Antikapitalismus /
Postkapitalismus*
Übersetzung: Cornelia Steinigen
Wie charakterisiert man die neuesten Umstrukturierungen (oder Auflösungen) des Kapitalismus? Sind die klassischen Asymmetrien zwischen Zentrum und Peripherie noch ausschlaggebend? Treten wir in eine Welt ein, die sich auf dem Weg der Homogenisierung befindet? Oder wohnen wir einem Prozess der Reterritorialisierung, einem neuen Krieg zur Eroberung natürlicher Ressourcen bei, in dem der soziale Norden und Süden (das heißt oben und unten) den geopolitischen Norden und Süden dominieren?
Hat die letzte Stunde des Neoliberalismus, der US-amerikanischen Übermacht oder des Kapitalismus geschlagen? Ist die aktuelle Krise die letzte Krise des Kapitalismus oder eine einfache zyklische Fehlanpassung? Ein weiterer Ausdruck des Neoliberalismus als permanenter Krise? Ein weiteres Beispiel der Schock-Strategie, die dem Katastrophen-Kapitalismus1 innewohnt? Oder ist es der Beginn eines Prozesses, mit dem es dem Kapitalismus gelingen könnte, sich trotz der Widersprüche und Begrenzungen, die er nur mit zunehmenden Schwierigkeiten überwinden kann, weiter auszubreiten? Hier ergibt sich in der Diskussion neben anderen Schwierigkeiten eine Frage des Rhythmus: Wir dürfen weder zu schnell noch zu langsam vorgehen und müssen es vermeiden, die derzeitigen Transformationen weder zu übertreiben, noch kleinzureden, was sich seit Neuestem erkennen lässt.
Wenn man von der Endphase des Kapitalismus spricht, impliziert dies dann seinen unweigerlichen Zusammenbruch oder – wie es die vierte der sieben Thesen zu den antisystemischen Bewegungen2 betont – Folgendes?: “Das unvermeidliche Schicksal des Kapitalismus ist nicht seine Selbstzerstörung, es sei denn, diese umfasst die ganze Welt”, denn “die apokalyptische Idee, dass das System in sich selbst zusammenbricht, ist falsch”.3
Wie soll man den Austritt aus dem kapitalistischen System planen, wenn man das Modell DER Revolution, die mit der staatlichen Machtergreifung in Verbindung gebracht wird, aufgegeben hat? Bringt der Kapitalismus selbst befreiende Potenziale wie die genossenschaftliche Arbeit und die unbegrenzte und kostenlose Reproduzierbarkeit immaterieller Werte hervor, die den Weg zu einer anderen systemischen Logik eröffnen? Ist es möglich, dem Kapitalismus zu entkommen, ihn aufzugeben, sich von ihm zu trennen, um ihn nicht weiter zu reproduzieren? Die zapatistische Selbstregierung, deren Fortschritte vor einem Jahr durch die Kommandantin Hortensia und den Subkommandanten Moisés4 vorgestellt worden sind, zeigt, dass es heute möglich ist, eine andere Welt aufzubauen.Aber wie lange werden sich diese Horte der Hoffnung widersetzen können? Sie haben einen enormen politisch-pädagogischen Wert, da sie einen Teil des Morgen offenbaren und es erlauben, dass die bereits teilweise emanzipierten Subjektivitäten aufkeimen; aber wie weit wird die Schlange, die sie umschlingt, sie fortschreiten lassen? Wann wird der Moment der Wahrheit, der Zusammenstoß antisystemischer Dynamik und systemischer Starre kommen?
Schlussendlich wurde die Frage umrissen, was sich nach dem Kapitalismus ereignen könnte: Was könnte eine “postkapitalistische Ökonomie” sein? Wie wagt man es, den Postkapitalismus zu denken und zu erträumen? In diese Schneise möchte ich nun im Folgenden vordringen im vollen Bewusstsein, dass das Terrain in höchstem Maße rutschig, wenn nicht gar unwegsam ist.
Antikapitalismus oder Umgestaltung des Kapitalismus?
Eine kurze Bemerkung vorweg: Der Kampf, den die Sechste Erklärung aus dem Lakandonischen Urwald beschreibt5, ist antikapitalistisch. Aber was heißt eigentlich “antikapitalistisch”, fragen sich die Leute zu Recht? Was wir zurückweisen, was wir nicht mehr hinnehmen wollen, ist nicht nur eine wirtschaftliche Organisationsform, eine Produktionsweise, sondern ein globales System, das alles formt, das die Art und Weise zu sein und zu denken von der Politik und der gesellschaftlichen Organisation bis zu den Lebensformen bestimmt; und es ist ebenso eine Art, Subjektivitäten herzustellen. Das, was wir nicht mehr hinnehmen, ist nicht nur eine Wirtschaftsform, sondern die Wirtschaft selbst; denn es handelt sich mit der marktwirtschaftlichen Gesellschaft um eine Gesellschaft, in der das individuelle und kollektive Leben durch die Profitlogik, durch die Umwandlung des Geldes in immer noch mehr Geld dominiert und pervertiert wird; es handelt sich um eine Zivilisation, die den Menschen und seine vermeintlich egoistische und kompetitive Natur nach ihrem Bilde geformt hat, um ihn für den erbarmungslosen Kampf in der Arena des Arbeitsmarktes zu wappnen und ihn dazu zu bringen, seine Triebe und Frustrationen an die Fetische des Konsumismus6 zu koppeln.
Und dennoch gelangt man, wenn man von Antikapitalismus und sogar von Anti-Neoliberalismus spricht, zu einer Mehrdeutigkeit: Geht es darum, Alternativen zum Kapitalismus oder Alternativen innerhalb des Kapitalismus zu schaffen? Zahlreich sind diejenigen, die ein Bewusstsein für die durch den Kapitalismus hervorgerufenen Leiden und Katastrophen haben, deren Kritik sich jedoch darauf beschränkt, eine Kontrolle der Kräfte des Marktes in der Hoffnung zu fordern, die öffentlichen Dienstleistungen zu retten und das Allgemeinwohl somit idealerweise durch regulierende staatliche Eingriffe verteidigen zu können. Einige schlagen sogar ein duales System mit einer Marktwirtschaft vor, der sie eine gewisse Leistungsfähigkeit im Bereich der Produktion und Innovation zusprechen. Sie streben danach, diese Wirtschaft unter gewissen Einschränkungen aufrechtzuerhalten, um gleichzeitig die nicht-marktbestimmten Werte prosperieren zu lassen. Anders formuliert denken manche, dass es möglich ist, den Kapitalismus zu zähmen und seinen Profithunger zu kontrollieren.
Hier versteckt sich in unterschiedlicher Ausprägung ein zäher Gegner: Die Idee dass der Kapitalismus, so verwerflich er auch sein mag, am Ende unausweichlich ist. Dass es möglich wäre, ihn zu kontrollieren, zu begrenzen, um mit ihm ein menschlicheres Miteinander entstehen zu lassen. Wenn wir aber beobachten, wie sehr die aktuelle Dynamik des Kapitalismus aus einer brutalen und grenzenlosen Ausweitung des Bereichs von Wert und Profit besteht, ist diese Vision, die vorgibt, die realistischste zu sein, immer weniger realistisch. Der Weltkrieg, den der Kapitalismus gegen die Menschheit und den Planeten Erde angezettelt hat, um die wachsenden Schwierigkeiten der Profitgenerierung zu kompensieren7, beinhaltet es, die Gebiete und die natürlichen Ressourcen, die vorher keinen Marktwert hatten, und die traditionellen Lebensformen, die sich würdevoll außerhalb des Marktes befanden, zu erobern und dem Gesetz des Geldwertes zu unterwerfen8. Er bedeutet, ins Innerste des menschlichen Wesens einzudringen und sich zum Meister der Strukturen des Lebens selbst zu machen. In diesem “Vierten Weltkrieg”, wie ihn Sergio Rodriguez Lascano genannt hat, “dringen sie überall ein, in unseren Körper, unseren Geist, unser Leben.”9 Und trotzdem haben einige weiterhin Sehnsucht nach einem Pakt guter Nachbarschaft mit den Kräften des Marktes, da sie es nicht wagen, die Möglichkeit, sich komplett vom Kapitalismus loszusagen, in Betracht zu ziehen. Dahinter verbirgt sich angesichts der aktuellen Verhältnisse eine Form des Aufgebens, eine Kapitulation, die in einen inkonsequenten Antikapitalismus mündet, den wir als “Kapitulismus” bezeichnen könnten.
Die Zukunft erwecken
Um den Kapitulismus zu besiegen, ist es nötig, sich davon zu überzeugen, dass eine andere Welt möglich ist – aber, wir präzisieren: eine andere Welt ohne Kapitalismus. Dies verpflichtet uns, damit zu beginnen, uns eine postkapitalistische Welt vorzustellen, die von der Tyrannei der Ware und Enteignung unserer Leben befreit ist. An diesem Punkt stoßen wir auf eine Schwierigkeit. Einerseits laufen wir in dem Glauben an diese postkapitalistische Welt Gefahr, auf abstrakte Weise die Pläne einer idealen Gesellschaft zu entwerfen und somit den gleichen Fehler zu machen wie die Avantgarden, die behaupteten, auf wissenschaftlicher Grundlage zu wissen, in welche Richtung die Geschichte voranschreitet und wie die Massen hin zur strahlenden Sonne des Morgen zu führen seien. Heute haben wir verstanden, dass die Zukunft offen ist, dass es ausgeschlossen ist, sie vorherzusagen, denn der alte Antonio hat uns gelehrt, dass der Weg nicht existiert, bevor er begangen wurde10. Heute besteht der rebellische Elan weniger darin, das Ticket für das gelobte Land zu kaufen, als angesichts der kapitalistischen Barbarei vielmehr darin, die ägyptischen Plagen mit einem Ya basta! (dt. Jetzt reicht’s!) hinter sich zu lassen. Aber warum beschränken wir uns auf der anderen Seite selbst und verbieten uns wahrzu-nehmen, was die vollständige Befreiung von der kapitalistischen Bestie bedeuten könnte? Welchen Sinn könnte unser antikapitalistischer Kampf ohne die minimale Vorstellung von dieser postkapitalistischen Welt haben? Die emanzipatorischen Auswirkungen dieser anderen Welt zu erkunden, kann unsere Wut, unseren Wunsch, die Welt der Zerstörung zu zerstören, nur steigern, indem es uns dazu bringt, die Katastrophe, in der wir weiterleben, mit einem wirklich menschlichen Leben zu vergleichen. Zu spüren, dass es möglich ist, den Kapitalismus hinter uns zu lassen, kann uns darüber hinaus auf entscheidende Weise helfen, den Kapitulismus zu überwinden.
Es ist an der Zeit, die Zukunft zu erwecken, mit der immerwährenden Gegenwart des Neoliberalismus zu brechen, welche die Vergangenheit in Vergessenheit versenkt und vorgibt, dass es “keine Zukunft” außerhalb der Wiederholung des immer gleichen heute, heute und immer wieder heute gibt. Es ist an der Zeit, unser Verlangen nach der Zukunft zu erwecken. Ohne, dass dies bedeutete, zu einer Zukunft zurückzukehren, die von der Modernität vorherbestimmt und von ihrem Glauben an die Zwangsläufigkeit des Fortschritts geprägt ist. Es geht weder darum, einen neuen Orakelspruch zu verkünden, noch ein Programm vom Himmel fallen zu lassen, oder die Pläne des irdischen Paradieses zu patentieren. Die utopische Vorstellungskraft, Multiplikator der Wut und Brennstoff des Kampfes, schreitet nicht im Vakuum voran: Sie geht von unserer Ablehnung der Warengesellschaft aus und gründet sich auf konkrete Erfahrungen wie die der zapatistischen Selbstregierung. Sie nährt sich auch von vergangenen emanzipatorischen Prozessen und ihrer Kritik, sowie von einem Wiederaufleben der Traditionen des nicht-kapitalistischen gemeinschaftlichen Lebens, welche über Jahrhunderte hinweg auf allen Kontinenten existiert haben. Die utopische Vorstellungskraft schwirrt nicht am klaren Himmel der uneingeschränkten Wünsche herum; sie baut auf realen Gesellschaftsformen auf und richtet sich zuallererst gegen die Formen, die wir nicht mehr bereit sind, zu unterstützen.
Sicher kann es nur darum gehen, ein Nachdenken zu eröffnen, das notwendigerweise kollektiver Art sein muss und das die Prozesse der Emanzipation nicht zu erzwingen oder zu steuern anstrebt. Diese werden das Werk von Frauen und Männern, von Alten und Kindern aus allen Winkeln des Planeten sein. Sie werden eine Welt entstehen lassen, die nicht vorhersehbar ist; eine Welt, in der viele Welten Platz haben. Vorerst geht es nur darum, einige Hypothesen voranzubringen, die durch alle zu prüfen sind und die in den kollektiven Emanzipationsprozessen zwangsläufig überholt werden. Ferner brauchen wir nicht vollkommen mit dem System einverstanden sein, das auf den Kapitalismus folgen könnte, um uns in Bewegung zu setzen, wie es Gustavo Esteva deutlich machte. Und es wäre katastrophal, wenn uns eine Meinungsverschiedenheit in diesem Punkt davon abhielte, gemeinsam zu kämpfen11. Die Zukunft zu erwecken, bedeutet nicht den Weg im Vorhinein festzulegen. Die Zukunft zu erwecken, erlaubt uns vielmehr, unser Verlangen zu beleben, indem wir zu laufen beginnen und es versorgt uns mit der Energie, dies zu tun. Aus diesem Grund benötigen wir zweifellos einige „Utopie-Arbeitsgruppen“, in denen wir gemeinsam über den Postkapitalismus diskutieren, den wir so dringend erträumen müssen.
Eine Revolution der Zeit
Zu diesem Traum haben die zapatistischen Völker einen außergewöhnlichen theoretischen sowie praktischen Beitrag geleistet, den sie selbst im Zuge der drei Treffen mit den Völkern der Welt zwischen 2006 und 2008 und dann im Rahmen des Festival de la digna rabia (insbesondere in den Beiträgen der Kommandantin Hortensia und des Oberstleutnants Moisés) vorgestellt haben. Die Juntas der Guten Regierung waren und sind kollektive „Schulen der Regierung“, in denen inmitten enormer Schwierigkeiten die Prinzipien des „Gehorchenden Befehlens“ praktiziert wurden und noch immer werden. Es wurden Mechanismen wie die Absetzbarkeit, die Rotation der Posten, sowie ständige Konsultationen eingeführt, um gegen die Distanz zwischen Regierenden und Regierten zu kämpfen, die eines der Leitprinzipien des Staates darstellt.12 Sie haben gezeigt, dass es möglich ist, eine politische Organisation nicht-staatlichen Charakters aufzubauen, in der das Volk seine Fähigkeit zur Selbstverwaltung tatsächlich ausübt, anstatt ihrer durch professionelle Politiker und andere angebliche Experten beraubt zu werden. Aber die Berufspolitiker sind nicht die einzigen Spezialisten, die von den Zapatisten einer scharfen Kritik unterzogen wurden. So entblößt der dritte Wind der würdevollen Wut eine große Anzahl von ihnen – wie die von ihrer Wissenschaft überzeugten Agrarwissenschaftler – und stellte jegliche Form „privater Wissensaneignung“ in Frage.13 Selbst wenn es wahr ist, dass die Arbeitsteilung (insbesondere unter geschlechtsspezifischen Aspekten) nicht im Zuge des Kapitalismus entstanden ist, so hat es doch kein vorhergehendes System geschafft, die Spezialisierung der menschlichen Tätigkeit auf das derzeitige Niveau zu bringen. Und wenn es wahr ist, dass die Vorstellung einer postkapitalistischen Welt zuerst darin besteht, sich eine von der Wertlogik, von der Produktion-für-den-Gewinn und von der Arbeit-für-das-Überleben befreite Gesellschaft zu denken, so impliziert dies auch, es aufzugeben, das kollektive Leben auf einem Prinzip wachsender Spezialisierung zu gründen. Man muss mit der Logik der Arbeitsteilung und mit allen Formen der Trennung zwischen Tätigkeitsbereichen, zwischen Theorie und Praxis, Handarbeit und intellektueller Arbeit, Kopf und Herz, Denken und Fühlen – die gleichsam Hierarchisierungen und Ausschlüsse bedeuten – brechen. Es geht darum, den Weg zu einer Gesellschaft der generalisierten Entspezialisierung zu ebnen, bei der jeder ohne Einschränkungen mehrere Tätigkeitsbereiche und Fachbereiche ausprobieren kann. Dies setzt eine Revolution der Zeit voraus. Es setzt voraus, dass wir uns von der quantifizierten und (unter)drückenden Zeit des Kapitalismus befreien, die auf der Messung der Arbeitszeit in Stunden und dem Kampf der Produktivität gegen die Zeit basiert. Dies setzt voraus, dass wir uns von der „Tyrannei der Uhren“, die der moderne Mensch in sein Innerstes eindringen lassen hat, und von der Diktatur der Beschleunigung befreien, die uns immer höheren Stressniveaus aussetzt und uns unserer Leben enteignet. Gegenüber dem Zeitzwang des Kapitalismus ist eine zeitliche Dekomprimierung unabdingbar. Im Übrigen ist dies eine unentbehrliche Voraussetzung, um eine Entspezialisierung des Tuns und des Seins zu ermöglichen. Eine postkapitalistische Gesellschaft kann nur eine Gesellschaft verfügbarer Zeit sein; anders gesagt, eine Gesellschaft, in der man aufhört, die durch Produktion und Arbeit gemessene und bestimmte Zeit als maßgebend zu betrachten, um einer qualitativen und konkreten Zeit Vorrang zu geben: Die Zeit des (guten) Lebens und des Zusammenseins (aller).
Was würde geschehen, wenn wir anfingen darüber nachzudenken, wie viele Tätigkeiten der Güter- und Dienstleistungsproduktion nur ausgeführt werden, weil sie Profite erzeugen beziehungsweise diese indirekt erlauben, oder weil wir alle eine Arbeit zum Überleben brauchen? Sie erweisen sich doch als teilweise oder vollkommen unnütz und wären es in einer postkapitalistischen Gesellschaft noch mehr; ganz zu schweigen davon, dass sie für den Boden, die Luft, das Wasser, die Pflanzen- und Tierarten und den Menschen zerstörerisch sind. Erstellen wir die frohlockende Liste des Abbaus: Armeen und Militärindustrie, Banken und Versicherungen, Bürokratien und Regierungsapparate, Werbung und Unternehmenskommunikation, ein beträchtlicher Teil des Chemiesektors, der Bau von Bürogebäuden, überdimensionierten Talsperren und unerwünschten Autobahnen und es steht allen offen, diese Liste fortzuführen ... Denken wir an all die Konsumgüter, die in einer Gesellschaft der verfügbaren Zeit durch eine lokale Produktion oder die Eigenproduktion ersetzt werden könnten, um industrielle Lebensmittel abzuschaffen. (Heute geht man soweit, mit Nukleartechnologie betriebene Fabriken zu bauen, um Salate zu desinfizieren und in Plastik zu konservieren, einzig und allein weil die Bürger nicht eine Minute Zeit haben, um einen Salat voller Erde zu waschen, den sie von einem Bauern der Region gekauft haben.) Denken wir darüber nach, was es bedeuten würde, keine Objekte mit programmierter Obszoleszenz, das heißt Mit-dem-Ziel-ihrer-Selbstzerstörung-hergestellte-Güter, mehr zu produzieren und stattdessen wieder haltbare und reparierbare Geräte zu verwenden. Jede Reduzierung in der Güter- und Dienstleistungsproduktion wird Multiplikatoreffekte haben, da die Bedürfnisse nach Gebäuden, Anlagen und vor allem nach Personen- und Gütertransporten dadurch dementsprechend reduziert werden. Das Wegfallen der Wege zwischen Produktion und Konsum, die sich derzeit ebenso absurd ausweiten, wie sie der Ausdruck einer Wertlogik sind (zum Beispiel der Transport eines in China kultivierten Knoblauchs nach Europa oder von Wasser aus den Alpen nach San Cristóbal de las Casas), und die bevorzugte Wahl lokaler Produkte würden dazu beitragen, die Notwendigkeit des Transports noch weiter zu reduzieren und die Kette der Handelsbeziehungen auf ein moderates Ausmaß zurückzufahren. (Dazu würde auch die Disqualifizierung zahlreicher Spitzenprodukte des aktuellen Handels führen) Die Revolution der Zeit und der Verlust des egomanischen Fetischismus Auto würden eine Rehabilitierung der langsamen Verkehrsmittel erlauben und die Stützen des aktuellen Gewichts des Energiesektors in der Weltwirtschaft in erheblichem Maße reduzieren. (Ebenso würde es dazu führen, fossile Energieträger durch erneuerbare zu ersetzen.)14
Wenn man hiervon ausgeht und es als notwendig erachtet, die Grundbedürfnisse aller Menschen zu befriedigen, denen es heute nicht einmal gelingt, sich gut zu ernähren, kann man sich ausrechnen, dass die produktiven Aufgaben und die unentbehrlichen Dienstleistungen (an erster Stelle Gesundheit, des weiteren in bestimmtem Maß Handel, Transport und Kommunikation) in einem Arbeitsumfang realisiert werden könnten, der sich bei gleicher Aufteilung auf zehn bis zwölf Stunden pro Woche beliefe. Ebenso gilt es, die Teilnahme an Aufgaben des Gemeininteresses zu berücksichtigen (zu Teilen und frei übernommen): die Teilnahme an Kommunalräten oder an Juntas der Guten Regierung auf unterschiedlichen Ebenen, an selten zu erfüllenden Polizei- und Justizaufgaben, die notwendig bleiben würden, an der Betreuung und (umfassend entschulten) Bildung der Kinder oder an anderen Aufgaben, die die Kommune oder das Stadtviertel festgelegt haben. Es ist wahrscheinlich, dass die Gesamtdauer 20 bis 24 Stunden nicht überschreiten, also weniger als vier Stunden pro Tag betragen würde.
Wichtiger als die Genauigkeit dieser Kalkulation sind die Proportionen, die sie nahelegt. Sie sind so beschaffen, dass der Lebensrhythmus nicht mehr durch die obligatorische Arbeitszeit erdrückt werden würde (so wie es derzeit der Fall ist, wobei die so genannte Freizeit strukturell der Wiederherstellung der Arbeitskraft und dem Warenkonsum gewidmet ist). Es würde eine Zeit ohne Quantifizierung vorherrschen, die offen dafür wäre, den jeweiligen Interessen und Belangen nachzugehen. In diesem großen Zeitfenster lässt sich ohne Druck oder Unterdrückung alles organisieren: die Haushaltsführung, der Austausch mit den Kindern, mit Familienmitgliedern, Freunden und Bewohnern des Stadtviertels, die Vergnügungen und die Kreativität, der Tatendrang und die Wissbegierden, die Vorliebe einen kleinen Garten zu kultivieren oder elektronische Geräte zu reparieren, zur freien Software beizutragen oder zu tanzen, zu lieben, zu genießen, zu leben und miteinander zu sein. All dies auf Gleichheit beruhend, ohne Hierarchie zwischen Kopf und Körper, Theorie und Praxis, Denken und Fühlen, dem vermeintlichen Gegensatz zwischen männlich und weiblich, um die Möglichkeiten des Tuns und des menschlichen Werdens wiederzuvereinigen und auszuweiten.
Die Dekomprimierung der gelebten Zeit ermöglicht die Entspezialisierung und die Entspezialisierung erhöht wiederum die verfügbare Zeit, da sie die Selbstproduktion und die Selbstbefriedigung von Bedürfnissen erhöht, indem sie die Notwendigkeit reduziert, auf die Arbeit anderer sowie auf Produktionen und Dienstleistungen, die als gesellschaftlich notwendig angesehen werden, zurückzugreifen. Ein anderer tugendhafter Kreis entsteht daraus, dass die Gleichheit der Bedingungen das Gleichgewicht der Fähigkeiten und Kunstfertigkeiten befördert, was wiederum die Gleichheit der Bedingungen verstärkt. All dies eröffnet auf profunder Ebene den Weg zu anderen Subjektivitäten, vielleicht zu so etwas wie einer anthropologischen Revolution, einem anderen Verständnis des Menschen, dem es von nun an unmöglich ist, sich außerhalb der Beziehungen mit anderen Menschen, mit anderen Lebewesen und mit unserer Mutter Erde zu begreifen. Sobald die kapitalistische Notwendigkeit verschwindet, hyperkompetitive und pathologisch aufgeblasene Egos zu produzieren, ermöglicht das konkrete Leben kooperative Subjektivitäten, die sich der Tatsache bewusst sind, dass die gegenseitige Hilfe, die Fähigkeit andere anzuerkennen und ihnen zuzuhören und der Sinn für ein Gleichgewicht zwischen dem Kollektiv und den Einzelnen, die Teil davon sind, die besten Garantien des guten Lebens aller und jedes Einzelnen sind.
Weder Staat noch Produktivismus
Zahlreiche Zweifel durchdringen meine Ausführungen, aber vielleicht befinden sich unter diesen Vorschlägen einige Implikationen für unser Verständnis des antikapitalistischen Kampfes. Dieser verortet seinen Weg “von unten nach links”: Er verläuft nicht durch den Staat. Es geht darum, eine neue Form der nicht-staatlichen Regierung von unten aufzubauen wie es die Juntas der Guten Regierung gemacht haben. Und nichts spricht dagegen, sich eine Erweiterung dieser Erfahrung von Selbstverwaltung auf höheren Ebenen der Koordination oder Föderation, einschließlich der nationalen Ebene, vorzustellen, um die aktuelle Staatsform vollständig zu ersetzen. Möglicherweise haben wir der Frage nach dem Staat zu viel Aufmerksamkeit gewidmet und uns zu wenig mit den Produktionsmitteln beschäftigt. Die fünfte These zu den antisystemischen Bewegungen erinnert daher daran, dass “das Privateigentum an Produktions- und Tauschmitteln der zentrale Kern” des Kapitalismus ist, an dem er angegriffen und besiegt werden muss15. Angesichts dessen, was vorher gesagt wurde, scheint diese Behauptung nicht zu Gunsten einer Übertragung des Besitzes von Produktionsmitteln an den Staat interpretiert werden zu können.
Diese bedeutet für sich keinen Bruch mit dem Kapitalismus, sondern stellt im Gegenteil historisch betrachtet, eine Form der Rettung und sogar ein Mittel der Ausbreitung des kapitalistischen Systems dar. Bei zahlreichen Gelegenheiten unterstrich Oberstleutnant Moisés, dass das Vorgehen der Zapatisten sich darauf konzentrierte, das Land zu nehmen und die Produktionsmittel zurückzuerlangen. Das ist der Boden, auf dem sich die Selbstregierung aufbauen konnte16. Selbstverständlich gehört das Land demjenigen, der es bearbeitet (wenn die indigene Bevölkerung auch sagt, dass unsere Mutter Erde niemandem gehört, und dass wir es sind, die ihr gehören). Aber wem soll die Herstellung von Chemiedünger, von Raketen oder Panzern, wem sollen die Finanzzentren gehören? Wenn wir sagen, dass es nicht darum geht, die Macht des Staates zu ergreifen, dann weil wir verstanden haben, dass dieser eine Struktur darstellt, die zum Funktionieren des kapitalistischen Systems beiträgt. Es geht also nicht darum, sich auf den Präsidentenstuhl zu setzen. Aber sollte es darum gehen, sich auf die Stühle der Administratoren der großen nationalen und transnationalen Konzerne zu setzen?
Wenn wir der Form “Staat” misstrauen, so sollten wir noch triftigere Gründe dafür haben, dem Produktionsapparat zu misstrauen, da er ein weitaus direkterer Ausdruck kapitalistischer Normen ist. Gut bekannt sind die Aussagen, in denen Marx bezüglich der Pariser Kommune unterstreicht, dass die revolutionäre Bewegung “sich nicht damit zufriedengeben kann, den bestehenden Staatsapparat zu übernehmen und ihn für die eigenen Zwecke umzufunktionieren”, sondern dass “sie ihn zerstören” müsse.17 Mit Bezug darauf hat Michael Löwy hervorgehoben, dass es ebenso katastrophal wäre, den existierenden Produktionsapparat in Besitz zu nehmen und in Betracht zu ziehen, diesen für die eigenen Zwecke zu nutzen.18 Da die Struktur dieses Produktionsapparats von Gütern und Dienstleistungen auf das Engste mit der Logik der Kapitalanhäufung und Gewinnerzeugung verbunden ist, ist das schlicht unmöglich. Es ist unmöglich, da die Produktionsmittel heute Mittel der Zerstörung geworden sind, die nicht dem Leben, sondern dem Gewinn dienen, die Raubbau und Enteignung verursachen und den Tod für Menschen und den Planeten Erde bedeuten. Diese verrückt gewordene Maschinerie muss zerlegt und in ihrer derzeitigen Struktur zerstört werden (was voraussetzt, sie den Herren des Geldes zu entreißen), damit es möglich wird, eine andere Form der Güter- und Dienstleistungsproduktion zu erdenken und demokratisch zu entscheiden, welche Produktionsmittel lebensnotwendig sind (wie der Boden eines ist, wenn er nicht durch eine industriellen Normen und Zwecken unterworfene Landwirtschaft pervertiert worden wäre) und welche in eine andere Richtung gelenkt oder gänzlich aufgegeben werden müssen.
Es geht darum, eine Form der Selbstverwaltung aufzubauen, die nicht die Form des Staates reproduziert; eine Produktionsform aufzubauen, die nicht der aktuellen Logik eines versklavenden und räuberischen Wachstums folgt. Damit sind zwei Punkte aufgeführt, die uns von den dominierenden Positionen der anti-systemischen Bewegungen des 20. Jahrhunderts unterscheiden. Sie deuten auf einen nicht-staatlichen und nicht-produktivistischen Antikapitalismus hin. Es liegt nahe, eine weitere Charakteristik hinzuzufügen: Den Eurozentrismus überwinden und akzeptieren, dass die aufklärerische Moderne nicht die einzige mögliche Wurzel der Kämpfe für Emanzipation ist. Ihre nicht gehaltenen Versprechen laden vielmehr dazu ein, sie in Frage zu stellen. Eine schöpferische Konfrontation mit anderen kulturellen Traditionen ist vielleicht die beste Chance, um zu versuchen, die originären Schwächen der Moderne, die individualistische Konzeption der Person und das instrumentelle Verhältnis zur Natur zu überwinden. Es gilt zuzugestehen, dass der egalitäre Impuls in gesellschaftlicher wie politischer Hinsicht nicht das Monopol einer einzigen Kultur ist, sondern dass er ein Gemeingut der würdigen Menschheit darstellt; aller Völker der Erde, die im Laufe der Geschichte nicht aufgehört haben, zu rebellieren und Herrschaft und Ausbeutung nicht hinzunehmen.19 Deshalb muss der Postkapitalismus interkulturell sein: Es gibt nicht nur eine einzige Art und Weise, eine vom Kapitalismus befreite Welt aufzubauen, sondern eine Vielzahl von Optionen, die von verschiedenen Erinnerungen und Traditionen ausgehen und geeignet sind, sich gegenseitig zu bereichern. Das ist es, wovon wir träumen, von einer Welt, die zahlreiche Welten umfasst.
Wir sprechen von einem nicht-staatlichen, nicht-produktivistischen und nicht-ethnozentrischen Anti-Kapitalismus, der einen Postkapitalismus der Autonomien eröffnet; einen Postkapitalismus des guten Lebens für alle, für das die indigenen Völker der Abya Yala ihre Fahne hochhalten; einen Postkapitalismus des Gleichgewichts aller Unterschiede, zwischen den Menschen wie zu den anderen Wesen, die auf der Erde leben. Dieser Traum, der insbesondere von den indigenen Völkern, darunter den Zapatisten, verteidigt wird, erweckt die emanzipatorischen Hoffnungen der Vergangenheit wieder. Aber auf der Suche nach einer noch unvorstellbaren Erfahrung zeigt sich zur gleichen Zeit ein neuer Weg mit Möglichkeiten von Würde und fröhlicher Schönheit.
*Den hier abgedruckten Vortrag hielt Jérôme Baschet am 30. Dezember 2009 in San Cristobal de las Casas auf einer durch das CIDECI (Indigenes Zentrum für ganzheitliche Bildung) organisierten Konferenz anlässlich der Veröffentlichung des Buches Planeta Tierra: Movimientos antisistémicos (Planet Erde: antisystemische Bewegungen). Das Buch selbst ist das Ergebnis eines ersten Kolloquiums, das zwei Jahre zuvor im Dezember 2007 zu Ehren des Anthropologen und Historikers André Aubry stattfand, der sein Leben dem Studium der Verhältnisse in Chiapas gewidmet und die Entwicklung der indigenen Gemeinschaften begleitet hat.
1 Siehe Naomi Klein, La stratégie du choc: la montée d‘un capitalismus du désastre, Arles, Actes Sud, 2008.
2 Es handelt sich um Thesen, die Teil einer Reihe an Überlegungen sind, die im Rahmen des ersten internationalen Kolloquiums “Planeta Tierra: Movimientos antisistémicos” (dt. Planet Erde: antisystemische Bewegungen) zu Ehren André Aubrys, und dann auf dem Festival mondial de la digne rage (dt. Weltweites Festival der würdigen Wut) angestoßen wurden. Die Beiträge des Subcomandante Marcos im Rahmen dieser zwei Begegnungen sind unter dem Titel Saisons de la digne rage, Paris, Climats, 2009 auf Französisch veröffentlicht worden.
3 Aufständischer Subcomandante Marcos, Saisons de la digne rage, S. 63.
4 Beiträge im Rahmen des weltweiten Festivals der würdigen Wut in Saisons de la digne rage, S. 194-203 und 210-215.
5 Die „Sexta Declaracion de la Selva lacandona“ (dt. Sechste Erklärung aus dem Lakandonischen Urwald) wurde im Juni 2005 von der EZLN (Ejército Zapatista de Liberación Nacional, dt. Zapatistische Armee der Nationalen Befreiung) nach mehrmaligem Scheitern der Verhandlungen mit den Autoritäten des Staates veröffentlicht. Sie kennzeichnet den Bruch mit jeglichem Versuch, mit einer institutionellen politischen Macht ein Bündnis einzugehen (was die Formel „unten links“ zusammenfasst) und besteht zum ersten Mal auf dem fundamental antikapitalistischen Charakter des Kampfes. Man kann sie und die Historie der Bewegung in verschiedenen Sprachen auf der Seite enlacezapatista.ezln.org.mx/camino-andado/ nachlesen. 6 Marshall Sahlins hat auf sehr schöne Weise gezeigt, wie die Darstellung einer egoistischen und antisozialen menschlichen Natur eine der europäischen Kultur eigene Besonderheit, anders ausgedrückt, eine „westliche Illusion“ darstellt: Indem der Mensch nach dem Bilde des Kapitalismus und zu dessen Entsprechung entworfen wird, kann sich der Kapitalismus als das „Natürlichste“ und als am ehesten an alle Systeme angepasst zeigen (Marshall Sahlins, The Western Illusion of Human Nature. With Reflections on the long history of Hierarchy, Equality and the Sublimation of Anarchy in the West, and Comparative Notes on Other Conceptions of the Human Condition, Chicago 2008). Sich von dieser Darstellung der menschlichen Natur loszusagen, ist eine unerlässliche Aufgabe für den antikapitalistischen Kampf.
7 Vergessen wir nicht, dass die Ausmaße der Weltwirtschaft ein exponentielles Wachstum verzeichnen, so dass es zunehmend problematisch ist, herauszufinden, wie die Überschüsse und die in ihrer Menge wachsenden Vermögen absorbiert werden können. Zu den Schwierigkeiten und Grenzen, auf die der Kapitalismus stößt, ohne dabei seine Fähigkeit auszuschließen, sie zumindest mittelfristig zu überwinden, siehe Anselm Jappe, „Crédit à mort“, Lignes, 30, 2009, S. 25-44.
8 Es geht hier darum, was Jean Robert „den Krieg gegen die Existenz“ nennt, in Crisis: el despojo impune. Como evitar que el remedio sea peor que el mal, San Cristobal de las Casas, 2009, 4. Kapitel.
9 “El Biopoder: la moral de los de arriba”, Primer Coloquio…, S. 205. Das Konzept des Vierten Weltkrieges (um die neoliberale Phase des Kapitalismus zu beschreiben) ist durch den Subcomandante Marcos insbesondere im Artikel „La quatrième guerre mondiale a commencé“, Le Monde Diplomatique, August 1997, vorgestellt worden.
10 Der alte Antonio ist eine der Hauptpersonen, die in den Erzählungen des Subcomandante Marcos auftaucht; siehe Los relatos del viejo Antonio, San Cristobal de las Casas, CIACH, 1998.
11 Es geht nicht darum, einen Vorschlag zu erarbeiten oder die Welt zu gestalten, sondern nur darum, den Raum der Möglichkeiten zu erkennen, der sich durch die Zerstörung der Bestie Kapitalismus eröffnet; ein Raum, in dem sich viele „Jas“, eine Vielzahl von Welten bilden können (Anmerkung: „eine Welt, in der viele Welten Platz haben“, un mundo en donde quepan muchos mundos, ist eine der charakteristischen Formeln der zapatistischen Bewegung). Ich entleihe diesen Ausdruck der „Utopistik“ von Immanuel Wallerstein, Utopistica o las opciones historicas del siglo XXI, Mexiko, 1998. Siehe ebenfalls Fredric Jameson, „L’utopie comme méthode“, Contretemps, 20, 2007, S. 61-70 (und Archeologies of the Future, London, 2007), ein Aufsatz, in dem er die Unterscheidung zwischen einem „utopischen Programm“ (wie das von Charles Fourier) und „utopischen Elan“ (der Inspiration Ernst Blochs folgend) macht und den zweitgenannten weder als verschlossen noch als vordefiniert beschreibt.
12 „Agenda y sentido de los movimientos antisistémicos”, Primer Coloquio …, S. 57: ein Kampf, der als mehrheitlich und offen begriffen wird, „erfordert keine vorhergehende Zustimmung zur Ordnung, die daraus resultieren wird ... Die utopischen Ausarbeitungen haben einen klaren Wert, aber es ist absurd anzunehmen, dass die Einigung auf eine von ihnen eine Voraussetzung ist, um den Kampf zu realisieren“.
13 Bezüglich der Analyse der zapatistischen Selbstregierung möchte ich gerne auf meine Präsentation in Subcomandante Marcos, Saisons de la digne rage, S. 7-42 verweisen (und für eine Präsentation der gesamten zapatistischen Bewegung auf Jérôme Baschet, La rébellion zapatiste. Insurrection indienne et résistence planétaire, 2. erweiterte Ausgabe, Paris, Champs-Flammarion, 2005).
13 Saisons de la digne rage, S. 182-190.
14 All dies umfasst kollektive Entscheidungsinstanzen und -mechanismen, mit denen bestimmt werden soll, welches die Produkte und Dienstleistungen sind, die man als sozial notwendig betrachtet. Die Entscheidungen werden nicht einfach sein; sie werden von einer zur anderen Region variieren (was es mit sich bringt, auf ein gewisses Gleichgewicht zu achten) und sich im Laufe der Zeit ändern. Man kann nur zwei mögliche Entscheidungskriterien anführen: Eines ist die ökologische Auswirkung jeder Produktion und jeder Dienstleistung, in die alle Konsequenzen von der Gewinnung der notwendigen Materialien bis hin zur Menge der produzierten Abfälle eingeschlossen sind; dies kann dazu führen, dass man bestimmte Produktionsweisen als nicht haltbar erachtet. Ein anderes Kriterium besteht darin, die Nützlichkeit, die sich aus dem jeweiligen Produkt bzw. der jeweiligen Dienstleistung in Zusammenhang mit der entsprechenden Arbeitsbelastung ergibt, abzuwägen (eingeschlossen die indirekten Arbeiten der Distribution, der Abfallverwaltung, etc.). Statt einer Korrelation zwischen Investition und Profit wie im aktuellen System hätten wir also eine Korrelation zwischen dem Nutzwert auf der einen und der aufgeopferten menschlichen Zeit und dem ökologischen Schaden auf der anderen Seite. Es ist wahrscheinlich, dass auf der Basis dieser Kriterien Produktionen zweifelhafter Nützlichkeit abgeschafft werden würden, da die verfügbare Zeit als eines der wertvollsten Güter und als Grundlage der gemeinsamen Welt und des guten Lebens betrachtet werden würden.
15 Saisons de la digne rage, S. 63.
16 Insbesondere in der Zusammenfassung des Ersten Treffens der zapatistischen Völker der Welt (Oventic, 2. Januar 2007). Siehe auch Saisons de la digne rage, S. 105-106.
17 Er muss “ihn zerstören” um eine Ordnung der „kommunalen Selbstregierung“ zu etablieren und „dem gesell-schaftlichen Organismus alle Kräfte zurückzugeben, die zuvor vom parasitären Staat, der auf Kosten der Gesellschaft gedeiht und deren freie Bewegung beeinträchtigt, absorbiert worden sind.“: Karl Marx, La guerre civile en France, Paris, 1957.
18 Michael Löwy, „Pour une éthique écosocialiste“ (auf verschiedenen Internetseiten verfügbar).
19 Dias rebeldes. Cronicas de insumision, Barcelona, Octaedro, 2009. Der gesellschaftliche Egalitarismus charakte-risiert sich durch die Verweigerung der Ungleichheit zwischen Reichen und Armen und manifestiert sich in zahlreichen Rebellionen aller Kontinente durch die Zustimmung der Produzenten zum kollektiven Besitz an Produktionsmitteln. Der politische Egalitarismus definiert sich durch die Teilnahme aller an der Entscheidungsfindung und manifestiert sich in den Formen bäuerlicher gemeinschaftlicher Demokratie, die bei den indigenen Völkern der Abya Yala ebenso wie bei den Bauern Europas, Afrikas und Asiens und auch bei den Landwirten und den Jägern und Sammlern von Melanesien und Ozeanien existieren bzw. existiert haben. Er zeigt sich auch in den städtischen Kommunen wie der von Paris und in Arbeiter-, Bauern- und Soldatenräten, die in mehreren Ländern Europas zwischen 1905 und 1921, dann von 1936 bis 1937 in Katalonien und noch in Vietnam 1945 entstanden waren. Man kann eine Kontinuität der Prozesse und des Geistes zwischen der Praxis der gemeinschaftlichen bäuerlichen Versammlungen und der Konstruktion einer nicht-staatlichen politischen Organisation, die auf der Form eines Rates basiert, ausmachen: Sie teilen einen gleichen politischen Egalitarismus, den man auch als Demokratie oder Selbstregierung bezeichnen kann.
Hat die letzte Stunde des Neoliberalismus, der US-amerikanischen Übermacht oder des Kapitalismus geschlagen? Ist die aktuelle Krise die letzte Krise des Kapitalismus oder eine einfache zyklische Fehlanpassung? Ein weiterer Ausdruck des Neoliberalismus als permanenter Krise? Ein weiteres Beispiel der Schock-Strategie, die dem Katastrophen-Kapitalismus1 innewohnt? Oder ist es der Beginn eines Prozesses, mit dem es dem Kapitalismus gelingen könnte, sich trotz der Widersprüche und Begrenzungen, die er nur mit zunehmenden Schwierigkeiten überwinden kann, weiter auszubreiten? Hier ergibt sich in der Diskussion neben anderen Schwierigkeiten eine Frage des Rhythmus: Wir dürfen weder zu schnell noch zu langsam vorgehen und müssen es vermeiden, die derzeitigen Transformationen weder zu übertreiben, noch kleinzureden, was sich seit Neuestem erkennen lässt.
Wenn man von der Endphase des Kapitalismus spricht, impliziert dies dann seinen unweigerlichen Zusammenbruch oder – wie es die vierte der sieben Thesen zu den antisystemischen Bewegungen2 betont – Folgendes?: “Das unvermeidliche Schicksal des Kapitalismus ist nicht seine Selbstzerstörung, es sei denn, diese umfasst die ganze Welt”, denn “die apokalyptische Idee, dass das System in sich selbst zusammenbricht, ist falsch”.3
Wie soll man den Austritt aus dem kapitalistischen System planen, wenn man das Modell DER Revolution, die mit der staatlichen Machtergreifung in Verbindung gebracht wird, aufgegeben hat? Bringt der Kapitalismus selbst befreiende Potenziale wie die genossenschaftliche Arbeit und die unbegrenzte und kostenlose Reproduzierbarkeit immaterieller Werte hervor, die den Weg zu einer anderen systemischen Logik eröffnen? Ist es möglich, dem Kapitalismus zu entkommen, ihn aufzugeben, sich von ihm zu trennen, um ihn nicht weiter zu reproduzieren? Die zapatistische Selbstregierung, deren Fortschritte vor einem Jahr durch die Kommandantin Hortensia und den Subkommandanten Moisés4 vorgestellt worden sind, zeigt, dass es heute möglich ist, eine andere Welt aufzubauen.Aber wie lange werden sich diese Horte der Hoffnung widersetzen können? Sie haben einen enormen politisch-pädagogischen Wert, da sie einen Teil des Morgen offenbaren und es erlauben, dass die bereits teilweise emanzipierten Subjektivitäten aufkeimen; aber wie weit wird die Schlange, die sie umschlingt, sie fortschreiten lassen? Wann wird der Moment der Wahrheit, der Zusammenstoß antisystemischer Dynamik und systemischer Starre kommen?
Schlussendlich wurde die Frage umrissen, was sich nach dem Kapitalismus ereignen könnte: Was könnte eine “postkapitalistische Ökonomie” sein? Wie wagt man es, den Postkapitalismus zu denken und zu erträumen? In diese Schneise möchte ich nun im Folgenden vordringen im vollen Bewusstsein, dass das Terrain in höchstem Maße rutschig, wenn nicht gar unwegsam ist.
Antikapitalismus oder Umgestaltung des Kapitalismus?
Eine kurze Bemerkung vorweg: Der Kampf, den die Sechste Erklärung aus dem Lakandonischen Urwald beschreibt5, ist antikapitalistisch. Aber was heißt eigentlich “antikapitalistisch”, fragen sich die Leute zu Recht? Was wir zurückweisen, was wir nicht mehr hinnehmen wollen, ist nicht nur eine wirtschaftliche Organisationsform, eine Produktionsweise, sondern ein globales System, das alles formt, das die Art und Weise zu sein und zu denken von der Politik und der gesellschaftlichen Organisation bis zu den Lebensformen bestimmt; und es ist ebenso eine Art, Subjektivitäten herzustellen. Das, was wir nicht mehr hinnehmen, ist nicht nur eine Wirtschaftsform, sondern die Wirtschaft selbst; denn es handelt sich mit der marktwirtschaftlichen Gesellschaft um eine Gesellschaft, in der das individuelle und kollektive Leben durch die Profitlogik, durch die Umwandlung des Geldes in immer noch mehr Geld dominiert und pervertiert wird; es handelt sich um eine Zivilisation, die den Menschen und seine vermeintlich egoistische und kompetitive Natur nach ihrem Bilde geformt hat, um ihn für den erbarmungslosen Kampf in der Arena des Arbeitsmarktes zu wappnen und ihn dazu zu bringen, seine Triebe und Frustrationen an die Fetische des Konsumismus6 zu koppeln.
Und dennoch gelangt man, wenn man von Antikapitalismus und sogar von Anti-Neoliberalismus spricht, zu einer Mehrdeutigkeit: Geht es darum, Alternativen zum Kapitalismus oder Alternativen innerhalb des Kapitalismus zu schaffen? Zahlreich sind diejenigen, die ein Bewusstsein für die durch den Kapitalismus hervorgerufenen Leiden und Katastrophen haben, deren Kritik sich jedoch darauf beschränkt, eine Kontrolle der Kräfte des Marktes in der Hoffnung zu fordern, die öffentlichen Dienstleistungen zu retten und das Allgemeinwohl somit idealerweise durch regulierende staatliche Eingriffe verteidigen zu können. Einige schlagen sogar ein duales System mit einer Marktwirtschaft vor, der sie eine gewisse Leistungsfähigkeit im Bereich der Produktion und Innovation zusprechen. Sie streben danach, diese Wirtschaft unter gewissen Einschränkungen aufrechtzuerhalten, um gleichzeitig die nicht-marktbestimmten Werte prosperieren zu lassen. Anders formuliert denken manche, dass es möglich ist, den Kapitalismus zu zähmen und seinen Profithunger zu kontrollieren.
Hier versteckt sich in unterschiedlicher Ausprägung ein zäher Gegner: Die Idee dass der Kapitalismus, so verwerflich er auch sein mag, am Ende unausweichlich ist. Dass es möglich wäre, ihn zu kontrollieren, zu begrenzen, um mit ihm ein menschlicheres Miteinander entstehen zu lassen. Wenn wir aber beobachten, wie sehr die aktuelle Dynamik des Kapitalismus aus einer brutalen und grenzenlosen Ausweitung des Bereichs von Wert und Profit besteht, ist diese Vision, die vorgibt, die realistischste zu sein, immer weniger realistisch. Der Weltkrieg, den der Kapitalismus gegen die Menschheit und den Planeten Erde angezettelt hat, um die wachsenden Schwierigkeiten der Profitgenerierung zu kompensieren7, beinhaltet es, die Gebiete und die natürlichen Ressourcen, die vorher keinen Marktwert hatten, und die traditionellen Lebensformen, die sich würdevoll außerhalb des Marktes befanden, zu erobern und dem Gesetz des Geldwertes zu unterwerfen8. Er bedeutet, ins Innerste des menschlichen Wesens einzudringen und sich zum Meister der Strukturen des Lebens selbst zu machen. In diesem “Vierten Weltkrieg”, wie ihn Sergio Rodriguez Lascano genannt hat, “dringen sie überall ein, in unseren Körper, unseren Geist, unser Leben.”9 Und trotzdem haben einige weiterhin Sehnsucht nach einem Pakt guter Nachbarschaft mit den Kräften des Marktes, da sie es nicht wagen, die Möglichkeit, sich komplett vom Kapitalismus loszusagen, in Betracht zu ziehen. Dahinter verbirgt sich angesichts der aktuellen Verhältnisse eine Form des Aufgebens, eine Kapitulation, die in einen inkonsequenten Antikapitalismus mündet, den wir als “Kapitulismus” bezeichnen könnten.
Die Zukunft erwecken
Um den Kapitulismus zu besiegen, ist es nötig, sich davon zu überzeugen, dass eine andere Welt möglich ist – aber, wir präzisieren: eine andere Welt ohne Kapitalismus. Dies verpflichtet uns, damit zu beginnen, uns eine postkapitalistische Welt vorzustellen, die von der Tyrannei der Ware und Enteignung unserer Leben befreit ist. An diesem Punkt stoßen wir auf eine Schwierigkeit. Einerseits laufen wir in dem Glauben an diese postkapitalistische Welt Gefahr, auf abstrakte Weise die Pläne einer idealen Gesellschaft zu entwerfen und somit den gleichen Fehler zu machen wie die Avantgarden, die behaupteten, auf wissenschaftlicher Grundlage zu wissen, in welche Richtung die Geschichte voranschreitet und wie die Massen hin zur strahlenden Sonne des Morgen zu führen seien. Heute haben wir verstanden, dass die Zukunft offen ist, dass es ausgeschlossen ist, sie vorherzusagen, denn der alte Antonio hat uns gelehrt, dass der Weg nicht existiert, bevor er begangen wurde10. Heute besteht der rebellische Elan weniger darin, das Ticket für das gelobte Land zu kaufen, als angesichts der kapitalistischen Barbarei vielmehr darin, die ägyptischen Plagen mit einem Ya basta! (dt. Jetzt reicht’s!) hinter sich zu lassen. Aber warum beschränken wir uns auf der anderen Seite selbst und verbieten uns wahrzu-nehmen, was die vollständige Befreiung von der kapitalistischen Bestie bedeuten könnte? Welchen Sinn könnte unser antikapitalistischer Kampf ohne die minimale Vorstellung von dieser postkapitalistischen Welt haben? Die emanzipatorischen Auswirkungen dieser anderen Welt zu erkunden, kann unsere Wut, unseren Wunsch, die Welt der Zerstörung zu zerstören, nur steigern, indem es uns dazu bringt, die Katastrophe, in der wir weiterleben, mit einem wirklich menschlichen Leben zu vergleichen. Zu spüren, dass es möglich ist, den Kapitalismus hinter uns zu lassen, kann uns darüber hinaus auf entscheidende Weise helfen, den Kapitulismus zu überwinden.
Es ist an der Zeit, die Zukunft zu erwecken, mit der immerwährenden Gegenwart des Neoliberalismus zu brechen, welche die Vergangenheit in Vergessenheit versenkt und vorgibt, dass es “keine Zukunft” außerhalb der Wiederholung des immer gleichen heute, heute und immer wieder heute gibt. Es ist an der Zeit, unser Verlangen nach der Zukunft zu erwecken. Ohne, dass dies bedeutete, zu einer Zukunft zurückzukehren, die von der Modernität vorherbestimmt und von ihrem Glauben an die Zwangsläufigkeit des Fortschritts geprägt ist. Es geht weder darum, einen neuen Orakelspruch zu verkünden, noch ein Programm vom Himmel fallen zu lassen, oder die Pläne des irdischen Paradieses zu patentieren. Die utopische Vorstellungskraft, Multiplikator der Wut und Brennstoff des Kampfes, schreitet nicht im Vakuum voran: Sie geht von unserer Ablehnung der Warengesellschaft aus und gründet sich auf konkrete Erfahrungen wie die der zapatistischen Selbstregierung. Sie nährt sich auch von vergangenen emanzipatorischen Prozessen und ihrer Kritik, sowie von einem Wiederaufleben der Traditionen des nicht-kapitalistischen gemeinschaftlichen Lebens, welche über Jahrhunderte hinweg auf allen Kontinenten existiert haben. Die utopische Vorstellungskraft schwirrt nicht am klaren Himmel der uneingeschränkten Wünsche herum; sie baut auf realen Gesellschaftsformen auf und richtet sich zuallererst gegen die Formen, die wir nicht mehr bereit sind, zu unterstützen.
Sicher kann es nur darum gehen, ein Nachdenken zu eröffnen, das notwendigerweise kollektiver Art sein muss und das die Prozesse der Emanzipation nicht zu erzwingen oder zu steuern anstrebt. Diese werden das Werk von Frauen und Männern, von Alten und Kindern aus allen Winkeln des Planeten sein. Sie werden eine Welt entstehen lassen, die nicht vorhersehbar ist; eine Welt, in der viele Welten Platz haben. Vorerst geht es nur darum, einige Hypothesen voranzubringen, die durch alle zu prüfen sind und die in den kollektiven Emanzipationsprozessen zwangsläufig überholt werden. Ferner brauchen wir nicht vollkommen mit dem System einverstanden sein, das auf den Kapitalismus folgen könnte, um uns in Bewegung zu setzen, wie es Gustavo Esteva deutlich machte. Und es wäre katastrophal, wenn uns eine Meinungsverschiedenheit in diesem Punkt davon abhielte, gemeinsam zu kämpfen11. Die Zukunft zu erwecken, bedeutet nicht den Weg im Vorhinein festzulegen. Die Zukunft zu erwecken, erlaubt uns vielmehr, unser Verlangen zu beleben, indem wir zu laufen beginnen und es versorgt uns mit der Energie, dies zu tun. Aus diesem Grund benötigen wir zweifellos einige „Utopie-Arbeitsgruppen“, in denen wir gemeinsam über den Postkapitalismus diskutieren, den wir so dringend erträumen müssen.
Eine Revolution der Zeit
Zu diesem Traum haben die zapatistischen Völker einen außergewöhnlichen theoretischen sowie praktischen Beitrag geleistet, den sie selbst im Zuge der drei Treffen mit den Völkern der Welt zwischen 2006 und 2008 und dann im Rahmen des Festival de la digna rabia (insbesondere in den Beiträgen der Kommandantin Hortensia und des Oberstleutnants Moisés) vorgestellt haben. Die Juntas der Guten Regierung waren und sind kollektive „Schulen der Regierung“, in denen inmitten enormer Schwierigkeiten die Prinzipien des „Gehorchenden Befehlens“ praktiziert wurden und noch immer werden. Es wurden Mechanismen wie die Absetzbarkeit, die Rotation der Posten, sowie ständige Konsultationen eingeführt, um gegen die Distanz zwischen Regierenden und Regierten zu kämpfen, die eines der Leitprinzipien des Staates darstellt.12 Sie haben gezeigt, dass es möglich ist, eine politische Organisation nicht-staatlichen Charakters aufzubauen, in der das Volk seine Fähigkeit zur Selbstverwaltung tatsächlich ausübt, anstatt ihrer durch professionelle Politiker und andere angebliche Experten beraubt zu werden. Aber die Berufspolitiker sind nicht die einzigen Spezialisten, die von den Zapatisten einer scharfen Kritik unterzogen wurden. So entblößt der dritte Wind der würdevollen Wut eine große Anzahl von ihnen – wie die von ihrer Wissenschaft überzeugten Agrarwissenschaftler – und stellte jegliche Form „privater Wissensaneignung“ in Frage.13 Selbst wenn es wahr ist, dass die Arbeitsteilung (insbesondere unter geschlechtsspezifischen Aspekten) nicht im Zuge des Kapitalismus entstanden ist, so hat es doch kein vorhergehendes System geschafft, die Spezialisierung der menschlichen Tätigkeit auf das derzeitige Niveau zu bringen. Und wenn es wahr ist, dass die Vorstellung einer postkapitalistischen Welt zuerst darin besteht, sich eine von der Wertlogik, von der Produktion-für-den-Gewinn und von der Arbeit-für-das-Überleben befreite Gesellschaft zu denken, so impliziert dies auch, es aufzugeben, das kollektive Leben auf einem Prinzip wachsender Spezialisierung zu gründen. Man muss mit der Logik der Arbeitsteilung und mit allen Formen der Trennung zwischen Tätigkeitsbereichen, zwischen Theorie und Praxis, Handarbeit und intellektueller Arbeit, Kopf und Herz, Denken und Fühlen – die gleichsam Hierarchisierungen und Ausschlüsse bedeuten – brechen. Es geht darum, den Weg zu einer Gesellschaft der generalisierten Entspezialisierung zu ebnen, bei der jeder ohne Einschränkungen mehrere Tätigkeitsbereiche und Fachbereiche ausprobieren kann. Dies setzt eine Revolution der Zeit voraus. Es setzt voraus, dass wir uns von der quantifizierten und (unter)drückenden Zeit des Kapitalismus befreien, die auf der Messung der Arbeitszeit in Stunden und dem Kampf der Produktivität gegen die Zeit basiert. Dies setzt voraus, dass wir uns von der „Tyrannei der Uhren“, die der moderne Mensch in sein Innerstes eindringen lassen hat, und von der Diktatur der Beschleunigung befreien, die uns immer höheren Stressniveaus aussetzt und uns unserer Leben enteignet. Gegenüber dem Zeitzwang des Kapitalismus ist eine zeitliche Dekomprimierung unabdingbar. Im Übrigen ist dies eine unentbehrliche Voraussetzung, um eine Entspezialisierung des Tuns und des Seins zu ermöglichen. Eine postkapitalistische Gesellschaft kann nur eine Gesellschaft verfügbarer Zeit sein; anders gesagt, eine Gesellschaft, in der man aufhört, die durch Produktion und Arbeit gemessene und bestimmte Zeit als maßgebend zu betrachten, um einer qualitativen und konkreten Zeit Vorrang zu geben: Die Zeit des (guten) Lebens und des Zusammenseins (aller).
Was würde geschehen, wenn wir anfingen darüber nachzudenken, wie viele Tätigkeiten der Güter- und Dienstleistungsproduktion nur ausgeführt werden, weil sie Profite erzeugen beziehungsweise diese indirekt erlauben, oder weil wir alle eine Arbeit zum Überleben brauchen? Sie erweisen sich doch als teilweise oder vollkommen unnütz und wären es in einer postkapitalistischen Gesellschaft noch mehr; ganz zu schweigen davon, dass sie für den Boden, die Luft, das Wasser, die Pflanzen- und Tierarten und den Menschen zerstörerisch sind. Erstellen wir die frohlockende Liste des Abbaus: Armeen und Militärindustrie, Banken und Versicherungen, Bürokratien und Regierungsapparate, Werbung und Unternehmenskommunikation, ein beträchtlicher Teil des Chemiesektors, der Bau von Bürogebäuden, überdimensionierten Talsperren und unerwünschten Autobahnen und es steht allen offen, diese Liste fortzuführen ... Denken wir an all die Konsumgüter, die in einer Gesellschaft der verfügbaren Zeit durch eine lokale Produktion oder die Eigenproduktion ersetzt werden könnten, um industrielle Lebensmittel abzuschaffen. (Heute geht man soweit, mit Nukleartechnologie betriebene Fabriken zu bauen, um Salate zu desinfizieren und in Plastik zu konservieren, einzig und allein weil die Bürger nicht eine Minute Zeit haben, um einen Salat voller Erde zu waschen, den sie von einem Bauern der Region gekauft haben.) Denken wir darüber nach, was es bedeuten würde, keine Objekte mit programmierter Obszoleszenz, das heißt Mit-dem-Ziel-ihrer-Selbstzerstörung-hergestellte-Güter, mehr zu produzieren und stattdessen wieder haltbare und reparierbare Geräte zu verwenden. Jede Reduzierung in der Güter- und Dienstleistungsproduktion wird Multiplikatoreffekte haben, da die Bedürfnisse nach Gebäuden, Anlagen und vor allem nach Personen- und Gütertransporten dadurch dementsprechend reduziert werden. Das Wegfallen der Wege zwischen Produktion und Konsum, die sich derzeit ebenso absurd ausweiten, wie sie der Ausdruck einer Wertlogik sind (zum Beispiel der Transport eines in China kultivierten Knoblauchs nach Europa oder von Wasser aus den Alpen nach San Cristóbal de las Casas), und die bevorzugte Wahl lokaler Produkte würden dazu beitragen, die Notwendigkeit des Transports noch weiter zu reduzieren und die Kette der Handelsbeziehungen auf ein moderates Ausmaß zurückzufahren. (Dazu würde auch die Disqualifizierung zahlreicher Spitzenprodukte des aktuellen Handels führen) Die Revolution der Zeit und der Verlust des egomanischen Fetischismus Auto würden eine Rehabilitierung der langsamen Verkehrsmittel erlauben und die Stützen des aktuellen Gewichts des Energiesektors in der Weltwirtschaft in erheblichem Maße reduzieren. (Ebenso würde es dazu führen, fossile Energieträger durch erneuerbare zu ersetzen.)14
Wenn man hiervon ausgeht und es als notwendig erachtet, die Grundbedürfnisse aller Menschen zu befriedigen, denen es heute nicht einmal gelingt, sich gut zu ernähren, kann man sich ausrechnen, dass die produktiven Aufgaben und die unentbehrlichen Dienstleistungen (an erster Stelle Gesundheit, des weiteren in bestimmtem Maß Handel, Transport und Kommunikation) in einem Arbeitsumfang realisiert werden könnten, der sich bei gleicher Aufteilung auf zehn bis zwölf Stunden pro Woche beliefe. Ebenso gilt es, die Teilnahme an Aufgaben des Gemeininteresses zu berücksichtigen (zu Teilen und frei übernommen): die Teilnahme an Kommunalräten oder an Juntas der Guten Regierung auf unterschiedlichen Ebenen, an selten zu erfüllenden Polizei- und Justizaufgaben, die notwendig bleiben würden, an der Betreuung und (umfassend entschulten) Bildung der Kinder oder an anderen Aufgaben, die die Kommune oder das Stadtviertel festgelegt haben. Es ist wahrscheinlich, dass die Gesamtdauer 20 bis 24 Stunden nicht überschreiten, also weniger als vier Stunden pro Tag betragen würde.
Wichtiger als die Genauigkeit dieser Kalkulation sind die Proportionen, die sie nahelegt. Sie sind so beschaffen, dass der Lebensrhythmus nicht mehr durch die obligatorische Arbeitszeit erdrückt werden würde (so wie es derzeit der Fall ist, wobei die so genannte Freizeit strukturell der Wiederherstellung der Arbeitskraft und dem Warenkonsum gewidmet ist). Es würde eine Zeit ohne Quantifizierung vorherrschen, die offen dafür wäre, den jeweiligen Interessen und Belangen nachzugehen. In diesem großen Zeitfenster lässt sich ohne Druck oder Unterdrückung alles organisieren: die Haushaltsführung, der Austausch mit den Kindern, mit Familienmitgliedern, Freunden und Bewohnern des Stadtviertels, die Vergnügungen und die Kreativität, der Tatendrang und die Wissbegierden, die Vorliebe einen kleinen Garten zu kultivieren oder elektronische Geräte zu reparieren, zur freien Software beizutragen oder zu tanzen, zu lieben, zu genießen, zu leben und miteinander zu sein. All dies auf Gleichheit beruhend, ohne Hierarchie zwischen Kopf und Körper, Theorie und Praxis, Denken und Fühlen, dem vermeintlichen Gegensatz zwischen männlich und weiblich, um die Möglichkeiten des Tuns und des menschlichen Werdens wiederzuvereinigen und auszuweiten.
Die Dekomprimierung der gelebten Zeit ermöglicht die Entspezialisierung und die Entspezialisierung erhöht wiederum die verfügbare Zeit, da sie die Selbstproduktion und die Selbstbefriedigung von Bedürfnissen erhöht, indem sie die Notwendigkeit reduziert, auf die Arbeit anderer sowie auf Produktionen und Dienstleistungen, die als gesellschaftlich notwendig angesehen werden, zurückzugreifen. Ein anderer tugendhafter Kreis entsteht daraus, dass die Gleichheit der Bedingungen das Gleichgewicht der Fähigkeiten und Kunstfertigkeiten befördert, was wiederum die Gleichheit der Bedingungen verstärkt. All dies eröffnet auf profunder Ebene den Weg zu anderen Subjektivitäten, vielleicht zu so etwas wie einer anthropologischen Revolution, einem anderen Verständnis des Menschen, dem es von nun an unmöglich ist, sich außerhalb der Beziehungen mit anderen Menschen, mit anderen Lebewesen und mit unserer Mutter Erde zu begreifen. Sobald die kapitalistische Notwendigkeit verschwindet, hyperkompetitive und pathologisch aufgeblasene Egos zu produzieren, ermöglicht das konkrete Leben kooperative Subjektivitäten, die sich der Tatsache bewusst sind, dass die gegenseitige Hilfe, die Fähigkeit andere anzuerkennen und ihnen zuzuhören und der Sinn für ein Gleichgewicht zwischen dem Kollektiv und den Einzelnen, die Teil davon sind, die besten Garantien des guten Lebens aller und jedes Einzelnen sind.
Weder Staat noch Produktivismus
Zahlreiche Zweifel durchdringen meine Ausführungen, aber vielleicht befinden sich unter diesen Vorschlägen einige Implikationen für unser Verständnis des antikapitalistischen Kampfes. Dieser verortet seinen Weg “von unten nach links”: Er verläuft nicht durch den Staat. Es geht darum, eine neue Form der nicht-staatlichen Regierung von unten aufzubauen wie es die Juntas der Guten Regierung gemacht haben. Und nichts spricht dagegen, sich eine Erweiterung dieser Erfahrung von Selbstverwaltung auf höheren Ebenen der Koordination oder Föderation, einschließlich der nationalen Ebene, vorzustellen, um die aktuelle Staatsform vollständig zu ersetzen. Möglicherweise haben wir der Frage nach dem Staat zu viel Aufmerksamkeit gewidmet und uns zu wenig mit den Produktionsmitteln beschäftigt. Die fünfte These zu den antisystemischen Bewegungen erinnert daher daran, dass “das Privateigentum an Produktions- und Tauschmitteln der zentrale Kern” des Kapitalismus ist, an dem er angegriffen und besiegt werden muss15. Angesichts dessen, was vorher gesagt wurde, scheint diese Behauptung nicht zu Gunsten einer Übertragung des Besitzes von Produktionsmitteln an den Staat interpretiert werden zu können.
Diese bedeutet für sich keinen Bruch mit dem Kapitalismus, sondern stellt im Gegenteil historisch betrachtet, eine Form der Rettung und sogar ein Mittel der Ausbreitung des kapitalistischen Systems dar. Bei zahlreichen Gelegenheiten unterstrich Oberstleutnant Moisés, dass das Vorgehen der Zapatisten sich darauf konzentrierte, das Land zu nehmen und die Produktionsmittel zurückzuerlangen. Das ist der Boden, auf dem sich die Selbstregierung aufbauen konnte16. Selbstverständlich gehört das Land demjenigen, der es bearbeitet (wenn die indigene Bevölkerung auch sagt, dass unsere Mutter Erde niemandem gehört, und dass wir es sind, die ihr gehören). Aber wem soll die Herstellung von Chemiedünger, von Raketen oder Panzern, wem sollen die Finanzzentren gehören? Wenn wir sagen, dass es nicht darum geht, die Macht des Staates zu ergreifen, dann weil wir verstanden haben, dass dieser eine Struktur darstellt, die zum Funktionieren des kapitalistischen Systems beiträgt. Es geht also nicht darum, sich auf den Präsidentenstuhl zu setzen. Aber sollte es darum gehen, sich auf die Stühle der Administratoren der großen nationalen und transnationalen Konzerne zu setzen?
Wenn wir der Form “Staat” misstrauen, so sollten wir noch triftigere Gründe dafür haben, dem Produktionsapparat zu misstrauen, da er ein weitaus direkterer Ausdruck kapitalistischer Normen ist. Gut bekannt sind die Aussagen, in denen Marx bezüglich der Pariser Kommune unterstreicht, dass die revolutionäre Bewegung “sich nicht damit zufriedengeben kann, den bestehenden Staatsapparat zu übernehmen und ihn für die eigenen Zwecke umzufunktionieren”, sondern dass “sie ihn zerstören” müsse.17 Mit Bezug darauf hat Michael Löwy hervorgehoben, dass es ebenso katastrophal wäre, den existierenden Produktionsapparat in Besitz zu nehmen und in Betracht zu ziehen, diesen für die eigenen Zwecke zu nutzen.18 Da die Struktur dieses Produktionsapparats von Gütern und Dienstleistungen auf das Engste mit der Logik der Kapitalanhäufung und Gewinnerzeugung verbunden ist, ist das schlicht unmöglich. Es ist unmöglich, da die Produktionsmittel heute Mittel der Zerstörung geworden sind, die nicht dem Leben, sondern dem Gewinn dienen, die Raubbau und Enteignung verursachen und den Tod für Menschen und den Planeten Erde bedeuten. Diese verrückt gewordene Maschinerie muss zerlegt und in ihrer derzeitigen Struktur zerstört werden (was voraussetzt, sie den Herren des Geldes zu entreißen), damit es möglich wird, eine andere Form der Güter- und Dienstleistungsproduktion zu erdenken und demokratisch zu entscheiden, welche Produktionsmittel lebensnotwendig sind (wie der Boden eines ist, wenn er nicht durch eine industriellen Normen und Zwecken unterworfene Landwirtschaft pervertiert worden wäre) und welche in eine andere Richtung gelenkt oder gänzlich aufgegeben werden müssen.
Es geht darum, eine Form der Selbstverwaltung aufzubauen, die nicht die Form des Staates reproduziert; eine Produktionsform aufzubauen, die nicht der aktuellen Logik eines versklavenden und räuberischen Wachstums folgt. Damit sind zwei Punkte aufgeführt, die uns von den dominierenden Positionen der anti-systemischen Bewegungen des 20. Jahrhunderts unterscheiden. Sie deuten auf einen nicht-staatlichen und nicht-produktivistischen Antikapitalismus hin. Es liegt nahe, eine weitere Charakteristik hinzuzufügen: Den Eurozentrismus überwinden und akzeptieren, dass die aufklärerische Moderne nicht die einzige mögliche Wurzel der Kämpfe für Emanzipation ist. Ihre nicht gehaltenen Versprechen laden vielmehr dazu ein, sie in Frage zu stellen. Eine schöpferische Konfrontation mit anderen kulturellen Traditionen ist vielleicht die beste Chance, um zu versuchen, die originären Schwächen der Moderne, die individualistische Konzeption der Person und das instrumentelle Verhältnis zur Natur zu überwinden. Es gilt zuzugestehen, dass der egalitäre Impuls in gesellschaftlicher wie politischer Hinsicht nicht das Monopol einer einzigen Kultur ist, sondern dass er ein Gemeingut der würdigen Menschheit darstellt; aller Völker der Erde, die im Laufe der Geschichte nicht aufgehört haben, zu rebellieren und Herrschaft und Ausbeutung nicht hinzunehmen.19 Deshalb muss der Postkapitalismus interkulturell sein: Es gibt nicht nur eine einzige Art und Weise, eine vom Kapitalismus befreite Welt aufzubauen, sondern eine Vielzahl von Optionen, die von verschiedenen Erinnerungen und Traditionen ausgehen und geeignet sind, sich gegenseitig zu bereichern. Das ist es, wovon wir träumen, von einer Welt, die zahlreiche Welten umfasst.
Wir sprechen von einem nicht-staatlichen, nicht-produktivistischen und nicht-ethnozentrischen Anti-Kapitalismus, der einen Postkapitalismus der Autonomien eröffnet; einen Postkapitalismus des guten Lebens für alle, für das die indigenen Völker der Abya Yala ihre Fahne hochhalten; einen Postkapitalismus des Gleichgewichts aller Unterschiede, zwischen den Menschen wie zu den anderen Wesen, die auf der Erde leben. Dieser Traum, der insbesondere von den indigenen Völkern, darunter den Zapatisten, verteidigt wird, erweckt die emanzipatorischen Hoffnungen der Vergangenheit wieder. Aber auf der Suche nach einer noch unvorstellbaren Erfahrung zeigt sich zur gleichen Zeit ein neuer Weg mit Möglichkeiten von Würde und fröhlicher Schönheit.
*Den hier abgedruckten Vortrag hielt Jérôme Baschet am 30. Dezember 2009 in San Cristobal de las Casas auf einer durch das CIDECI (Indigenes Zentrum für ganzheitliche Bildung) organisierten Konferenz anlässlich der Veröffentlichung des Buches Planeta Tierra: Movimientos antisistémicos (Planet Erde: antisystemische Bewegungen). Das Buch selbst ist das Ergebnis eines ersten Kolloquiums, das zwei Jahre zuvor im Dezember 2007 zu Ehren des Anthropologen und Historikers André Aubry stattfand, der sein Leben dem Studium der Verhältnisse in Chiapas gewidmet und die Entwicklung der indigenen Gemeinschaften begleitet hat.
1 Siehe Naomi Klein, La stratégie du choc: la montée d‘un capitalismus du désastre, Arles, Actes Sud, 2008.
2 Es handelt sich um Thesen, die Teil einer Reihe an Überlegungen sind, die im Rahmen des ersten internationalen Kolloquiums “Planeta Tierra: Movimientos antisistémicos” (dt. Planet Erde: antisystemische Bewegungen) zu Ehren André Aubrys, und dann auf dem Festival mondial de la digne rage (dt. Weltweites Festival der würdigen Wut) angestoßen wurden. Die Beiträge des Subcomandante Marcos im Rahmen dieser zwei Begegnungen sind unter dem Titel Saisons de la digne rage, Paris, Climats, 2009 auf Französisch veröffentlicht worden.
3 Aufständischer Subcomandante Marcos, Saisons de la digne rage, S. 63.
4 Beiträge im Rahmen des weltweiten Festivals der würdigen Wut in Saisons de la digne rage, S. 194-203 und 210-215.
5 Die „Sexta Declaracion de la Selva lacandona“ (dt. Sechste Erklärung aus dem Lakandonischen Urwald) wurde im Juni 2005 von der EZLN (Ejército Zapatista de Liberación Nacional, dt. Zapatistische Armee der Nationalen Befreiung) nach mehrmaligem Scheitern der Verhandlungen mit den Autoritäten des Staates veröffentlicht. Sie kennzeichnet den Bruch mit jeglichem Versuch, mit einer institutionellen politischen Macht ein Bündnis einzugehen (was die Formel „unten links“ zusammenfasst) und besteht zum ersten Mal auf dem fundamental antikapitalistischen Charakter des Kampfes. Man kann sie und die Historie der Bewegung in verschiedenen Sprachen auf der Seite enlacezapatista.ezln.org.mx/camino-andado/ nachlesen. 6 Marshall Sahlins hat auf sehr schöne Weise gezeigt, wie die Darstellung einer egoistischen und antisozialen menschlichen Natur eine der europäischen Kultur eigene Besonderheit, anders ausgedrückt, eine „westliche Illusion“ darstellt: Indem der Mensch nach dem Bilde des Kapitalismus und zu dessen Entsprechung entworfen wird, kann sich der Kapitalismus als das „Natürlichste“ und als am ehesten an alle Systeme angepasst zeigen (Marshall Sahlins, The Western Illusion of Human Nature. With Reflections on the long history of Hierarchy, Equality and the Sublimation of Anarchy in the West, and Comparative Notes on Other Conceptions of the Human Condition, Chicago 2008). Sich von dieser Darstellung der menschlichen Natur loszusagen, ist eine unerlässliche Aufgabe für den antikapitalistischen Kampf.
7 Vergessen wir nicht, dass die Ausmaße der Weltwirtschaft ein exponentielles Wachstum verzeichnen, so dass es zunehmend problematisch ist, herauszufinden, wie die Überschüsse und die in ihrer Menge wachsenden Vermögen absorbiert werden können. Zu den Schwierigkeiten und Grenzen, auf die der Kapitalismus stößt, ohne dabei seine Fähigkeit auszuschließen, sie zumindest mittelfristig zu überwinden, siehe Anselm Jappe, „Crédit à mort“, Lignes, 30, 2009, S. 25-44.
8 Es geht hier darum, was Jean Robert „den Krieg gegen die Existenz“ nennt, in Crisis: el despojo impune. Como evitar que el remedio sea peor que el mal, San Cristobal de las Casas, 2009, 4. Kapitel.
9 “El Biopoder: la moral de los de arriba”, Primer Coloquio…, S. 205. Das Konzept des Vierten Weltkrieges (um die neoliberale Phase des Kapitalismus zu beschreiben) ist durch den Subcomandante Marcos insbesondere im Artikel „La quatrième guerre mondiale a commencé“, Le Monde Diplomatique, August 1997, vorgestellt worden.
10 Der alte Antonio ist eine der Hauptpersonen, die in den Erzählungen des Subcomandante Marcos auftaucht; siehe Los relatos del viejo Antonio, San Cristobal de las Casas, CIACH, 1998.
11 Es geht nicht darum, einen Vorschlag zu erarbeiten oder die Welt zu gestalten, sondern nur darum, den Raum der Möglichkeiten zu erkennen, der sich durch die Zerstörung der Bestie Kapitalismus eröffnet; ein Raum, in dem sich viele „Jas“, eine Vielzahl von Welten bilden können (Anmerkung: „eine Welt, in der viele Welten Platz haben“, un mundo en donde quepan muchos mundos, ist eine der charakteristischen Formeln der zapatistischen Bewegung). Ich entleihe diesen Ausdruck der „Utopistik“ von Immanuel Wallerstein, Utopistica o las opciones historicas del siglo XXI, Mexiko, 1998. Siehe ebenfalls Fredric Jameson, „L’utopie comme méthode“, Contretemps, 20, 2007, S. 61-70 (und Archeologies of the Future, London, 2007), ein Aufsatz, in dem er die Unterscheidung zwischen einem „utopischen Programm“ (wie das von Charles Fourier) und „utopischen Elan“ (der Inspiration Ernst Blochs folgend) macht und den zweitgenannten weder als verschlossen noch als vordefiniert beschreibt.
12 „Agenda y sentido de los movimientos antisistémicos”, Primer Coloquio …, S. 57: ein Kampf, der als mehrheitlich und offen begriffen wird, „erfordert keine vorhergehende Zustimmung zur Ordnung, die daraus resultieren wird ... Die utopischen Ausarbeitungen haben einen klaren Wert, aber es ist absurd anzunehmen, dass die Einigung auf eine von ihnen eine Voraussetzung ist, um den Kampf zu realisieren“.
13 Bezüglich der Analyse der zapatistischen Selbstregierung möchte ich gerne auf meine Präsentation in Subcomandante Marcos, Saisons de la digne rage, S. 7-42 verweisen (und für eine Präsentation der gesamten zapatistischen Bewegung auf Jérôme Baschet, La rébellion zapatiste. Insurrection indienne et résistence planétaire, 2. erweiterte Ausgabe, Paris, Champs-Flammarion, 2005).
13 Saisons de la digne rage, S. 182-190.
14 All dies umfasst kollektive Entscheidungsinstanzen und -mechanismen, mit denen bestimmt werden soll, welches die Produkte und Dienstleistungen sind, die man als sozial notwendig betrachtet. Die Entscheidungen werden nicht einfach sein; sie werden von einer zur anderen Region variieren (was es mit sich bringt, auf ein gewisses Gleichgewicht zu achten) und sich im Laufe der Zeit ändern. Man kann nur zwei mögliche Entscheidungskriterien anführen: Eines ist die ökologische Auswirkung jeder Produktion und jeder Dienstleistung, in die alle Konsequenzen von der Gewinnung der notwendigen Materialien bis hin zur Menge der produzierten Abfälle eingeschlossen sind; dies kann dazu führen, dass man bestimmte Produktionsweisen als nicht haltbar erachtet. Ein anderes Kriterium besteht darin, die Nützlichkeit, die sich aus dem jeweiligen Produkt bzw. der jeweiligen Dienstleistung in Zusammenhang mit der entsprechenden Arbeitsbelastung ergibt, abzuwägen (eingeschlossen die indirekten Arbeiten der Distribution, der Abfallverwaltung, etc.). Statt einer Korrelation zwischen Investition und Profit wie im aktuellen System hätten wir also eine Korrelation zwischen dem Nutzwert auf der einen und der aufgeopferten menschlichen Zeit und dem ökologischen Schaden auf der anderen Seite. Es ist wahrscheinlich, dass auf der Basis dieser Kriterien Produktionen zweifelhafter Nützlichkeit abgeschafft werden würden, da die verfügbare Zeit als eines der wertvollsten Güter und als Grundlage der gemeinsamen Welt und des guten Lebens betrachtet werden würden.
15 Saisons de la digne rage, S. 63.
16 Insbesondere in der Zusammenfassung des Ersten Treffens der zapatistischen Völker der Welt (Oventic, 2. Januar 2007). Siehe auch Saisons de la digne rage, S. 105-106.
17 Er muss “ihn zerstören” um eine Ordnung der „kommunalen Selbstregierung“ zu etablieren und „dem gesell-schaftlichen Organismus alle Kräfte zurückzugeben, die zuvor vom parasitären Staat, der auf Kosten der Gesellschaft gedeiht und deren freie Bewegung beeinträchtigt, absorbiert worden sind.“: Karl Marx, La guerre civile en France, Paris, 1957.
18 Michael Löwy, „Pour une éthique écosocialiste“ (auf verschiedenen Internetseiten verfügbar).
19 Dias rebeldes. Cronicas de insumision, Barcelona, Octaedro, 2009. Der gesellschaftliche Egalitarismus charakte-risiert sich durch die Verweigerung der Ungleichheit zwischen Reichen und Armen und manifestiert sich in zahlreichen Rebellionen aller Kontinente durch die Zustimmung der Produzenten zum kollektiven Besitz an Produktionsmitteln. Der politische Egalitarismus definiert sich durch die Teilnahme aller an der Entscheidungsfindung und manifestiert sich in den Formen bäuerlicher gemeinschaftlicher Demokratie, die bei den indigenen Völkern der Abya Yala ebenso wie bei den Bauern Europas, Afrikas und Asiens und auch bei den Landwirten und den Jägern und Sammlern von Melanesien und Ozeanien existieren bzw. existiert haben. Er zeigt sich auch in den städtischen Kommunen wie der von Paris und in Arbeiter-, Bauern- und Soldatenräten, die in mehreren Ländern Europas zwischen 1905 und 1921, dann von 1936 bis 1937 in Katalonien und noch in Vietnam 1945 entstanden waren. Man kann eine Kontinuität der Prozesse und des Geistes zwischen der Praxis der gemeinschaftlichen bäuerlichen Versammlungen und der Konstruktion einer nicht-staatlichen politischen Organisation, die auf der Form eines Rates basiert, ausmachen: Sie teilen einen gleichen politischen Egalitarismus, den man auch als Demokratie oder Selbstregierung bezeichnen kann.