Gespräche über den Höhepunkt der modernen Zeiten

sempruna

Illustration: Azul Azul

Übersetzung: Marian Krause

[...]


KALLE


Das geht mir ein bisschen zu schnell. Ich würde gerne noch einmal auf unsere Ausgangsfrage zurückkommen: Ist man dumm, sobald man Verallgemeinerungen äußert?

ZIFFEL


Das ist der Moment, den alten Marx zu zitieren: „Je nachdem“. Aber Sie sind es doch, der es sehr eilig hat. Sie vereinfachen das Problem, noch bevor Sie es richtig aufgeworfen haben. Man könnte zunächst einmal fragen: Ist man dumm, sobald man über etwas redet, das man gar nicht kennt. Nicht wahr?

KALLE


Machen Sie sich nicht über mich lustig! Ich teile ihren Sinn für das systematische Paradox nicht. Ich bin lediglich in der Lage, das Offensichtliche zu erkennen.

ZIFFEL


Regen Sie sich nicht auf! Das Offensichtliche wird nur zu leicht übersehen. Wenn es stimmt, dass man dumm ist, sobald man über etwas redet, das man nicht kennt, dann sehen Sie schon die unendlichen gedanklichen Weiten, die sich einem durch diese intellektuelle Technik erst erschließen. Ein Territorium, das mit jedem Tag wächst, wie Sie sicher selbst bemerkt haben. Früher verfügte jeder Mensch über eine bestimmte Menge von gesicherten und unmittelbaren Kenntnissen, mithilfe derer er sich vernünftig ausdrücken konnte. Selbst wenn er in allen anderen Bereichen vollkommen daneben lag. Eine Tendenz, die sich nebenbei gesagt nicht nur bei den ärmeren Menschen in den unteren Schichten unserer Gesellschaft beobachten lässt.

KALLE


Der Unterschied ist, dass diese Tendenz bei den ärmeren Menschen schwieriger zu erklären ist, da sie nicht das geringste Interesse daran haben. Es ist hingegen durchaus nachvollziehbar, dass es für die Reichen von Interesse ist, sich in allem, was ihre eigenen Angelegenheiten betrifft, als ausgesprochen vernünftig zu erweisen, während ihnen alle Vernunft abhanden kommt, sobald es sich um Angelegenheiten der Allgemeinheit handelt.

ZIFFEL


Die Reichen verstehen aber nicht nur etwas von ihren eigenen Angelegenheiten. Sie können auch sehr einfallsreich werden, wenn es um ihr persönliches Vergnügen geht. In diesem Bereich besitzen sie Erfahrungen, die wir zu erlangen nicht einmal die Gelegenheit hatten. Zumindest besaßen sie diese bis ...

KALLE


In der Tat sind dies Erfahrungen, über die wir nur ein sehr indirektes Wissen haben. Die Probleme des Müßiggangs, des Luxus, der feinen Sitten und all die Feinheiten, die damit zusammen hängen, all das hat bisher zu wenig Leute betroffen, als dass wir uns eine konkrete Vorstellung davon machen könnten. Aber offensichtlich finden sich unter diesen Menschen die meisten derjenigen Individuen, die befähigt sind, schriftlich zum Ausdruck zu bringen, was sie erlebt und empfunden haben. So selten Erfahrungen dieser Art im realen Leben vorkommen mögen, so findet man sie doch zu Hauf in der Literatur vertreten. Das Schlimmste ist, dass die unterschiedlichsten Menschen durch die Macht des geschriebenen Wortes – und sei es auch nur mit einem bisschen Talent verfasst – überzeugt davon waren, dass die in der Literatur beschriebenen Situationen und Probleme ihre eigenen seien. Sie nahmen sie an, statt einen Skandal daraus zu machen und dagegen zu rebellieren, dass diese gerade nicht ihre waren. Es gibt sicherlich ein paar Dummköpfe, die diesen Schriftstellern, die ihrerseits das Glück hatten, nicht in einer Fabrik arbeiten zu müssen, vorwarfen, nicht davon gesprochen zu haben, was sie nicht kennen. Ich bin einmal dazu gekommen, ein paar Seiten von Proust zu lesen. Ich kann nicht sagen, dass mir das wirklich gefallen hat. Es machte mir zu sehr den Eindruck dieser Behinderten, deren Sensibilität sich erzwungenermaßen spezialisiert und für den Sinn ausprägt, der ihnen bleibt. Etwa wie das Gehör bei einem Blinden. Ich erinnere mich an einen Kellner, als ich mir einmal ein großes Frühstück im Restaurant gegönnt hatte: Dieser Typ war außergewöhnlich gut darin, zu erraten, was du bestellen würdest, noch bevor du ihm ein Wort gesagt hattest. Der Höhepunkt war, als er den Wagen mit den Konditorwaren vor mich schob. Ich betrachtete das Ganze, sah mir die Waren dann etwas genauer an und mein Blick blieb einen kurzen Moment an einer Maronentorte hängen, die mich besonders ansprach. Noch bevor ich den Mund öffnete, schnitt er mir ein Stück davon ab. Ich habe mich oft gefragt, ob diese feine Beobachtungsgabe, mit der er sein Fach krönte, zu bewundern oder ob es im Gegenteil zu bedauern ist, dass sie nur im Rahmen eines solchen Berufes zum Einsatz kommt. Nun, mit Proust ist es ähnlich: Ich frage mich immer, ob man die feine Beobachtungsgabe, mit welcher dieser Situationen und Gefühle analysiert, bewundern soll oder ob es im Gegenteil zu verurteilen ist, dass sie auf den Rahmen einer so begrenzten und speziellen Lebenserfahrung beschränkt geblieben ist. Aber am Ende brauchte es vielleicht die Beschränktheit, um diese Tiefe zu haben. Und wenn das Ergebnis für jemanden, der acht Stunden am Tag arbeitet, nicht von Interesse ist, dann ist es aus meiner Sicht die Schuld der Arbeit und nicht die von Proust.

ZIFFEL


Es ist erstaunlich, dass Sie Proust so schnell als Bediensteten identifiziert haben. Leute, die wesentlich mehr von ihm gelesen haben als Sie, sind zu der gleichen Schlussfolgerung gelangt und sahen in einer Art dienender Neugier gewissermaßen den Motor seiner Sozialsatire. Er hat auf seine Weise die Sicht des Kammerdieners erhalten. Aus dieser Sicht hat er eine gesellschaftliche Klasse beschrieben, die nichts weiter als falsche große Männer hervorbracht hat. Er selbst war ein großartiger Beobachter, dem kein Detail dieser armseligen Realität entging. Aber was Sie über das geschriebene Wort sagten – darüber, wie eine überzeugende Beschreibung bestimmter Gefühle die der Leser verändert, indem sie sie mit einem Interpretationsmodell versorgt, dass sie vermeintlich auf sich anwenden können – erinnert mich sehr an die Psychoanalyse. Jemand bemerkte mit Bezug auf Freud einmal völlig zu Recht, dass die Traumdeutung in der Tat eine Autobiografie, eine wahre Suche nach der verlorenen Zeit in Verkleidung einer wissenschaftlichen Abhandlung gewesen sei. Und dass sie die Politik neutralisierte, indem sie auf psychologische Kategorien reduziert wurde. Von diesem Moment an glaubten Millionen von Menschen, dass ihr Leben hauptsächlich davon bestimmt sei, wie man ihnen in frühester Kindheit das Fläschchen gehalten oder ihnen einen Klapps auf den Po gegeben habe. Jeder sollte fortan versuchen – mit Hilfe eines gut bezahlten Spezialisten, natürlich – die in seinen geheimsten Intimitäten, den Tiefen seines Unbewussten, in seinen Träumen usw. verborgene Wahrheit zu ergründen. Weit davon entfernt, dem „Dämon einen Riegel vorzuschieben“, trug Freud so sogar dazu bei, den Dämon im Hause der Leute zu halten.

KALLE


Sie sind wieder einmal in eine Ihrer Abschweifungen verfallen.

ZIFFEL


Keineswegs und ich werde es Ihnen beweisen. Die Psychoanalyse holt die Leute aus dem Bereich des Öffentlichen, wo die Vorstellungen nachvollziehbar sind. Sie bringt sie dazu, anzunehmen, dass sie sich zunächst einmal von ihrer Vergangenheit lösen müssen, indem sie ihr eine Erklärung aufzwängen, die ihrerseits gänzlich unüberprüfbar ist. Freud ist zweifellos der Einzige, dem diese Methode je etwas genutzt hat. Und das aus gutem Grund. Sie hat ihm ermöglicht, seine subversiven Ambitionen dem „Größenwahn“ zuzuschreiben und diesen wiederum dem häufigen Bettnässen in seiner Kindheit.

KALLE


Was soll das heißen?

ZIFFEL


Dass er ganz einfach ins Bett gemacht hat. Kurz gesagt, dieser Roman über die Ursprünge war eine bequeme Art, sich für seinen eigenen Glaubensabfall zu rechtfertigen, insbesondere für die Zugeständnisse und Kinkerlitzchen, die nötig waren, um den antisemitischen akademischen Autoritäten im Wien seiner Zeit zu schmeicheln. Zumindest hat ihm das ermöglicht, Freud zu werden, was erstmal nicht verkehrt ist. Man muss dennoch bemerken, dass diese Art, sich von den Ansprüchen seiner Jugend zu lösen, indem man sie durch die psychologische Mühle jagt, im Keim eines der wichtigsten Ergebnisse der Psychoanalyse selbst enthält. Nämlich dazu verholfen zu haben, dass ebenso präzise wie nützliche Begriffe wie feige, verlogen, würdelos etc. so gut wie außer Gebrauch kamen. Und um auf die Dummheit zurückzukommen, es ist kein Zufall, dass die Psychoanalyse von jemandem begründet wurde, der es ablehnte, zu verallgemeinern und von dem auszugehen, was er mit vielen anderen gemein hatte. Beispielsweise als Jude, der verfolgt wird, oder wenigstens als jemand, der Schikanen ausgesetzt ist und davon träumt, sich zu rächen. Sondern im Gegenteil: Sie wurde von jemandem begründet, der verallgemeinerte, was ihm das Persönlichste war. Beispielsweise, dass der Verlust des Vaters das wichtigste Erlebnis im Leben eines Mannes sei. Man kann also sagen, dass die Psychoanalyse, und davon kann sich in der Mehrzahl der alltäglichen Gespräche jeder selbst überzeugen, einen wesentlichen Beitrag zur modernen Verdummung geleistet hat.

KALLE


Ist das nicht ein bisschen so, als würde man Marx die Schuld für die Gulags anlasten?

ZIFFEL


Gewiss, er wollte nichts dergleichen. Als er in den Vereinigten Staaten ankam, glaubte er sogar, „die Pest mitzubringen“, wie er sagte, also mehr Bewusstsein als es die geltende soziale Ordnung zuließ. Dennoch entsprachen die Ergebnisse in nahezu allen Punkten dem genauen Gegenteil seiner Erwartungen. Der Konformismus der sexuellen Befriedigung und des Glücklichseins auf Befehl haben neue Schuldgefühle erzeugt. Die Illusionen der bürgerlichen Gesellschaft wurden gerettet und erneuert durch die Selbstgefälligkeit, mit der jeder einzelne mit den gleichen Argumenten seine psychologische Einzigartigkeit zur Schau stellt. Und schlussendlich wurde die persönliche Vergangenheit, mit der es ursprünglich abzurechnen galt, das Objekt eines ewigen Grübelns.

KALLE


„Die Krankheit unserer Zeit ist die Diagnose.“ Aber wenn Sie sagen, dass es keinerlei Sinn hat, sich um ein bewussteres Denken zu bemühen, weil es nichts an unserer wirklichen Lage ändert, dann übertreiben Sie vielleicht ein bisschen. Würde man nur dann denken, wenn es direkte Auswirkungen auf die Wirklichkeit hätte, würde man nicht sehr oft denken.

ZIFFEL


Wenn ich das richtig verstehe, dann werfen Sie der Psychoanalyse vor, den Menschen zur Dummheit zu verhelfen; also über Dinge zu sprechen, die man niemals wirklich wissen kann, darüber, warum man nun so ist oder so ... Was mir daran am meisten missfällt, ist die Idee, dass jeder seine familiäre Vergangenheit lebenslang mit sich herumschleppt und dass er darin seine eigene kleine Wahrheit entdecken soll. Wofür denn? Das frage ich Sie. Mir kam dieses berühmte Gebot „Kenne dich selbst.“ schon immer verdächtig vor, wie so eine Pfaffenweisheit, um die Menschen mit illusorischen Ansprüchen irrezuführen und davon abzuhalten, in der realen Welt zu handeln. Und diese reale Welt ist es doch, in der die Kräfte, die der Vergangenheit Gewicht verschaffen, wirken und in der man sie nutzen kann.

KALLE


Heutzutage ist die Last der Zukunft vielleicht noch viel schwerer zu tragen, als die der Vergangenheit. Ich habe einen tschechischen Schriftsteller gelesen, der sagt: „Wenn Panzer vergänglich sind, dann währt die Birne ewig“. Er beschrieb damit den Gedanken, dass es Realitäten gibt, auf die Staatslügen keinen Einfluss haben. Doch gleichzeitig wird deutlich, dass er die kommerzielle Lüge, die heimlich an der Realität der Birne, des Bieres und von nahezu allem nagt, kaum sah oder sich scheute, sie zu sehen. Daran liegt es, dass die Dummheit so viele neuartige Formen annehmen und Wirklichkeitsbereiche vereinnahmen kann, die ihr früher geradezu verboten gewesen wären, weil man über genügend belegbares Wissen dazu verfügte. Und um nochmal auf das Problem zurückzukommen, das Sie vorhin erwähnten: das Problem des Luxus und der begrenzten Vorstellung und Erfahrung, die wir davon haben. Dieses Problem wird bei dieser Gelegenheit gleich mit gelöst: Heutzutage hat niemand mehr die Mittel, um wie ein Bourgeois aus dem 19. Jahrhundert zu leben. Selbst wenn man über ausreichend Geld verfügt, wird es immer schwieriger, die entsprechenden Zutaten für diese Art von Lebensstil auf dem Markt zu finden.

ZIFFEL


Ihrer Ansicht nach löst sich das Problem also auf eine Weise, die dem genauen Gegenteil unserer Erwartungen entspricht: Nicht etwa weil Luxusprobleme heutzutage jeden betreffen, sondern weil sie fast niemanden mehr betreffen. Daran ist ohne Zweifel etwas Wahres, ich glaube aber weiterhin, dass ein zwielichtiger Bankier, wenn Sie mir diesen Pleonasmus gestatten, der hunderte Millionen scheffelt, indem er ein paar Freunde im Ministerium anruft, besser gestellt ist und sich eher eine Vorstellung von Luxus macht als ich.

KALLE


Dennoch geht von diesem Wissen und von jeglichem Wissen wie der Kultur selbst etwas aus: Welchen Sinn wir diesem abgegriffenen Wort auch geben – um von Kultur zu sprechen, braucht es eine Sache, die es zu kultivieren gilt, eine Persönlichkeit, einen Charakter. Zu fragen, ob jemand wie Ihr Bankier eine solche Persönlichkeit besitzt, ist wohl eher ein schlechter Scherz. Diese Leute sind nicht nur unfähig, sich die Verschwendungssucht in ihrem Leben unerschrocken einzugestehen, sondern sie können sich aufgrund ihrer Lebensweise auch sonst sehr viel schlechter etwas eingestehen, als der Rest der Menschheit. Ganz im Gegensatz zu uns, die wir in diesem Moment unerschrocken vor unserem schlechten Bier sitzen.

ZIFFEL


Ich habe in unserem Fall nichts dagegen, statt von „einem kurzen Plausch“ von einem „unerschrockenem Eingeständnis der eigenen Verschwendungssucht“ zu sprechen. Aber ich glaube, noch unerschrockener wäre es, wenn wir dazu ein gutes Bier tränken. Ihre Geschichte erinnert mich etwas zu sehr an die Geschichte vom Brot und der Brioche: Man hat uns das Notwendige genommen, aber wir sollen uns glücklich schätzen, dass man uns das Überflüssige gelassen hat. Das gilt erst recht, wenn man uns ein Madeleine-Törtchen lässt, bei dem man sich heute fragt, ob es eine Kindheitserinnerung hervorrufen soll oder, ob man eher einen Vorgeschmack auf die Zukunft riskiert?


... Fortsetzung folgt