahr der Implosion die chinesische Führungsklasse angesichts jeder größeren sozialen Revolte vereint.

Obwohl es ein imaginäres Szenario ist, werfe ich diese Frage in den Raum: Wenn Kuba eine Milliarde Einwohner hätte, jetzt, da das Castro-Regime und die Obama-Regierung das Projekt der kapitalistischen Kooperation wieder aufgenommen haben: Würde das Land die gleiche Entwicklung nehmen, wie wir es in China beobachtet haben? Oder umgekehrt, würdest Du anerkennen, dass der kubanische Sozialismus Bereiche der Gesellschaft vor dem Einfluss der Marktmechanismen gerettet und Errungenschaften erhalten hat, die bewirken könnten, dass sich ein Teil der kubanischen Bevölkerung auf andere Weise einem solchen Schicksal entgegenstellen würde?

Die letztere Frage würde ich ganz klar verneinen. Das ist ganz offensichtlich! Wie überall, wo ein staatskapitalistisches System existiert hat, hinterlässt es ein Feld von Schutt und entfremdeten Geistern, die sich nach einer Demokratie des Konsums sehnen. Die großen „Castro-Messen“ werden durch Einkaufscenter ersetzt und das Publikum bleibt dasselbe. Ich würde sogar sagen, dass das vorangehende Spektakel das darauffolgende Spektakel vorbereitet hat. Das ist ein weites Feld für den großen nordamerikanischen Handel. In den Zwischenräumen gibt es von nun ab natürlich kleine Dissidentenkollektive, die einer anderen Lebensweise aufgeschlossen gegenüberstehen. Aber die Regel ist der Übergang von der Castro-Ideologie und vom tropischen Sozialismus hin zum wilden Kapitalismus der Karibik. Natürlich geht mit dem nordamerikanischen und europäischen Kapitalismus die Umwandlung der bürokratischen Klasse in eine neue kapitalistische Mittelklasse einher. Sie hat die Macht und die Kontrolle über die Netzwerke und wird sie bewahren. Das ist schon heute sichtbar.

Auch in Frankreich scheint nach einer Streikwelle der Arbeiter gegen die Angriffe der Regierung Sarkozy und nach den Mobilisierungen der Universitätsstudenten gegen das so genannte „Loi Pécresse“ (Pécresse-Gesetz) die Aussicht der sozialen Kämpfe trostlos zu sein. Stimmst Du dem zu?

Die heutige gesellschaftliche Situation in Frankreich ist durch eine Reihe wichtiger Bewegungen der letzten Jahre geprägt. Bewegungen großer Reichweite, die die gesamte Gesellschaft mobilisiert haben und angesichts der Macht und angesichts der Unternehmen mit deutlichen Niederlagen geendet haben. Ich denke insbesondere an die Bewegung gegen die Renten”reform”. Zu diesen Niederlagen kamen noch die Demobilisierung und dann die Desillusionierung bezüglich der Politik der derzeitigen sozialistischen Regierung hinzu, die sich wirtschaftlich neoliberal ausrichtet und auf eine Verstärkung des Autoritarismus und der Repression in der Gesellschaft setzt. Nicht nur die “Linke” existiert nicht mehr, sondern auch, was man als “le peuple de gauche“ (das linke Volk) bezeichnet hat, das heißt: die Wählerschaft, die von diesen politischen Gruppierungen gewonnen wurde und in Begriff ist, sich zwischen Wahlenthaltung und der Versuchung, sich der extremen Rechten zuzuwenden, aufzulösen. Das soll nicht heißen, dass die starke Konfliktenergie der französischen Gesellschaft verschwunden ist.
Sie ist derzeit unterdrückt und verdrängt. Aber sie kann sich jeden Moment Ausdruck verleihen, ausbrechen. Ein Zeichen dafür sind die zähen Streiks, die immer wieder aufkommen. Die jüngste Bewegung der Taxifahrer ist ein Beispiel dafür. Sie ging von korporativen Forderungen aus und wurde durch sehr junge Arbeiter, hauptsächlich Franzosen mit Migrationshintergrund, geleitet. Sehr schnell gewann sie eine größere Dimension und übte Kritik an der liberalen Deregulierung der Arbeitsbedingungen und dem Abbau der Sozialleistungen. Sie brachte eine aggressive und ungestüme Ablehnung des Kapitalismus zum Ausdruck, der sich als der einzige Weg zur Schaffung von Arbeitsplätzen präsentiert, selbst wenn das eine legale Anerkennung der Schattenwirtschaft bedeutet. Obwohl das Land noch einem anti-terroristischen “Ausnahmezustand” unterworfen war, hatten die Taxifahrer keine Angst, sich mit der Polizei anzulegen und es gelang ihnen den kriegerischen Propagandadiskurs umzukehren, indem sie den liberalen Kapitalismus beschuldigten, „terroristisch“ zu sein. In dieser Situation der sozialen und politischen Sackgasse wurde die liberale Ideologie seit Jahren sowohl durch die “Linke” als auch durch die “Rechte” verbreitet. Es handelt sich um einen Diskurs, den die Politik seit Jahrzehnten als den einzig möglichen Horizont aufzeigt, als eine unumgängliche “Wahrheit”, der man sich unterordnen muss. Mit ihm einher geht der Eindruck des unvermeidlichen Desasters, das selbst durch breite soziale Bewegungen, die fähig wären, alternative Wege zu eröffnen, nicht gebrochen oder überwunden werden könnte. Das ist nicht erkennbar, da die Rückkehr zu der interventionistischen, keynesianischen Politik der jüngsten Vergangenheit in einem kapitalistischen Rahmen, in dem der nationale Raum des Kapitalismus überholt ist, unmöglich zu sein scheint. Ich würde schließlich hinzufügen, dass zu der Krise der politischen Perspektiven die Krise der alten gewerkschaftlichen Organisationen hinzukommt, deren repräsentativer Charakter sich im freien Fall befindet. Diese großen Gewerkschaften, nunmehr mit schwacher Gewerkschaftsbasis, werden ebenso durch ihre direkten Verbindungen mit dem Staat oder durch schwerwiegende Korruptionsaffären ins Wanken gebracht. Der Anstieg eines kämpferischen und militanten Gewerkschaftsgeistes, der durch die Präsenz der kleinen SUD-Gewerkschaft* in zahlreichen Sektoren sichtbar ist, reicht nicht aus, um die Tendenz des gewerkschaftlichen Niedergangs aufzuhalten.
Es sind diese Umstände, die die Schwierigkeit der Kämpfe in der heutigen Zeit definieren. Angesichts des geringen Raumes für Reformen, sieht sich jeder noch so begrenzte Kampf schnell einer grundsätzlichen Infragestellung der kapitalistischen Logik gegenüber. Denn deren Ausmaß übersteigt die kollektive Kraft dieses oder jenen Streiks. Das ist keine französische Eigenheit, aber in Frankreich wird es besonders sichtbar.
Und der ‘Bestseller’, “Der kommende Aufstand”, des Unsichtbaren Komitees, hast Du ihn lesen können?

Natürlich! Wer hat ihn nicht gelesen? Das ist fast Pflichtlektüre in den Schulen ... Ich mache Spaß. Es ist nicht mein Stoff, um es nett auszudrücken. Es handelt sich um einen romantischen Text auf einer hauptsächlich jakobinischen, blanquistischen Grundlage. Ein maskierter Avantgardismus, wobei ich mir nicht sicher bin, ob diejenigen, die ihn verbreiten, sich dessen bewusst sind. Da ist die Idee der Bezugsgruppe, die ihre beispielhafte Aktion durchführt, die sich im Bruch befindet, die außerhalb der Gesellschaft lebt. Aber darüber hinaus gibt es nicht viel, was einem dieser Text zu denken gibt, nichts Neues. Ich würde sogar sagen, dass es ein ziemlich alter Diskurs ist, auch wenn er stilsicher und in einem modernen Ton geschrieben ist. Was neu ist, und was den Erfolg der Autoren ausgemacht hat, ist diese Haltung des Bruchs mit der “Linken”, mit den Kategorien der traditionellen Politik. Die plötzliche Berühmtheit, an der die Medien nicht ganz unbeteiligt sind (da sie nicht gut verstehen, was die Autoren wollen und sie für Originale halten) hat sie ein bisschen hochmütig und abschätzig werden lassen. Das ist ein Fehler und ein Zeichen von Schwäche. Es sind Genossen, die etliche Probleme mit dem Polizeistaat haben und die man unterstützen muss. Aber die größte Gefahr für sie kommt von woanders. Das System ist sehr stark, die Medien sind Menschenfresser und wissen, wie man es anstellt.

* Mingong sind Wanderarbeiter, die in der Volksrepublik China seit den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts aus den ländlichen Gebieten auf Arbeitssuche in die großen Zentren des Landes und deren Umland gezogen sind. (Anm. d. Ü.)

*Ejército Zapatista de Liberación Nacional, dt. Zapatistische Armee der Nationalen Befreiung (Anm. Ü.)

* SUD = Solidaires, Unitaires, Democratiques, dt. Solidarisch, einheitlich, demokratisch (Anm. d. Ü.)