„Flüchtlingskrise“ in Deutschland – Was ist das?
Abweichende Überlegungen zu „Flüchtlings-krise“ und „Willkommens- kultur“ in Deutschland
Menschen verlassen ihre Heimat aufgrund von materieller Existenznot, Umweltzerstörung und Krieg. Das ist ganz und gar kein neues Phänomen. „Flüchtlingskrise“ in diesem brutalen Sinn herrscht vielmehr seit über 60 Jahren und gehört zur ökonomischen und politischen Verfassung der herrschenden Weltordnung offenbar systematisch dazu. Davon jedenfalls gehen die maßgeblichen Staaten ganz selbstverständlich aus, wenn sie – bereits kurz nach dem Zweiten Weltkrieg – in Form der Genfer Flüchtlingskonvention und dem UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR – den künftigen zwischenstaatlichen Umgang mit dem menschlichen Elend ihrer internationalen Konkurrenz verabreden. Und daran hat sich 25 Jahre nach dem Kalten Krieg und dem Sieg über das realsozialistische „Reich des Bösen“ nichts verbessert – im Gegenteil!
Die alte europäische Flüchtlingspolitik
Dass viele der Flüchtenden versuchen, Europa und besonders die wenigen erfolgreichen Staaten Deutschland, Frankreich, England und Schweden zu erreichen, ist ebenfalls seit Jahren so. Die Regierungen der Bundesrepublik begegneten der unerwünschten Zuwanderung seit den 1990er Jahren vor allem mit einem migrations- und asylpolitischen Maßnahmenbündel aus Abschreckung, Abwehr und Abschottung. Und sie setzten ihre flüchtlingspolitischen Ansprüche europaweit so kompromisslos durch, dass das Staatenbündnis seitdem auch den Beinamen „Festung“ trägt.
Insbesondere mit der so genannten Dublin-Verordnung verpflichtet die Bundesrepublik die Länder an der Süd- und Ostgrenze der EU auf die Registrierung, Internierung und Rücknahme jener Flüchtenden, die dort zuerst das Hoheitsgebiet des Bündnisses betreten. Die beabsichtigte Folge: Deutschland wälzt erstens die humanitären Kosten seiner weltweiten Erfolge auf die europäischen „Partner“ ab, umgibt sich zweitens mit „sicheren Drittstaaten“ innerhalb und außerhalb der EU und stiftet so drittens bei diesen „Transitländern“ das ureigene Interesse an einer möglichst effektiven Grenzsicherung gegen Flüchtende, die ja ursprünglich nicht zu ihnen, sondern nach Nord- oder Westeuropa wollten.
Die unvermeidliche Konsequenz sind über 30.000 Tote und hoffnungslos überfüllte Aufnahmelager an den EU-Außengrenzen in den letzten 20 Jahren. Das alles war und ist nach Auffassung deutscher Führungskräfte in Politik und Presse keine Flüchtlingskrise. Vielmehr gilt bis zum Spätsommer 2015 in der Bundesregierung die Sprachregelung, dass die Situation der Flüchtenden zwar bedauerlich, die Ursachen aber entweder bei „kriminellen Schleuserbanden“, welche die Menschen „mit falschen Versprechen aufs Meer locken“ oder aber in „Misswirtschaft, Korruption, Terror und Despotie“ der Herkunftsländer zu suchen seien – jedenfalls nichts mit der westlichen Weltordnung, dem Weltmarkt und der deutschen Rolle darin zu tun haben. Außerdem gebe es „nun mal“ europäische Regelungen beim Umgang mit den Flüchtenden (Stichwort Dublin-Verordnung) und daran habe sich jedes Land zu halten. Deutschland könne jedenfalls beim besten Willen nicht „für das Elend der gesamten Welt“ die Verantwortung tragen.
Eine Flüchtlingskrise gibt es regierungsamtlich erst seit dem Spätsommer 2015. In diesem Jahr zeichnet sich immer stärker ab, dass die Flüchtenden es trotz aller Abwehrmaßnahmen in immer größerer Zahl schaffen, die EU lebend zu erreichen. Und nicht nur das: Sie kommen nach Zentraleuropa und wollen vorzugsweise nach Deutschland. Seitdem (!) spricht die Bundesregierung von einer Flüchtlingskrise und hat die Zahl von einer Million zu erwartenden Flüchtlingen für dieses Jahr in die Welt gesetzt. Die von der Kanzlerin ausgerufene „Flüchtlingskrise“ ist also nicht mit dem Leid der Flüchtenden zu verwechseln – in ihr geht es nicht um die Probleme der Flüchtenden, sondern um die Probleme der BRD mit den Flüchtenden.
Die bisherige Flüchtlingspolitik der BRD gilt als „gescheitert“ – Warum?
Dass die Opfer der ökonomischen Weltmarkterfolge Deutschlands und der westlichen Weltordnung durch die EU-Außenstaaten und das Dublin-Verfahren bisher zuverlässig von der Mitte Europas (Deutschland, Frankreich) ferngehalten wurden bzw. schnell zurückgeschickt werden konnten, funktioniert offenbar nicht mehr. In diesem Sinne ist die bisherige Flüchtlingspolitik aus Sicht der deutschen Regierung „gescheitert“ (Angela Merkel). Aber warum?
Zunächst einmal sind die vielen Flüchtenden weltweit Ausdruck der politischen und ökonomischen Weltlage. Immer neue Rekorde der Flüchtlingszahl (2014 waren es global 59,5 Millionen) zeugen von der zunehmenden Ruinierung weiter Weltgegenden.
a) Herkunftsländer:
In vielen Herkunftsstaaten Afrikas und Asiens hat der Einbezug der ehemaligen Kolonien in den Weltmarkt die Lebensgrundlagen großer Bevölkerungsteile zerstört. Weder die kleinbäuerliche Landwirtschaft oder Fischerei noch die wenigen Industrie-Unternehmen sind der Konkurrenz auf dem Weltmarkt dauerhaft gewachsen; oft werden die bisherigen Bewohner und Nutzer des Landes auch schlicht vertrieben, weil Plantagenwirtschaft, Rohstoffgewinnung oder Tourismusindustrie für ihre Regierungen lohnender ist als nur ihr Überleben. Im Afrika südlich der Sahara zählt die UNO gegenwärtig 206 Millionen Hungernde. Zu den ökonomischen Gründen für Flucht treten politische: Die in den Drittweltstaaten auftretenden Verteilungskämpfe um die wenigen Reichtumsquellen, die es in den Ländern gibt, machen Korruption und politische Machtkämpfe zu einem Dauerzustand; oft entspringen daraus andauernde Bürgerkriege, in denen die Menschen auf Grundlage ethnischer oder religiöser Zugehörigkeiten um die verbleibenden Ressourcen kämpfen. Korruption, Bürgerkriege und Vertreibungen in den ehemaligen Ländern der Dritten Welt sind also nicht Ursache, sondern Folge der alternativlosen Zurichtung der Dritten Welt für einen Weltmarkt, aus dem die westlichen Staaten ihren Nutzen ziehen. Ähnliches gilt für die meisten Länder des früheren Ostblocks.
Zusätzlich haben die Weltordnungskriege des Westens den Westbalkan, den Nahen und Mittleren Osten aufgemischt (Kosovo, Irak, Afghanistan). Die westlichen Interventionen während des „arabischen Frühlings“ haben dazu geführt, dass in Staaten wie Libyen und Syrien das staatliche Gewaltmonopol zerfällt und die mit westlichen Waffen ausgerüsteten Islamisten die Lebensgrundlagen von Millionen zerstören.
Bei all dem war und ist Deutschland dabei. Und das nicht unter „ferner liefen“, sondern als prominenter Nutznießer einer Weltordnung, welche die Freiheit des Geschäfts zum globalen Prinzip gemacht hat: Deutsche Unternehmen verkaufen ihre Waren in den EU-Staaten und in die ganze Welt, verschaffen sich die interessanten Rohstoffe (was viele Menschen von ihren Äckern verdrängt) und Arbeitskräfte für ihr Geschäft und bauen weltweit Fabriken, um die Billiglöhne und Märkte anderer Länder für sich auszunutzen.
Mit seinen Exporten, die unter anderem deshalb so konkurrenzfähig sind, weil die deutschen Löhne massiv gesenkt wurden (Hartz IV und Niedriglohnsektor!), schädigt Deutschland andere Staaten bis zum Ruin. Dafür braucht es die entsprechende Absicherung der nationalen Interessen – freie Handelswege, sichere Schiffsrouten, Bekämpfung widerspenstiger Staaten bzw. „Terroristen“. Ob Deutschland dabei direkt agiert, ob es von seinen westlichen NATO-Partnern und ihren Weltordnungsaktionen profitiert oder ob es als drittgrößter Waffenexporteur der Welt genehme Kräfte vor Ort beliefert, die globalen Kräfteverhältnisse dadurch in seinem Sinne verändert und für sich schießen lässt (Bsp. Jemen) – all das sind die Mittel der deutschen Außenpolitik, die je nach Nutzenerwägung gewählt und dann politmoralisch gerechtfertigt werden.
b) Anrainerstaaten und Transitländer:
Anrainerstaaten dieser Kriege wie Iran, Jordanien und Libanon tragen bisher die Hauptlast der menschlichen Folgekosten. Zusammen mit der Türkei, Pakistan, Äthiopien nehmen sie etwa 46 Prozent aller weltweit Flüchtenden auf. Insgesamt finden 86 Prozent aller Menschen auf der Flucht Aufnahme in anderen so genannten Entwicklungsländern.
Libanon und Jordanien sind angesichts ihrer eigenen ökonomischen Ruinierung und aufgrund mangelnder finanzieller Unterstützung aus anderen Staaten immer weniger dazu in der Lage, die Flüchtlinge auch nur zu ernähren, geschweige denn, bessere Unterbringung zu organisieren, den Kindern Schulunterricht zu gewährleisten. Deshalb versuchen viele nach Europa weiter zu fliehen und vergrößern so zunächst einmal die Zahl jener, die über die Türkei in die EU wollen.
c) Türkei:
Über zwei Millionen Flüchtlinge aus Irak, Afghanistan und ganz besonders aus Syrien leben am Rande der Städte oder in Lagern der Türkei. Von dort aus werden Kämpfer für Armeen rekrutiert, mit denen die Türkei, die USA und andere Staaten die Kräfteverhältnisse im Irak und im syrischen Bürgerkrieg in ihrem Sinne beeinflussen. Vor allem aber sorgt die Türkei so dafür, dass die Vertriebenen „nah an ihrer Heimat“ bleiben und nicht weiter nach Westen fliehen. Um diese Funktion sicher zu stellen hat die EU bereits im Frühjahr 2014 mit der Türkei ein Abkommen geschlossen, dass türkischen Bürgern (Visafreiheit) und Unternehmen (Zollerleichterungen) einen erleichterten Zugang zur Europäischen Union verspricht, wenn die Türkei im Gegenzug Flüchtlinge an der Weiterreise nach Westen hindert. Allerdings beobachtet die EU vom Standpunkt ihrer eigenen geostrategischen Interessen zugleich die regionale Eigenmächtigkeit der Türkei unter der AKP-Führung Erdogans mit großer Skepsis und handelt dementsprechend. Als Antwort auf bzw. als strategisches Instrument im diplomatischen Konflikt mit der EU instrumentalisiert die AKP-Regierung in Ankara die Flüchtenden und lässt sie seit Sommer 2015 ungehindert über die Ägäis weiterziehen. Die Opfer der weltweiten Konkurrenz um Geld und Gewalt bekommen darüber eine weitere Funktion. Sie werden zum Druckmittel im zwischenstaatlichen Machtkampf zwischen EU und Türkei. In der Folge schaffen es immer mehr Flüchtende über die Ägäis lebend in die EU, vor allem zunächst nach Griechenland.
d) Griechenland, Italien, Ungarn etc.:
Gemäß der Dublin-Verordnung (s.o.) hat Griechenland als EU-Grenzstaat eigentlich die Aufgabe, jeden Flüchtling zu registrieren, ein Asylverfahren durchzuführen, ihn abzuschieben oder, sofern er aus humanitären Gründen nicht zurückgeschoben werden kann, ihn als „Geduldeten“ zu behalten. Allerdings hat die ökonomische Konkurrenz innerhalb des europäischen Binnenmarktes bzw. hat Deutschland als dessen größter Nutznießer viele süd- und osteuropäische Länder ebenfalls weitgehend ökonomisch ruiniert. In der Folge der Euro-Krise und der Brüsseler Sparvorgaben zur Rettung der Gemeinschaftswährung sind einige dieser Staaten nicht mehr fähig oder willens, die Flüchtlinge, die immer massenhafter anlanden, im Sinne der von Deutschland gewünschten Dublin-Regelung zu verwalten. Besonders Griechenland. Nachdem die neu gewählte Syriza-Regierung bereits im Frühsommer 2015 erfolglos versucht hatte, gegen den Willen Deutschlands eine Neuverhandlung der Sparvorgaben zu erreichen, hat sie die Registrierung von Flüchtlingen weitgehend eingestellt und diese ziehen lassen. Damit wurde ein Dominoeffekt auf der so entstandenen „Balkanroute“ (Bulgarien, Mazedonien, Serbien, Ungarn...) in Gang gesetzt: Die betroffenen Staaten handelten dann jeweils ähnlich.
Auch für Italien gilt bereits seit 2012, als nach der Zerstörung des libyschen Staates immer mehr Flüchtende Lampedusa / Italien erreichten, Vergleichbares. So hat Rom schon im Herbst 2013 nach der allgemeinen Aufregung über die Flüchtlingskatastrophe vor Lampedusa versucht, in Form einer Quotenregelung eine Verteilung der Flüchtlinge in die europäischen Staaten anzuregen bzw. wenigstens finanzielle Unterstützung für seine Rolle bei der Flüchtlingsabwehr zu bekommen. Das wurde ihm verweigert, insbesondere durch die deutsche Regierung. Italien hatte damals aus Protest gegen die EU-Politik Deutschlands einige Flüchtlinge gewissermaßen als lebende Grußbotschaft mit Reisedokumenten und Fahrkarten nach Hamburg ausgestattet (vgl. „Lampedusa in Hamburg“).
An der europäischen Flüchtlingskrise wird insofern deutlich, dass viele der beteiligten Staaten in der supranationalen Verfassung des Bündnisses und dem damit verbundenen Souveränitätsverzicht in Zeiten der Krise und unter den Bedingungen eines von Deutschland erzwungenen Sparprogramms keinen Nutzen mehr für sich erblicken und sich nicht weiter von der deutschen Hegemonialmacht zu einer Politik nötigen lassen wollen, die ihnen nur noch weitere Belastungen auferlegt. Die Flüchtenden werden darüber also auch noch zum Material eines innereuropäischen Machtkampfes und kommen ironischer Weise gerade dadurch dem wirtschaftlichen und politischen Zentrum der EU immer näher.
Schlussfolgerung: Die Bundesregierung ist nicht einfach „mit Flüchtenden konfrontiert“, mit deren Zustandekommen sie nichts zu tun hat. Die Flüchtenden sind vielmehr Produkt der ökonomischen und politischen Interessen der erfolgreichen Staaten, nicht zuletzt der Bundesrepublik. Und sie werden zum Mittel in den zwischenstaatlichen Auseinandersetzungen.
Warum ändert Deutschland seine flüchtlingspolitische Position?
Flüchtende in bisher ungekannter Zahl erreichen in der Folge über Ungarn und Österreich die deutschen Grenzen. Zum allgemeinen Erstaunen ihrer Bürger vollzieht die Bundeskanzlerin in der Folge eine beachtliche Kehrtwende in der Flüchtlingspolitik und nimmt seit Ende August 2015 die ungeliebten Elendsgestalten, die sie bisher an die EU-Außengrenzen verbannen wollte, auf. Weder schließt sie die deutschen Grenzen zum Schengen-Raum, noch besteht sie kompromisslos auf Einhaltung der Dublin-Verordnung und schon gleich setzt sie ihre Macht nicht ein, um die Einwanderer gewaltsam wieder außer Landes zu schaffen. An die Stelle der Abschottungspolitik setzt sie nun eine humanitäre Aufnahmephase und ruft ihre Bürgerinnen gleichsam zu einer „Willkommenskultur“ auf. Auch wenn es die meisten Bundesbürger kaum fassen können, weil sie entweder als nationalistische Patrioten im Handeln der Regierung glatten „Volksverrat“ sehen oder als patriotische Humanisten von der ungeahnten Güte ihres Vaterlandes gerührt sind – die Regierenden verfolgen realpolitischere Ziele mit ihrer flüchtlingspolitischen Wende und bleiben der Staatsräson der Bundesrepublik dabei ganz treu.
Ihren Ausgangspunkt nimmt die flüchtlingspolitische Wende in der staatlichen Feststellung, dass die Fortsetzung der bisherigen Verfahrensweise mit illegal Eingereisten immer weniger funktioniert. Die Alternative, die Schließung der deutschen Grenzen, wie es Ungarn und andere zeitweise mit Hinweis auf die Dublin-Verordnung praktizieren und wie es selbsternannte Staatsschützer nicht nur in Heidenau auch für Deutschland massenhaft fordern, kommt für die regierenden Patrioten auf keinen Fall in Frage, gilt sogar als „undeutsch“ (Vizekanzler Gabriel). Weil die nationale Grenzschließung nämlich gleichsam ein Ende des „Schengen-Abkommens“ und der europäischen Freizügigkeit im Personen- und Warenverkehr bedeuten würde, ist man in Berlin besorgt, dass der Rückfall in die nationale Grenzsicherung eine der wichtigsten Bedingungen für den bisherigen und künftigen Aufstieg Deutschlands zur führenden (Welt-)Wirtschaftsmacht in Europa gefährdet. In diesem Sinne ist die „Flüchtlingskrise“ für Deutschland zugleich eine EU-Krise, die vitale Interessen tangiert. Für Deutschland steht also viel mehr auf dem Spiel als das Überleben der Flüchtenden; nämlich die Bewahrung des schranken- und grenzenlosen EU-Binnenmarktes als Bedingung der weiteren Kapitalakkumulation deutscher Unternehmen und der Vormachtstellung der Bundesrepublik in Europa.
Aus einem ähnlich gelagerten Grund kommt auch die Abschiebung der Flüchtlinge aus Syrien und Irak in ihre Herkunftsländer für die Bundesrepublik nicht in Frage. Denn damit würde Deutschland gegen die Genfer Flüchtlingskonvention verstoßen, der es 1951 beigetreten ist. Die Vertragsstaaten gehen darin davon aus, dass Kriege und Bürgerkriege erstens zu ihrer Weltordnung gehören und zweitens, dass dadurch stets Flüchtlinge heimatlos gemacht werden. Ferner gehen sie drittens davon aus, dass weder sie selbst noch dritte Staaten diese Menschen haben wollen, d.h. sie werden als „Last“ der Auseinandersetzungen zwischen den Staaten begriffen. Sie regeln dieses „Faktum“ so, dass sie Flüchtlingen, die ihr Staatsgebiet erreichen, den Schutz ihres Lebens garantieren, sie insbesondere nicht in ihre Heimatländer zurückschicken, sofern dort ihr Leben bedroht ist, sie aber auch nicht in dritte Staaten weiter schieben. Das ist der Kerngehalt des humanitären Flüchtlingsrechts. Die Genfer Konvention regelt also vergleichbar zum staatlichen Umgang mit dem durch die Marktwirtschaft produzierten Elend im Innern (Obdachlose, Drogenabhängige usw.) den weltordnungspolitischen Umgang mit den „unvermeidlichen Opfern“ der Weltgeschäfte und Waffengänge im internationalen Verkehr. Sie ist damit Teil der allgemeinen Völkerrechtsverpflichtungen, die die modernen Staaten miteinander eingehen, um auf dieser Grundlage ihre ökonomischen und politischen Interessen auf der Welt konkurrierend gegeneinander wahrzunehmen. Ein Land wie Deutschland will an dieser Weltordnung, die ihm nützt, teilhaben. Diese Teilhabe wegen der jetzt anfallenden Kosten für Flüchtlinge zu kündigen, ist daher keine Option. Im Gegenteil: Deutschland will, dass die Flüchtlinge, die wegen des dargelegten Zustands der Weltordnung und Deutschlands Rolle darin in immer größerer Zahl anfallen, sozusagen „geordnet“ verwaltet werden und fordert deshalb eine modernisierte Weltelendsverwaltung.
Neue deutsche Willkommenskultur – eine politische Offensive ...
Dazu geht die Bundesregierung mit gutem Beispiel voran, d.h. sie entschließt sich zu einer humanitären Aufnahme der Flüchtlinge unter Inkaufnahme der Kosten hierfür und sie präsentiert ihre neue deutsche „Willkommenskultur“ als alternativlose und vor allem alternativlos gute Antwort auf die „Flüchtlingskrise“. Auf dieser Basis will sie die aus ihrer Sicht in Unordnung geratene und damit für sie (!) schädliche Praxis der Flüchtlingsfrage und des EU-Bündnisses neu angehen – in Deutschland, innerhalb Europas und mit Blick auf die beteiligten außereuropäischen Staaten weltweit. Innen- wie außenpolitisch versucht sie dabei aus ihrer Not eine Tugend zu machen, mit der sie fordernd auftritt. „Stärker aus der Krise herauskommen“ – der Leitspruch, den sich die Kanzlerin für die Bewältigung der Finanzkrise gesetzt hat, soll auch in diesem Fall zum Zug kommen. Dafür setzt sie einiges in Bewegung.
… nach Außen ...
Außenpolitisch leitet die Bundesregierung Folgerungen aus ihrem Problem mit den Flüchtenden ab, die ihrer Stellung als europäischer Führungs- und globaler Ordnungsmacht entsprechen. Sie verlangt von anderen Staaten in und außerhalb der EU, dass sie sich an der Lösung des von Deutschland ausgerufenen Problems beteiligen. Und sie setzt sich neue Aufträge im Namen des „Weltflüchtlingsproblems“.
Deutschland will erstens die gesamte EU zu neuer Einigkeit zwingen – zunächst, um die europäische Flüchtlingspolitik wieder in geordnete Bahnen zu bringen. Dazu gehört eine gewisse Selbstkritik in der Frage, dass man die Mittelmeeranrainer bisher mit dem Problem „zu sehr allein gelassen“ hat. Jetzt soll eine gemeinsame Aufnahmeregelung gelten – auch gegen das Widerstreben vor allem der östlichen EU-Staaten. Als Wiederbelebung der Dublin-Regelung sollen „Hotspots“ in Griechenland, Italien, Bulgarien eingerichtet werden, die durch die EU finanziert und teilweise auch mit EU-Personal ausgestattet werden. Damit entstehen zentrale Registrierungs- und Aufnahmezentren, von denen aus die Flüchtlinge dann europaweit weiterverteilt werden und mit denen verhindert wird, dass die betreffenden Staaten die „gemeinsamen Beschlüsse“ der deutsch dominierten Union durch eigenmächtige Praktiken an den Außengrenzen unterlaufen.
Zweitens verhandelt Deutschland aber auch eine prinzipielle Frage seines europäischen Projekts. Am Zustandekommen der jetzigen Problemlage war die Renitenz einiger EU-Außenstaaten mitbeteiligt; bei den Versuchen, die Lage mit Quoten neu zu regeln, stellen sich nun insbesondere die osteuropäischen Länder quer. Und auch Frankreichs Regierung macht der deutschen Diplomatie deutlich, dass sie nicht gewillt ist, die deutschen Definitionen des Flüchtlingsproblems zu übernehmen, sondern ihre Prioritäten mit Berufung auf die Attentate von Paris ganz anders setzt, nämlich im Kampf gegen den IS, und dafür Deutschlands Solidarität verlangt. Merkels Vorstellung davon, dass Deutschland Europa inzwischen so weit dominiert, dass seine Vorstellungen wie von selbst auf Zustimmung treffen, weil sich alle europäischen Partnerländer abhängig wissen vom wirtschaftlich mächtigsten Land, erweisen sich in der Flüchtlingsfrage, bei der es naturgemäß um die Verteilung von Lasten geht, insofern bisher als ziemlich haltlos. Was bei der Bewältigung der Euro-Krise aus deutscher Sicht funktioniert hat – die anderen Staaten beugen sich der deutschen Austeritäts-Politik, weil sich tatsächlich alle um den Bestand des Euro-Kredits sorgen – wird bei der Flüchtlingsfrage ganz im Gegenteil von den unzufriedenen Staaten in Europa genutzt, um Deutschland buchstäblich Grenzen aufzuzeigen und an den deutschen Anträgen die Frage zu wälzen, ob sich ein souveräner Staat etwas aufzwingen lassen muss, was für ihn nicht nützlich ist.
Drittens sollen Nicht-EU-Länder an den EU-Außengrenzen ihre Funktion, die Flüchtlinge von Europa fernzuhalten, wieder besser erfüllen. Das zielt ganz besonders auf die Türkei, mit der die BRD zunächst bilateral und dann in Brüssel als EU deshalb ein neues Abkommen geschlossen hat. Sie erkennt damit diplomatisch die Bedeutung der Erdogan-Regierung an, erklärt die Türkei trotz ihres neuen Kriegs gegen die Kurden und gegen Syrien zu einem sicheren Herkunftsland, verspricht der Türkei mehrere Milliarden für ihre Flüchtlingslager und führt endlich die schon lange versprochene Visafreiheit ein.
Viertens übt die Bundesregierung auch eine gewisse Selbstkritik bei der internationalen Flüchtlingshilfe, deren Finanzierung man über Jahre fahrlässig vernachlässigt habe. Künftig sollen die Aufnahmeländer im Nahen Osten mehr Geld bekommen, damit sie die unerwünschten Elendsgestalten „heimatnah“ aufbewahren.
Unter der Parole „Fluchtursachen vor Ort bekämpfen“ folgert die deutsche Regierung fünftens, dass mehr außenpolitischer Einsatz Deutschlands in aller Welt nötig ist. Den USA wird (zumindest verklausuliert) vorgehalten, dass ihre Außenpolitik im Nahen Osten für Deutschland mehr Unordnung als Ordnung und damit vor allem Flüchtlinge produziert. Der deutsche Außenminister will die an den nahöstlichen Kriegen beteiligten Regionalmächte Saudi-Arabien und Iran sowie Kuwait und Katar beeinflussen etc. Und explizit behält sich Deutschland auch militärische Ordnungseinsätze als Option vor und sieht in der nationalen „Flüchtlingskrise“ die Chance, sein „friedensverwöhntes“ und tendenziell flüchtlingsfeindliches Volk endlich für weitere Auslandseinsätze der Bundeswehr zu mobilisieren.
Schlussfolgerung: „Hilfe für Flüchtlinge“ ist für Deutschland also ganz buchstäblich ein einziger Auftrag zu mehr deutscher Einflussnahme in der EU wie in der ganzen Welt.
… und nach Innen.
Im Innern mobilisiert die Bundesregierung beträchtliche Mittel zur Registrierung, Verteilung und Unterbringung der Flüchtenden. Mit der Reform des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge soll die Integration der Aufgenommenen produktiv bewältigt werden, was als nationaler Kraftakt besonderer Art – vergleichbar der Wiedervereinigung – vorgestellt wird. Merkels „Wir schaffen das“ nimmt die ganze Nation, vom kleinen Bürgermeister, der Polizei bis hin zu den vielen ehrenamtlichen Helfern dafür in Haftung und betont, dass Deutschland so reich und so gut organisiert ist, dass es diesen Kraftakt mit Bravour meistern wird.
Dabei werden die Neuankömmlinge nicht nur als die finanzpolitische Belastung in den Blick genommen, die sie zunächst einmal sind. Vielmehr betrachtet man die Zuwanderer als Potential für die Volkswirtschaft und ihre globalen Ambitionen. Angesichts des unternehmerischen Bedarfs an motivierten und anspruchslosen Facharbeitern, Pflegekräften oder gar Hochqualifizierten präsentieren Politik, Presse und Arbeitgeberverbände „ihre“ Flüchtlinge bereits als künftigen Zugewinn fürs nationale Wachstum und Chance zur weiteren Unterschichtung des deutschen Arbeitsmarktes. Die zusammengelegte Leitung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge durch den Chef der Bundesagentur für Arbeit Frank-Jürgen Weise soll das institutionell gewährleisten.
Ergänzend dazu, also gerade nicht im Widerspruch zur Willkommenskultur, verschärft die Bundesregierung ihr gesetzliches Instrumentarium zur Abwehr und Abschreckung unerwünschter Zuwanderung. Mit einem Paket parlamentarisch durchgepeitschter Neuregelung werden die Asylverfahren künftig beschleunigt, Widerspruchsmöglichkeiten gegen Abschiebungen etc. stark eingeschränkt. Im gleichen Zuge werden Albanien, Kosovo und Montenegro zu sicheren Herkunftsstaaten erklärt. Nach Afghanistan soll künftig vermehrt abgeschoben werden. Asylbewerber mit „geringer Bleibeperspektive“ können bis zu sechs Monate in Erstaufnahmeeinrichtungen festgehalten werden, erhalten ausschließlich Sachleistungen, unterliegen dort einem Arbeitsverbot und strenger Residenzpflicht, d.h. dürfen sich nur in einem bestimmten Landkreis oder Regierungsbezirk bewegen. Verstöße werden mit drastischen Leistungskürzungen und bei Wiederholung mit sofortiger Ausweisung geahndet. Der Familiennachzug wird stark eingeschränkt. „Geduldete“ müssen mit Leistungskürzungen um 40 Prozent unter das bisherige Existenzminimum rechnen. So geht die gewünschte Sortierung von Asylberechtigten und unerwünschten „Armutsflüchtlingen“ zukünftig schneller, ohne letzteren durch „Fehlanreize“ Hoffnungen auf ein (Über)Leben in Deutschland zu machen.
Schlussfolgerung: Die zeitweise Aufnahme der Flüchtlinge, Versuche, einen Teil von ihnen in den deutschen Arbeitsmarkt zu integrieren und die gleichzeitige Verschärfung der Asylverfahren, des Asylbewerberleistungsgesetzes und der Bemühungen, die Außengrenzen wieder effektiv dichtzumachen, sind also kein Widerspruch, sondern gehören zusammen. Sie bilden ergänzende Bestandteile einer Bereinigung der eingetretenen Mängel und vorwärts denkenden Neuregelung der europäischen Flüchtlingspolitik im Interesse der Bundesrepublik.
„Willkommenskultur“ als ideologische Großoffensive
Die realpolitisch vollzogene Wende in der deutschen Flüchtlingspolitik bietet auf der ideologischen Ebene den öffentlich-rechtlichen und politischen Meinungsmachern einerseits viel Kollateralnutzen bei der Definition eines modernen, zeitgemäßen Patriotismus und erfordert andererseits aber auch viel „Umdenken“ beim aufgeregten Volk, das sich die neue „Willkommenskultur“ zu eigen machen soll.
Deutschland als einig Helferland setzt die Nation nämlich erstens ganz im Unterschied zur jüngsten Vergangenheit in ein schönes Licht. Immerhin beweisen die Verfolgten doch mit ihrem „Germany, Germany“, welcher Beliebtheit sich die eigene Nation in der Welt erfreut; auf der Ebene der politischen Imagepflege ein nicht zu verachtender Nebeneffekt. Die darüber mobilisierten, humanistisch gestimmten Teile des Volks beklatschen ihre Flüchtlinge auf Bahnhöfen, spenden Lebensmittel und Altkleider.
Neben der Etablierung eines neuen nationalen „Wir-Gefühl“ nach dem Motto „Deutschland hilft“ (Bild) kann die politische Führung so zweitens einen Teil der Kosten ihrer neuen Politik auf das ehrenamtliche Engagement der Zivilgesellschaft abwälzen.
Angesichts der neuen deutschen Welle von Hilfsbereitschaft und Weltoffenheit der globalisierten Nation kann die Regierung drittens die Zustimmung ihres Volkes für all jene (oben beschriebenen) Maßnahmen beanspruchen, die der Einschränkung des Asylrechts im Innern und der Zurichtung anderer Staaten als Flüchtlingslager dienen.
Ein weiterer Kollateralnutzen liegt viertens darin, dass angesichts des von der Presse nun ins Bild gerückten Elends der Flüchtenden die Armut in Deutschland als vergleichsweise luxuriös und Protest dagegen als unanständig erscheinen soll. Hartz IV gilt schließlich als Paradiesvorstellung von Hunderttausenden, die dafür härteste Opfer in Kauf nehmen – wer will sich also hierzulande noch dagegen wehren?
Vor allem anderen aber wendet sich die offizielle deutsche Willkommenskultur gegen die verbreitete Ausländer- bzw. genauer Flüchtlingsfeindlichkeit in den Reihen des eigenen Volks. Mit Ausnahme einiger unverbesserlicher Rechtsextremisten „akzeptieren“ diese Deutschen zwar inzwischen durch viel Umerziehungsarbeit und einigen Druck weitgehend, dass die Zuwanderung von Ausländern im Prinzip unverzichtbar für den Standort Deutschland bzw. für dessen Wirtschaft ist, weil diese nun mal Saisonarbeiter, billige und willige Fachkräfte, Hochqualifizierte etc. braucht. Die erzwungene Toleranz gegenüber Menschen, die zwar keine Volksgenossen aber immerhin sog. „Auch-Menschen“ sind, weil sie der Volkswirtschaft dienen, will aber bei Flüchtlingen nicht greifen, weil deren Zuwanderung ja gerade nicht wirtschaftspolitisch eindeutig nützlich ist. Die überlebenden Opfer des Kampfes um Weltmarkt und Weltmacht bilden als Flüchtlinge vielmehr die ärmste und ohnmächtigste Untergruppe der Ausländer, mit denen weder Staat noch Kapital so recht etwas anzufangen wissen. Der prinzipielle Grundsatzvorbehalt gegenüber Ausländern konzentriert sich daher in einem „toleranten Zuwanderungsland“, das von der Europäisierung und Globalisierung profitiert und deshalb den „dumpfen Rassismus“ gegen nützliche Zuwanderer verurteilt, zunehmend auf Flüchtlinge.
Das liegt daran, dass dieses Volk unerschütterlich von dem Dogma überzeugt ist, dass die Vermehrung von Geld durch die Ausbeutung von Lohnarbeit nicht der endgültige Zweck der kapitalistischen Konkurrenz, sondern diese ein zumindest „eigentlich“ sinnreicher Mechanismus zur bestmöglichen wirtschaftlichen Versorgung letztlich aller Mitglieder der Volks-Wirtschaft, also auch ihrer persönlichen Interessen, ist. Die gegenteilige Erfahrung in der Wirklichkeit, d.h. die materiell unbefriedigenden Resultate für die Mehrheit (Zeitnot, Überbeanspruchung, gesundheitsbelastende Produkte, Niedriglöhne, steigende Mieten, Arbeitslosigkeit, Armut, Krisen usw.) werden gerade nicht als unvermeidliche Konsequenzen des Kapitalismus begriffen, sondern als vermeidbare Fehlleistungen der Akteure gedeutet, die auf gemeinwohl-schädliches, d.h. letztlich volksfeindliches Verhalten zurückzuführen sind. Statt einer ökonomischen Ursachenanalyse geht es für die Idealisten der Marktwirtschaft also permanent um die Suche nach Schuldigen. Und wer sucht, der findet: Im eigenen Volk identifiziert man Bankster, Pleite-Manager, Betrüger und arbeitsscheue Hartz-IV-Empfänger, die den ehrlichen Volksgenossen um seinen wohlverdienten Lohn bringen.
Hinzu kommt das nicht weniger feste Dogma, dass dieses Volk aller Unterschiede und Gegensätze zum Trotz seine tiefere nationale Einheit in einer gemeinsamen Kultur, in geteilten Werten, Sitten etc. hat, welche die Zugehörigkeit zum geeinten Nationalstaat begründen. Letzterem wird die Aufgabe zugeschrieben, die im Prinzip harmonische Volksgemeinschaft zu beschützen und ihr Wohl zu mehren. Die gegenteilige Erfahrung in der Wirklichkeit, d.h. die Ungleichung von staatlich definiertem Allgemeinwohl einerseits und dem Wohl der lohnabhängigen Mehrheit andererseits führt zur permanenten Verurteilung der Volksvertreter als Volksverräter. Und sie führt vor allem zum Generalverdacht gegenüber allen, die nicht zum Volk gehören – dem Ausland und den Ausländern.
Sofern die Flüchtenden weder zur Volksgemeinschaft gehören und noch nicht einmal der Volkswirtschaft dienen, weil sie nichts verdienen (dürfen), erfüllen sie alle Bedingungen, um zur Zielscheibe des „gesunden Volksempfindens“ und seines „Volkszorns“ zu werden. Dies ist nicht nur, aber besonders in Ostdeutschland der Fall, wo der verbreitete Glaube an die beglückende Wirkung eines geeinten Vaterlands, seiner kapitalistischen Wirtschaftsordnung und Währung seit 25 Jahren aufs Härteste mit den ganz anders gearteten Erfahrungen im real-existierenden Kapitalismus kollidiert.
Im Kampf gegen die renitenten Nationalisten im eigenen Volk, die sich dem neuen Patriotismus in Zeiten von „Flüchtlingskrise“ und „Willkommenskultur“ mit ihrem „Nein zum Heim“ widersetzen, greifen die Offiziellen der Bundesrepublik zu den üblichen Vereinnahmungs- und Ausgrenzungsstrategien oder schreiten gleich wie Vizekanzler Gabriel zu ihrer Diffamierung als „Pack“ und der Verurteilung ihrer Gesinnung als „undeutsch“. Statt einer Kritik der volkswirtschaftlichen und nationalstaatlichen Dogmen beanspruchen große und kleine Volkserzieher die Definitionshoheit über deren zeitgemäße Auslegung. Kein Wunder also, dass sich die regierenden Patrioten im Kampf gegen den unerwünschten Nationalismus in Teilen ihres Volkes so schwer tun!
* * *
Kleiner Nachtrag: „Nach Köln“ – Alles anders?
Spätestens mit den „Vorkommnissen in der Silvesternacht“ rücken Flüchtlingselend, EU-Krise und die skizzierte Auseinandersetzung zwischen guten Patrioten und gesundem Volksempfinden erst einmal in den Hintergrund. Denn nach dem Willen von Politik, Presse und weiten Teilen der Bevölkerung überschatten „die Ereignisse am Hauptbahnhof zu Köln“ offenbar alles andere. Mehr noch: Ein paar hundert betrunkenen Jungmännern aus dem Ausland soll es demnach gelungen sein, mit ihrem nächtlichen Tun „die Republik“ zu verändern und harte Konsequenzen gegen kriminelle Ausländer und eine veränderte Flüchtlingsdebatte unumgänglich zu machen.
Zu fragen wäre zunächst, worum es bei den Vorfällen überhaupt ging: Um Eigentumsdelikte? Um sexuelle Übergriffe? Zu fragen wäre weiter, warum junge Männer unabhängig von der Staatsbürgerschaft meist in Horden, alkoholisiert immer wieder mal sexuell übergriffig werden; übrigens auch als Fußballfans, beim Oktoberfest oder zum Karneval – und vor allem nach wie vor in der guten alten Familie. Zu fragen wäre schließlich nach den Grundlagen und Gründen für die herrschende Sittlichkeit in Deutschland und warum sie in Teilen der Unterschichtsjugend mit und ohne Migrationshintergrund nicht so recht verfangen will. Zu fragen wäre vielleicht auch einmal nach der materiellen und sexuellen Not jener Flüchtenden, die in Massenlagern ohne Privatsphäre, ohne Familiennachzug, fast ohne Geld und mit Arbeitsverbot, ganz den Entscheidungen der deutschen Flüchtlingspolitik und ihrer Verwaltung ausgeliefert sind.
Tatsächlich wurde „nach Köln“ thematisiert: Der mangelnde Respekt des muslimischen Mannes vor der deutschen Rechts- und Sittenordnung im Allgemeinen und vor der sexuellen Selbstbestimmung der Frau im Besonderen, die vermeintliche Ohnmacht der Polizei, von der nicht weniger erwartet wird, als dass sie immer – überall – alles im Griff behält, das Versagen ihrer Führung gemessen an diesem Anspruch, ein angebliches Schweigekartell der deutschen Medien gegenüber Ausländer- und Flüchtlingskriminalität und so weiter. Bereits nach kurzer Zeit des aufgeregten Dauerdiskurses steht das Bild über die Ereignisse zu Köln in erstaunlicher Klarheit fest: Ausländische Männer – Flüchtlinge zumal – bestehlen und vergewaltigen unsere freiheitsliebenden Frauen! Der Grund? Weil es ihnen an guten Sitten fehlt, was auch nicht wundern kann angesichts der Unsitten des Islam und der arabischen Welt und weil sie sich einbilden, in unserem freiheitlichen Land alles zu dürfen.
Die massenmedial geforderten Konsequenzen – Aufrüstung der Polizei, Verschärfung des Aufenthaltsrechtes, stärkere Überwachung des öffentlichen Raums, beschleunigte Abschiebung krimineller Ausländer und eine Neuauflage der Integrationsdebatte als unmissverständlicher Imperativ zur Unterordnung – werden von der Bundesregierung in einem atemberaubenden Tempo auf den Weg gebracht, gewiss nicht ohne das altbekannte Kalkül, das gesunde Volksempfinden (s.o.) faschistoid zu besänftigen, um so dem rechten Rand das Wasser abzugraben.
Das rechte Volksempfinden seinerseits sieht sich nicht besänftigt, sondern von den „Kölner Ereignissen“ in seinem vorher bereits feststehenden Urteil über die volksfremden Elemente im Lande bestätigt: Wer will jetzt noch bestreiten, dass die Fremden aus dem Morgenland die sittliche Gemeinschaft der Deutschen missachten und ihre gutmenschliche Willkommenskultur schamlos ausnutzen, so dass die braven Deutschen sich um den gerechten Lohn ihres Anstands im eigenen Land betrogen sehen? (Zur Kritik dieses Denkens s.o.) Schuld trägt auch die eigene Regierung, die viel zu spät und viel zu wenig gegen die Zersetzer und Schmarotzer unternimmt. Schuld tragen aber vor allem jene im eigenen Volk, die aus falsch verstandenem Humanismus viel zu lange die Augen verschlossen haben vor dem wahren Charakter ihrer verhätschelten Schütz-, Flücht-, und Lieblinge, während sie die Sorgen und Nöte der Volksgenossen und vor allem -genossinnen, sogar die von ihnen selbst mühsam erkämpfte sexuelle Selbstbestimmung achtlos in den Wind schlagen.
Und die derart angefeindeten „Gutmenschen“? Auch sie zeigen sich – schockiert (!) und sehen sich in ihrem humanistischen Ansinnen in einer Legitimationskrise. Warum eigentlich? Warum müssen nach ihrer Vorstellung die Flüchtlinge, für deren Aufnahme sie eintreten, eigentlich schuldlos in Not gekommene, durch und durch gute Menschen – am liebsten „klavierspielende Kinderärzte aus Syrien“ (Stefan Gärtner) – sein, die allen hierzulande geltenden Maßstäben für gutes Benehmen gerecht werden? Warum sollten die Opfer der imperialistischen Weltordnung eigentlich sympathische Zeitgenossen sein, die dazu noch den westlichen Wertehimmel achten und ehren?
Offenbar überwiegt auch in dieser Bevölkerungsgruppe die Überzeugung, dass Menschen in Not Hilfe nur dann verdienen, wenn sie gut, zumindest aber unschuldig sind, weswegen Kinder und Tiere auch immer noch die meisten Sympathien genießen. Offenbar teilen sie auch den nationalistischen Grundsatzvorbehalt, dass Ausländern im Normalfall die Einreise in den Nationalstaat zu verweigern ist, wenn sie mit Hinweis auf die außerordentliche Not der überdurchschnittlich qualifizierten und durchweg guten Flüchtlinge für eine Ausnahme in Zeiten der Flüchtlingskrise eintreten.
Vielleicht wäre es statt der selbstverliebten „Solidarität mit Flüchtenden“ ja doch die bessere Idee, nicht für Flüchtlinge, sondern gegen die Fluchtursachen und Verursacher im eigenen Land anzutreten und den dazugehörenden Patriotismus zu kritisieren, statt ihn zu hofieren.
Dieser Artikel erscheint bei uns mit freundlicher Erlaubnis des Autors und der Streifzüge, wo er am 16. Januar 2016 erschien.
Arian Schiffer-Nasserie ist Professor für Sozial- und Migrationspolitik sowie Rassismusforschung an der Evangelischen Fachhochschule in Bochum.
Die alte europäische Flüchtlingspolitik
Dass viele der Flüchtenden versuchen, Europa und besonders die wenigen erfolgreichen Staaten Deutschland, Frankreich, England und Schweden zu erreichen, ist ebenfalls seit Jahren so. Die Regierungen der Bundesrepublik begegneten der unerwünschten Zuwanderung seit den 1990er Jahren vor allem mit einem migrations- und asylpolitischen Maßnahmenbündel aus Abschreckung, Abwehr und Abschottung. Und sie setzten ihre flüchtlingspolitischen Ansprüche europaweit so kompromisslos durch, dass das Staatenbündnis seitdem auch den Beinamen „Festung“ trägt.
Insbesondere mit der so genannten Dublin-Verordnung verpflichtet die Bundesrepublik die Länder an der Süd- und Ostgrenze der EU auf die Registrierung, Internierung und Rücknahme jener Flüchtenden, die dort zuerst das Hoheitsgebiet des Bündnisses betreten. Die beabsichtigte Folge: Deutschland wälzt erstens die humanitären Kosten seiner weltweiten Erfolge auf die europäischen „Partner“ ab, umgibt sich zweitens mit „sicheren Drittstaaten“ innerhalb und außerhalb der EU und stiftet so drittens bei diesen „Transitländern“ das ureigene Interesse an einer möglichst effektiven Grenzsicherung gegen Flüchtende, die ja ursprünglich nicht zu ihnen, sondern nach Nord- oder Westeuropa wollten.
Die unvermeidliche Konsequenz sind über 30.000 Tote und hoffnungslos überfüllte Aufnahmelager an den EU-Außengrenzen in den letzten 20 Jahren. Das alles war und ist nach Auffassung deutscher Führungskräfte in Politik und Presse keine Flüchtlingskrise. Vielmehr gilt bis zum Spätsommer 2015 in der Bundesregierung die Sprachregelung, dass die Situation der Flüchtenden zwar bedauerlich, die Ursachen aber entweder bei „kriminellen Schleuserbanden“, welche die Menschen „mit falschen Versprechen aufs Meer locken“ oder aber in „Misswirtschaft, Korruption, Terror und Despotie“ der Herkunftsländer zu suchen seien – jedenfalls nichts mit der westlichen Weltordnung, dem Weltmarkt und der deutschen Rolle darin zu tun haben. Außerdem gebe es „nun mal“ europäische Regelungen beim Umgang mit den Flüchtenden (Stichwort Dublin-Verordnung) und daran habe sich jedes Land zu halten. Deutschland könne jedenfalls beim besten Willen nicht „für das Elend der gesamten Welt“ die Verantwortung tragen.
Eine Flüchtlingskrise gibt es regierungsamtlich erst seit dem Spätsommer 2015. In diesem Jahr zeichnet sich immer stärker ab, dass die Flüchtenden es trotz aller Abwehrmaßnahmen in immer größerer Zahl schaffen, die EU lebend zu erreichen. Und nicht nur das: Sie kommen nach Zentraleuropa und wollen vorzugsweise nach Deutschland. Seitdem (!) spricht die Bundesregierung von einer Flüchtlingskrise und hat die Zahl von einer Million zu erwartenden Flüchtlingen für dieses Jahr in die Welt gesetzt. Die von der Kanzlerin ausgerufene „Flüchtlingskrise“ ist also nicht mit dem Leid der Flüchtenden zu verwechseln – in ihr geht es nicht um die Probleme der Flüchtenden, sondern um die Probleme der BRD mit den Flüchtenden.
Die bisherige Flüchtlingspolitik der BRD gilt als „gescheitert“ – Warum?
Dass die Opfer der ökonomischen Weltmarkterfolge Deutschlands und der westlichen Weltordnung durch die EU-Außenstaaten und das Dublin-Verfahren bisher zuverlässig von der Mitte Europas (Deutschland, Frankreich) ferngehalten wurden bzw. schnell zurückgeschickt werden konnten, funktioniert offenbar nicht mehr. In diesem Sinne ist die bisherige Flüchtlingspolitik aus Sicht der deutschen Regierung „gescheitert“ (Angela Merkel). Aber warum?
Zunächst einmal sind die vielen Flüchtenden weltweit Ausdruck der politischen und ökonomischen Weltlage. Immer neue Rekorde der Flüchtlingszahl (2014 waren es global 59,5 Millionen) zeugen von der zunehmenden Ruinierung weiter Weltgegenden.
a) Herkunftsländer:
In vielen Herkunftsstaaten Afrikas und Asiens hat der Einbezug der ehemaligen Kolonien in den Weltmarkt die Lebensgrundlagen großer Bevölkerungsteile zerstört. Weder die kleinbäuerliche Landwirtschaft oder Fischerei noch die wenigen Industrie-Unternehmen sind der Konkurrenz auf dem Weltmarkt dauerhaft gewachsen; oft werden die bisherigen Bewohner und Nutzer des Landes auch schlicht vertrieben, weil Plantagenwirtschaft, Rohstoffgewinnung oder Tourismusindustrie für ihre Regierungen lohnender ist als nur ihr Überleben. Im Afrika südlich der Sahara zählt die UNO gegenwärtig 206 Millionen Hungernde. Zu den ökonomischen Gründen für Flucht treten politische: Die in den Drittweltstaaten auftretenden Verteilungskämpfe um die wenigen Reichtumsquellen, die es in den Ländern gibt, machen Korruption und politische Machtkämpfe zu einem Dauerzustand; oft entspringen daraus andauernde Bürgerkriege, in denen die Menschen auf Grundlage ethnischer oder religiöser Zugehörigkeiten um die verbleibenden Ressourcen kämpfen. Korruption, Bürgerkriege und Vertreibungen in den ehemaligen Ländern der Dritten Welt sind also nicht Ursache, sondern Folge der alternativlosen Zurichtung der Dritten Welt für einen Weltmarkt, aus dem die westlichen Staaten ihren Nutzen ziehen. Ähnliches gilt für die meisten Länder des früheren Ostblocks.
Zusätzlich haben die Weltordnungskriege des Westens den Westbalkan, den Nahen und Mittleren Osten aufgemischt (Kosovo, Irak, Afghanistan). Die westlichen Interventionen während des „arabischen Frühlings“ haben dazu geführt, dass in Staaten wie Libyen und Syrien das staatliche Gewaltmonopol zerfällt und die mit westlichen Waffen ausgerüsteten Islamisten die Lebensgrundlagen von Millionen zerstören.
Bei all dem war und ist Deutschland dabei. Und das nicht unter „ferner liefen“, sondern als prominenter Nutznießer einer Weltordnung, welche die Freiheit des Geschäfts zum globalen Prinzip gemacht hat: Deutsche Unternehmen verkaufen ihre Waren in den EU-Staaten und in die ganze Welt, verschaffen sich die interessanten Rohstoffe (was viele Menschen von ihren Äckern verdrängt) und Arbeitskräfte für ihr Geschäft und bauen weltweit Fabriken, um die Billiglöhne und Märkte anderer Länder für sich auszunutzen.
Mit seinen Exporten, die unter anderem deshalb so konkurrenzfähig sind, weil die deutschen Löhne massiv gesenkt wurden (Hartz IV und Niedriglohnsektor!), schädigt Deutschland andere Staaten bis zum Ruin. Dafür braucht es die entsprechende Absicherung der nationalen Interessen – freie Handelswege, sichere Schiffsrouten, Bekämpfung widerspenstiger Staaten bzw. „Terroristen“. Ob Deutschland dabei direkt agiert, ob es von seinen westlichen NATO-Partnern und ihren Weltordnungsaktionen profitiert oder ob es als drittgrößter Waffenexporteur der Welt genehme Kräfte vor Ort beliefert, die globalen Kräfteverhältnisse dadurch in seinem Sinne verändert und für sich schießen lässt (Bsp. Jemen) – all das sind die Mittel der deutschen Außenpolitik, die je nach Nutzenerwägung gewählt und dann politmoralisch gerechtfertigt werden.
b) Anrainerstaaten und Transitländer:
Anrainerstaaten dieser Kriege wie Iran, Jordanien und Libanon tragen bisher die Hauptlast der menschlichen Folgekosten. Zusammen mit der Türkei, Pakistan, Äthiopien nehmen sie etwa 46 Prozent aller weltweit Flüchtenden auf. Insgesamt finden 86 Prozent aller Menschen auf der Flucht Aufnahme in anderen so genannten Entwicklungsländern.
Libanon und Jordanien sind angesichts ihrer eigenen ökonomischen Ruinierung und aufgrund mangelnder finanzieller Unterstützung aus anderen Staaten immer weniger dazu in der Lage, die Flüchtlinge auch nur zu ernähren, geschweige denn, bessere Unterbringung zu organisieren, den Kindern Schulunterricht zu gewährleisten. Deshalb versuchen viele nach Europa weiter zu fliehen und vergrößern so zunächst einmal die Zahl jener, die über die Türkei in die EU wollen.
c) Türkei:
Über zwei Millionen Flüchtlinge aus Irak, Afghanistan und ganz besonders aus Syrien leben am Rande der Städte oder in Lagern der Türkei. Von dort aus werden Kämpfer für Armeen rekrutiert, mit denen die Türkei, die USA und andere Staaten die Kräfteverhältnisse im Irak und im syrischen Bürgerkrieg in ihrem Sinne beeinflussen. Vor allem aber sorgt die Türkei so dafür, dass die Vertriebenen „nah an ihrer Heimat“ bleiben und nicht weiter nach Westen fliehen. Um diese Funktion sicher zu stellen hat die EU bereits im Frühjahr 2014 mit der Türkei ein Abkommen geschlossen, dass türkischen Bürgern (Visafreiheit) und Unternehmen (Zollerleichterungen) einen erleichterten Zugang zur Europäischen Union verspricht, wenn die Türkei im Gegenzug Flüchtlinge an der Weiterreise nach Westen hindert. Allerdings beobachtet die EU vom Standpunkt ihrer eigenen geostrategischen Interessen zugleich die regionale Eigenmächtigkeit der Türkei unter der AKP-Führung Erdogans mit großer Skepsis und handelt dementsprechend. Als Antwort auf bzw. als strategisches Instrument im diplomatischen Konflikt mit der EU instrumentalisiert die AKP-Regierung in Ankara die Flüchtenden und lässt sie seit Sommer 2015 ungehindert über die Ägäis weiterziehen. Die Opfer der weltweiten Konkurrenz um Geld und Gewalt bekommen darüber eine weitere Funktion. Sie werden zum Druckmittel im zwischenstaatlichen Machtkampf zwischen EU und Türkei. In der Folge schaffen es immer mehr Flüchtende über die Ägäis lebend in die EU, vor allem zunächst nach Griechenland.
d) Griechenland, Italien, Ungarn etc.:
Gemäß der Dublin-Verordnung (s.o.) hat Griechenland als EU-Grenzstaat eigentlich die Aufgabe, jeden Flüchtling zu registrieren, ein Asylverfahren durchzuführen, ihn abzuschieben oder, sofern er aus humanitären Gründen nicht zurückgeschoben werden kann, ihn als „Geduldeten“ zu behalten. Allerdings hat die ökonomische Konkurrenz innerhalb des europäischen Binnenmarktes bzw. hat Deutschland als dessen größter Nutznießer viele süd- und osteuropäische Länder ebenfalls weitgehend ökonomisch ruiniert. In der Folge der Euro-Krise und der Brüsseler Sparvorgaben zur Rettung der Gemeinschaftswährung sind einige dieser Staaten nicht mehr fähig oder willens, die Flüchtlinge, die immer massenhafter anlanden, im Sinne der von Deutschland gewünschten Dublin-Regelung zu verwalten. Besonders Griechenland. Nachdem die neu gewählte Syriza-Regierung bereits im Frühsommer 2015 erfolglos versucht hatte, gegen den Willen Deutschlands eine Neuverhandlung der Sparvorgaben zu erreichen, hat sie die Registrierung von Flüchtlingen weitgehend eingestellt und diese ziehen lassen. Damit wurde ein Dominoeffekt auf der so entstandenen „Balkanroute“ (Bulgarien, Mazedonien, Serbien, Ungarn...) in Gang gesetzt: Die betroffenen Staaten handelten dann jeweils ähnlich.
Auch für Italien gilt bereits seit 2012, als nach der Zerstörung des libyschen Staates immer mehr Flüchtende Lampedusa / Italien erreichten, Vergleichbares. So hat Rom schon im Herbst 2013 nach der allgemeinen Aufregung über die Flüchtlingskatastrophe vor Lampedusa versucht, in Form einer Quotenregelung eine Verteilung der Flüchtlinge in die europäischen Staaten anzuregen bzw. wenigstens finanzielle Unterstützung für seine Rolle bei der Flüchtlingsabwehr zu bekommen. Das wurde ihm verweigert, insbesondere durch die deutsche Regierung. Italien hatte damals aus Protest gegen die EU-Politik Deutschlands einige Flüchtlinge gewissermaßen als lebende Grußbotschaft mit Reisedokumenten und Fahrkarten nach Hamburg ausgestattet (vgl. „Lampedusa in Hamburg“).
An der europäischen Flüchtlingskrise wird insofern deutlich, dass viele der beteiligten Staaten in der supranationalen Verfassung des Bündnisses und dem damit verbundenen Souveränitätsverzicht in Zeiten der Krise und unter den Bedingungen eines von Deutschland erzwungenen Sparprogramms keinen Nutzen mehr für sich erblicken und sich nicht weiter von der deutschen Hegemonialmacht zu einer Politik nötigen lassen wollen, die ihnen nur noch weitere Belastungen auferlegt. Die Flüchtenden werden darüber also auch noch zum Material eines innereuropäischen Machtkampfes und kommen ironischer Weise gerade dadurch dem wirtschaftlichen und politischen Zentrum der EU immer näher.
Schlussfolgerung: Die Bundesregierung ist nicht einfach „mit Flüchtenden konfrontiert“, mit deren Zustandekommen sie nichts zu tun hat. Die Flüchtenden sind vielmehr Produkt der ökonomischen und politischen Interessen der erfolgreichen Staaten, nicht zuletzt der Bundesrepublik. Und sie werden zum Mittel in den zwischenstaatlichen Auseinandersetzungen.
Warum ändert Deutschland seine flüchtlingspolitische Position?
Flüchtende in bisher ungekannter Zahl erreichen in der Folge über Ungarn und Österreich die deutschen Grenzen. Zum allgemeinen Erstaunen ihrer Bürger vollzieht die Bundeskanzlerin in der Folge eine beachtliche Kehrtwende in der Flüchtlingspolitik und nimmt seit Ende August 2015 die ungeliebten Elendsgestalten, die sie bisher an die EU-Außengrenzen verbannen wollte, auf. Weder schließt sie die deutschen Grenzen zum Schengen-Raum, noch besteht sie kompromisslos auf Einhaltung der Dublin-Verordnung und schon gleich setzt sie ihre Macht nicht ein, um die Einwanderer gewaltsam wieder außer Landes zu schaffen. An die Stelle der Abschottungspolitik setzt sie nun eine humanitäre Aufnahmephase und ruft ihre Bürgerinnen gleichsam zu einer „Willkommenskultur“ auf. Auch wenn es die meisten Bundesbürger kaum fassen können, weil sie entweder als nationalistische Patrioten im Handeln der Regierung glatten „Volksverrat“ sehen oder als patriotische Humanisten von der ungeahnten Güte ihres Vaterlandes gerührt sind – die Regierenden verfolgen realpolitischere Ziele mit ihrer flüchtlingspolitischen Wende und bleiben der Staatsräson der Bundesrepublik dabei ganz treu.
Ihren Ausgangspunkt nimmt die flüchtlingspolitische Wende in der staatlichen Feststellung, dass die Fortsetzung der bisherigen Verfahrensweise mit illegal Eingereisten immer weniger funktioniert. Die Alternative, die Schließung der deutschen Grenzen, wie es Ungarn und andere zeitweise mit Hinweis auf die Dublin-Verordnung praktizieren und wie es selbsternannte Staatsschützer nicht nur in Heidenau auch für Deutschland massenhaft fordern, kommt für die regierenden Patrioten auf keinen Fall in Frage, gilt sogar als „undeutsch“ (Vizekanzler Gabriel). Weil die nationale Grenzschließung nämlich gleichsam ein Ende des „Schengen-Abkommens“ und der europäischen Freizügigkeit im Personen- und Warenverkehr bedeuten würde, ist man in Berlin besorgt, dass der Rückfall in die nationale Grenzsicherung eine der wichtigsten Bedingungen für den bisherigen und künftigen Aufstieg Deutschlands zur führenden (Welt-)Wirtschaftsmacht in Europa gefährdet. In diesem Sinne ist die „Flüchtlingskrise“ für Deutschland zugleich eine EU-Krise, die vitale Interessen tangiert. Für Deutschland steht also viel mehr auf dem Spiel als das Überleben der Flüchtenden; nämlich die Bewahrung des schranken- und grenzenlosen EU-Binnenmarktes als Bedingung der weiteren Kapitalakkumulation deutscher Unternehmen und der Vormachtstellung der Bundesrepublik in Europa.
Aus einem ähnlich gelagerten Grund kommt auch die Abschiebung der Flüchtlinge aus Syrien und Irak in ihre Herkunftsländer für die Bundesrepublik nicht in Frage. Denn damit würde Deutschland gegen die Genfer Flüchtlingskonvention verstoßen, der es 1951 beigetreten ist. Die Vertragsstaaten gehen darin davon aus, dass Kriege und Bürgerkriege erstens zu ihrer Weltordnung gehören und zweitens, dass dadurch stets Flüchtlinge heimatlos gemacht werden. Ferner gehen sie drittens davon aus, dass weder sie selbst noch dritte Staaten diese Menschen haben wollen, d.h. sie werden als „Last“ der Auseinandersetzungen zwischen den Staaten begriffen. Sie regeln dieses „Faktum“ so, dass sie Flüchtlingen, die ihr Staatsgebiet erreichen, den Schutz ihres Lebens garantieren, sie insbesondere nicht in ihre Heimatländer zurückschicken, sofern dort ihr Leben bedroht ist, sie aber auch nicht in dritte Staaten weiter schieben. Das ist der Kerngehalt des humanitären Flüchtlingsrechts. Die Genfer Konvention regelt also vergleichbar zum staatlichen Umgang mit dem durch die Marktwirtschaft produzierten Elend im Innern (Obdachlose, Drogenabhängige usw.) den weltordnungspolitischen Umgang mit den „unvermeidlichen Opfern“ der Weltgeschäfte und Waffengänge im internationalen Verkehr. Sie ist damit Teil der allgemeinen Völkerrechtsverpflichtungen, die die modernen Staaten miteinander eingehen, um auf dieser Grundlage ihre ökonomischen und politischen Interessen auf der Welt konkurrierend gegeneinander wahrzunehmen. Ein Land wie Deutschland will an dieser Weltordnung, die ihm nützt, teilhaben. Diese Teilhabe wegen der jetzt anfallenden Kosten für Flüchtlinge zu kündigen, ist daher keine Option. Im Gegenteil: Deutschland will, dass die Flüchtlinge, die wegen des dargelegten Zustands der Weltordnung und Deutschlands Rolle darin in immer größerer Zahl anfallen, sozusagen „geordnet“ verwaltet werden und fordert deshalb eine modernisierte Weltelendsverwaltung.
Neue deutsche Willkommenskultur – eine politische Offensive ...
Dazu geht die Bundesregierung mit gutem Beispiel voran, d.h. sie entschließt sich zu einer humanitären Aufnahme der Flüchtlinge unter Inkaufnahme der Kosten hierfür und sie präsentiert ihre neue deutsche „Willkommenskultur“ als alternativlose und vor allem alternativlos gute Antwort auf die „Flüchtlingskrise“. Auf dieser Basis will sie die aus ihrer Sicht in Unordnung geratene und damit für sie (!) schädliche Praxis der Flüchtlingsfrage und des EU-Bündnisses neu angehen – in Deutschland, innerhalb Europas und mit Blick auf die beteiligten außereuropäischen Staaten weltweit. Innen- wie außenpolitisch versucht sie dabei aus ihrer Not eine Tugend zu machen, mit der sie fordernd auftritt. „Stärker aus der Krise herauskommen“ – der Leitspruch, den sich die Kanzlerin für die Bewältigung der Finanzkrise gesetzt hat, soll auch in diesem Fall zum Zug kommen. Dafür setzt sie einiges in Bewegung.
… nach Außen ...
Außenpolitisch leitet die Bundesregierung Folgerungen aus ihrem Problem mit den Flüchtenden ab, die ihrer Stellung als europäischer Führungs- und globaler Ordnungsmacht entsprechen. Sie verlangt von anderen Staaten in und außerhalb der EU, dass sie sich an der Lösung des von Deutschland ausgerufenen Problems beteiligen. Und sie setzt sich neue Aufträge im Namen des „Weltflüchtlingsproblems“.
Deutschland will erstens die gesamte EU zu neuer Einigkeit zwingen – zunächst, um die europäische Flüchtlingspolitik wieder in geordnete Bahnen zu bringen. Dazu gehört eine gewisse Selbstkritik in der Frage, dass man die Mittelmeeranrainer bisher mit dem Problem „zu sehr allein gelassen“ hat. Jetzt soll eine gemeinsame Aufnahmeregelung gelten – auch gegen das Widerstreben vor allem der östlichen EU-Staaten. Als Wiederbelebung der Dublin-Regelung sollen „Hotspots“ in Griechenland, Italien, Bulgarien eingerichtet werden, die durch die EU finanziert und teilweise auch mit EU-Personal ausgestattet werden. Damit entstehen zentrale Registrierungs- und Aufnahmezentren, von denen aus die Flüchtlinge dann europaweit weiterverteilt werden und mit denen verhindert wird, dass die betreffenden Staaten die „gemeinsamen Beschlüsse“ der deutsch dominierten Union durch eigenmächtige Praktiken an den Außengrenzen unterlaufen.
Zweitens verhandelt Deutschland aber auch eine prinzipielle Frage seines europäischen Projekts. Am Zustandekommen der jetzigen Problemlage war die Renitenz einiger EU-Außenstaaten mitbeteiligt; bei den Versuchen, die Lage mit Quoten neu zu regeln, stellen sich nun insbesondere die osteuropäischen Länder quer. Und auch Frankreichs Regierung macht der deutschen Diplomatie deutlich, dass sie nicht gewillt ist, die deutschen Definitionen des Flüchtlingsproblems zu übernehmen, sondern ihre Prioritäten mit Berufung auf die Attentate von Paris ganz anders setzt, nämlich im Kampf gegen den IS, und dafür Deutschlands Solidarität verlangt. Merkels Vorstellung davon, dass Deutschland Europa inzwischen so weit dominiert, dass seine Vorstellungen wie von selbst auf Zustimmung treffen, weil sich alle europäischen Partnerländer abhängig wissen vom wirtschaftlich mächtigsten Land, erweisen sich in der Flüchtlingsfrage, bei der es naturgemäß um die Verteilung von Lasten geht, insofern bisher als ziemlich haltlos. Was bei der Bewältigung der Euro-Krise aus deutscher Sicht funktioniert hat – die anderen Staaten beugen sich der deutschen Austeritäts-Politik, weil sich tatsächlich alle um den Bestand des Euro-Kredits sorgen – wird bei der Flüchtlingsfrage ganz im Gegenteil von den unzufriedenen Staaten in Europa genutzt, um Deutschland buchstäblich Grenzen aufzuzeigen und an den deutschen Anträgen die Frage zu wälzen, ob sich ein souveräner Staat etwas aufzwingen lassen muss, was für ihn nicht nützlich ist.
Drittens sollen Nicht-EU-Länder an den EU-Außengrenzen ihre Funktion, die Flüchtlinge von Europa fernzuhalten, wieder besser erfüllen. Das zielt ganz besonders auf die Türkei, mit der die BRD zunächst bilateral und dann in Brüssel als EU deshalb ein neues Abkommen geschlossen hat. Sie erkennt damit diplomatisch die Bedeutung der Erdogan-Regierung an, erklärt die Türkei trotz ihres neuen Kriegs gegen die Kurden und gegen Syrien zu einem sicheren Herkunftsland, verspricht der Türkei mehrere Milliarden für ihre Flüchtlingslager und führt endlich die schon lange versprochene Visafreiheit ein.
Viertens übt die Bundesregierung auch eine gewisse Selbstkritik bei der internationalen Flüchtlingshilfe, deren Finanzierung man über Jahre fahrlässig vernachlässigt habe. Künftig sollen die Aufnahmeländer im Nahen Osten mehr Geld bekommen, damit sie die unerwünschten Elendsgestalten „heimatnah“ aufbewahren.
Unter der Parole „Fluchtursachen vor Ort bekämpfen“ folgert die deutsche Regierung fünftens, dass mehr außenpolitischer Einsatz Deutschlands in aller Welt nötig ist. Den USA wird (zumindest verklausuliert) vorgehalten, dass ihre Außenpolitik im Nahen Osten für Deutschland mehr Unordnung als Ordnung und damit vor allem Flüchtlinge produziert. Der deutsche Außenminister will die an den nahöstlichen Kriegen beteiligten Regionalmächte Saudi-Arabien und Iran sowie Kuwait und Katar beeinflussen etc. Und explizit behält sich Deutschland auch militärische Ordnungseinsätze als Option vor und sieht in der nationalen „Flüchtlingskrise“ die Chance, sein „friedensverwöhntes“ und tendenziell flüchtlingsfeindliches Volk endlich für weitere Auslandseinsätze der Bundeswehr zu mobilisieren.
Schlussfolgerung: „Hilfe für Flüchtlinge“ ist für Deutschland also ganz buchstäblich ein einziger Auftrag zu mehr deutscher Einflussnahme in der EU wie in der ganzen Welt.
… und nach Innen.
Im Innern mobilisiert die Bundesregierung beträchtliche Mittel zur Registrierung, Verteilung und Unterbringung der Flüchtenden. Mit der Reform des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge soll die Integration der Aufgenommenen produktiv bewältigt werden, was als nationaler Kraftakt besonderer Art – vergleichbar der Wiedervereinigung – vorgestellt wird. Merkels „Wir schaffen das“ nimmt die ganze Nation, vom kleinen Bürgermeister, der Polizei bis hin zu den vielen ehrenamtlichen Helfern dafür in Haftung und betont, dass Deutschland so reich und so gut organisiert ist, dass es diesen Kraftakt mit Bravour meistern wird.
Dabei werden die Neuankömmlinge nicht nur als die finanzpolitische Belastung in den Blick genommen, die sie zunächst einmal sind. Vielmehr betrachtet man die Zuwanderer als Potential für die Volkswirtschaft und ihre globalen Ambitionen. Angesichts des unternehmerischen Bedarfs an motivierten und anspruchslosen Facharbeitern, Pflegekräften oder gar Hochqualifizierten präsentieren Politik, Presse und Arbeitgeberverbände „ihre“ Flüchtlinge bereits als künftigen Zugewinn fürs nationale Wachstum und Chance zur weiteren Unterschichtung des deutschen Arbeitsmarktes. Die zusammengelegte Leitung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge durch den Chef der Bundesagentur für Arbeit Frank-Jürgen Weise soll das institutionell gewährleisten.
Ergänzend dazu, also gerade nicht im Widerspruch zur Willkommenskultur, verschärft die Bundesregierung ihr gesetzliches Instrumentarium zur Abwehr und Abschreckung unerwünschter Zuwanderung. Mit einem Paket parlamentarisch durchgepeitschter Neuregelung werden die Asylverfahren künftig beschleunigt, Widerspruchsmöglichkeiten gegen Abschiebungen etc. stark eingeschränkt. Im gleichen Zuge werden Albanien, Kosovo und Montenegro zu sicheren Herkunftsstaaten erklärt. Nach Afghanistan soll künftig vermehrt abgeschoben werden. Asylbewerber mit „geringer Bleibeperspektive“ können bis zu sechs Monate in Erstaufnahmeeinrichtungen festgehalten werden, erhalten ausschließlich Sachleistungen, unterliegen dort einem Arbeitsverbot und strenger Residenzpflicht, d.h. dürfen sich nur in einem bestimmten Landkreis oder Regierungsbezirk bewegen. Verstöße werden mit drastischen Leistungskürzungen und bei Wiederholung mit sofortiger Ausweisung geahndet. Der Familiennachzug wird stark eingeschränkt. „Geduldete“ müssen mit Leistungskürzungen um 40 Prozent unter das bisherige Existenzminimum rechnen. So geht die gewünschte Sortierung von Asylberechtigten und unerwünschten „Armutsflüchtlingen“ zukünftig schneller, ohne letzteren durch „Fehlanreize“ Hoffnungen auf ein (Über)Leben in Deutschland zu machen.
Schlussfolgerung: Die zeitweise Aufnahme der Flüchtlinge, Versuche, einen Teil von ihnen in den deutschen Arbeitsmarkt zu integrieren und die gleichzeitige Verschärfung der Asylverfahren, des Asylbewerberleistungsgesetzes und der Bemühungen, die Außengrenzen wieder effektiv dichtzumachen, sind also kein Widerspruch, sondern gehören zusammen. Sie bilden ergänzende Bestandteile einer Bereinigung der eingetretenen Mängel und vorwärts denkenden Neuregelung der europäischen Flüchtlingspolitik im Interesse der Bundesrepublik.
„Willkommenskultur“ als ideologische Großoffensive
Die realpolitisch vollzogene Wende in der deutschen Flüchtlingspolitik bietet auf der ideologischen Ebene den öffentlich-rechtlichen und politischen Meinungsmachern einerseits viel Kollateralnutzen bei der Definition eines modernen, zeitgemäßen Patriotismus und erfordert andererseits aber auch viel „Umdenken“ beim aufgeregten Volk, das sich die neue „Willkommenskultur“ zu eigen machen soll.
Deutschland als einig Helferland setzt die Nation nämlich erstens ganz im Unterschied zur jüngsten Vergangenheit in ein schönes Licht. Immerhin beweisen die Verfolgten doch mit ihrem „Germany, Germany“, welcher Beliebtheit sich die eigene Nation in der Welt erfreut; auf der Ebene der politischen Imagepflege ein nicht zu verachtender Nebeneffekt. Die darüber mobilisierten, humanistisch gestimmten Teile des Volks beklatschen ihre Flüchtlinge auf Bahnhöfen, spenden Lebensmittel und Altkleider.
Neben der Etablierung eines neuen nationalen „Wir-Gefühl“ nach dem Motto „Deutschland hilft“ (Bild) kann die politische Führung so zweitens einen Teil der Kosten ihrer neuen Politik auf das ehrenamtliche Engagement der Zivilgesellschaft abwälzen.
Angesichts der neuen deutschen Welle von Hilfsbereitschaft und Weltoffenheit der globalisierten Nation kann die Regierung drittens die Zustimmung ihres Volkes für all jene (oben beschriebenen) Maßnahmen beanspruchen, die der Einschränkung des Asylrechts im Innern und der Zurichtung anderer Staaten als Flüchtlingslager dienen.
Ein weiterer Kollateralnutzen liegt viertens darin, dass angesichts des von der Presse nun ins Bild gerückten Elends der Flüchtenden die Armut in Deutschland als vergleichsweise luxuriös und Protest dagegen als unanständig erscheinen soll. Hartz IV gilt schließlich als Paradiesvorstellung von Hunderttausenden, die dafür härteste Opfer in Kauf nehmen – wer will sich also hierzulande noch dagegen wehren?
Vor allem anderen aber wendet sich die offizielle deutsche Willkommenskultur gegen die verbreitete Ausländer- bzw. genauer Flüchtlingsfeindlichkeit in den Reihen des eigenen Volks. Mit Ausnahme einiger unverbesserlicher Rechtsextremisten „akzeptieren“ diese Deutschen zwar inzwischen durch viel Umerziehungsarbeit und einigen Druck weitgehend, dass die Zuwanderung von Ausländern im Prinzip unverzichtbar für den Standort Deutschland bzw. für dessen Wirtschaft ist, weil diese nun mal Saisonarbeiter, billige und willige Fachkräfte, Hochqualifizierte etc. braucht. Die erzwungene Toleranz gegenüber Menschen, die zwar keine Volksgenossen aber immerhin sog. „Auch-Menschen“ sind, weil sie der Volkswirtschaft dienen, will aber bei Flüchtlingen nicht greifen, weil deren Zuwanderung ja gerade nicht wirtschaftspolitisch eindeutig nützlich ist. Die überlebenden Opfer des Kampfes um Weltmarkt und Weltmacht bilden als Flüchtlinge vielmehr die ärmste und ohnmächtigste Untergruppe der Ausländer, mit denen weder Staat noch Kapital so recht etwas anzufangen wissen. Der prinzipielle Grundsatzvorbehalt gegenüber Ausländern konzentriert sich daher in einem „toleranten Zuwanderungsland“, das von der Europäisierung und Globalisierung profitiert und deshalb den „dumpfen Rassismus“ gegen nützliche Zuwanderer verurteilt, zunehmend auf Flüchtlinge.
Das liegt daran, dass dieses Volk unerschütterlich von dem Dogma überzeugt ist, dass die Vermehrung von Geld durch die Ausbeutung von Lohnarbeit nicht der endgültige Zweck der kapitalistischen Konkurrenz, sondern diese ein zumindest „eigentlich“ sinnreicher Mechanismus zur bestmöglichen wirtschaftlichen Versorgung letztlich aller Mitglieder der Volks-Wirtschaft, also auch ihrer persönlichen Interessen, ist. Die gegenteilige Erfahrung in der Wirklichkeit, d.h. die materiell unbefriedigenden Resultate für die Mehrheit (Zeitnot, Überbeanspruchung, gesundheitsbelastende Produkte, Niedriglöhne, steigende Mieten, Arbeitslosigkeit, Armut, Krisen usw.) werden gerade nicht als unvermeidliche Konsequenzen des Kapitalismus begriffen, sondern als vermeidbare Fehlleistungen der Akteure gedeutet, die auf gemeinwohl-schädliches, d.h. letztlich volksfeindliches Verhalten zurückzuführen sind. Statt einer ökonomischen Ursachenanalyse geht es für die Idealisten der Marktwirtschaft also permanent um die Suche nach Schuldigen. Und wer sucht, der findet: Im eigenen Volk identifiziert man Bankster, Pleite-Manager, Betrüger und arbeitsscheue Hartz-IV-Empfänger, die den ehrlichen Volksgenossen um seinen wohlverdienten Lohn bringen.
Hinzu kommt das nicht weniger feste Dogma, dass dieses Volk aller Unterschiede und Gegensätze zum Trotz seine tiefere nationale Einheit in einer gemeinsamen Kultur, in geteilten Werten, Sitten etc. hat, welche die Zugehörigkeit zum geeinten Nationalstaat begründen. Letzterem wird die Aufgabe zugeschrieben, die im Prinzip harmonische Volksgemeinschaft zu beschützen und ihr Wohl zu mehren. Die gegenteilige Erfahrung in der Wirklichkeit, d.h. die Ungleichung von staatlich definiertem Allgemeinwohl einerseits und dem Wohl der lohnabhängigen Mehrheit andererseits führt zur permanenten Verurteilung der Volksvertreter als Volksverräter. Und sie führt vor allem zum Generalverdacht gegenüber allen, die nicht zum Volk gehören – dem Ausland und den Ausländern.
Sofern die Flüchtenden weder zur Volksgemeinschaft gehören und noch nicht einmal der Volkswirtschaft dienen, weil sie nichts verdienen (dürfen), erfüllen sie alle Bedingungen, um zur Zielscheibe des „gesunden Volksempfindens“ und seines „Volkszorns“ zu werden. Dies ist nicht nur, aber besonders in Ostdeutschland der Fall, wo der verbreitete Glaube an die beglückende Wirkung eines geeinten Vaterlands, seiner kapitalistischen Wirtschaftsordnung und Währung seit 25 Jahren aufs Härteste mit den ganz anders gearteten Erfahrungen im real-existierenden Kapitalismus kollidiert.
Im Kampf gegen die renitenten Nationalisten im eigenen Volk, die sich dem neuen Patriotismus in Zeiten von „Flüchtlingskrise“ und „Willkommenskultur“ mit ihrem „Nein zum Heim“ widersetzen, greifen die Offiziellen der Bundesrepublik zu den üblichen Vereinnahmungs- und Ausgrenzungsstrategien oder schreiten gleich wie Vizekanzler Gabriel zu ihrer Diffamierung als „Pack“ und der Verurteilung ihrer Gesinnung als „undeutsch“. Statt einer Kritik der volkswirtschaftlichen und nationalstaatlichen Dogmen beanspruchen große und kleine Volkserzieher die Definitionshoheit über deren zeitgemäße Auslegung. Kein Wunder also, dass sich die regierenden Patrioten im Kampf gegen den unerwünschten Nationalismus in Teilen ihres Volkes so schwer tun!
* * *
Kleiner Nachtrag: „Nach Köln“ – Alles anders?
Spätestens mit den „Vorkommnissen in der Silvesternacht“ rücken Flüchtlingselend, EU-Krise und die skizzierte Auseinandersetzung zwischen guten Patrioten und gesundem Volksempfinden erst einmal in den Hintergrund. Denn nach dem Willen von Politik, Presse und weiten Teilen der Bevölkerung überschatten „die Ereignisse am Hauptbahnhof zu Köln“ offenbar alles andere. Mehr noch: Ein paar hundert betrunkenen Jungmännern aus dem Ausland soll es demnach gelungen sein, mit ihrem nächtlichen Tun „die Republik“ zu verändern und harte Konsequenzen gegen kriminelle Ausländer und eine veränderte Flüchtlingsdebatte unumgänglich zu machen.
Zu fragen wäre zunächst, worum es bei den Vorfällen überhaupt ging: Um Eigentumsdelikte? Um sexuelle Übergriffe? Zu fragen wäre weiter, warum junge Männer unabhängig von der Staatsbürgerschaft meist in Horden, alkoholisiert immer wieder mal sexuell übergriffig werden; übrigens auch als Fußballfans, beim Oktoberfest oder zum Karneval – und vor allem nach wie vor in der guten alten Familie. Zu fragen wäre schließlich nach den Grundlagen und Gründen für die herrschende Sittlichkeit in Deutschland und warum sie in Teilen der Unterschichtsjugend mit und ohne Migrationshintergrund nicht so recht verfangen will. Zu fragen wäre vielleicht auch einmal nach der materiellen und sexuellen Not jener Flüchtenden, die in Massenlagern ohne Privatsphäre, ohne Familiennachzug, fast ohne Geld und mit Arbeitsverbot, ganz den Entscheidungen der deutschen Flüchtlingspolitik und ihrer Verwaltung ausgeliefert sind.
Tatsächlich wurde „nach Köln“ thematisiert: Der mangelnde Respekt des muslimischen Mannes vor der deutschen Rechts- und Sittenordnung im Allgemeinen und vor der sexuellen Selbstbestimmung der Frau im Besonderen, die vermeintliche Ohnmacht der Polizei, von der nicht weniger erwartet wird, als dass sie immer – überall – alles im Griff behält, das Versagen ihrer Führung gemessen an diesem Anspruch, ein angebliches Schweigekartell der deutschen Medien gegenüber Ausländer- und Flüchtlingskriminalität und so weiter. Bereits nach kurzer Zeit des aufgeregten Dauerdiskurses steht das Bild über die Ereignisse zu Köln in erstaunlicher Klarheit fest: Ausländische Männer – Flüchtlinge zumal – bestehlen und vergewaltigen unsere freiheitsliebenden Frauen! Der Grund? Weil es ihnen an guten Sitten fehlt, was auch nicht wundern kann angesichts der Unsitten des Islam und der arabischen Welt und weil sie sich einbilden, in unserem freiheitlichen Land alles zu dürfen.
Die massenmedial geforderten Konsequenzen – Aufrüstung der Polizei, Verschärfung des Aufenthaltsrechtes, stärkere Überwachung des öffentlichen Raums, beschleunigte Abschiebung krimineller Ausländer und eine Neuauflage der Integrationsdebatte als unmissverständlicher Imperativ zur Unterordnung – werden von der Bundesregierung in einem atemberaubenden Tempo auf den Weg gebracht, gewiss nicht ohne das altbekannte Kalkül, das gesunde Volksempfinden (s.o.) faschistoid zu besänftigen, um so dem rechten Rand das Wasser abzugraben.
Das rechte Volksempfinden seinerseits sieht sich nicht besänftigt, sondern von den „Kölner Ereignissen“ in seinem vorher bereits feststehenden Urteil über die volksfremden Elemente im Lande bestätigt: Wer will jetzt noch bestreiten, dass die Fremden aus dem Morgenland die sittliche Gemeinschaft der Deutschen missachten und ihre gutmenschliche Willkommenskultur schamlos ausnutzen, so dass die braven Deutschen sich um den gerechten Lohn ihres Anstands im eigenen Land betrogen sehen? (Zur Kritik dieses Denkens s.o.) Schuld trägt auch die eigene Regierung, die viel zu spät und viel zu wenig gegen die Zersetzer und Schmarotzer unternimmt. Schuld tragen aber vor allem jene im eigenen Volk, die aus falsch verstandenem Humanismus viel zu lange die Augen verschlossen haben vor dem wahren Charakter ihrer verhätschelten Schütz-, Flücht-, und Lieblinge, während sie die Sorgen und Nöte der Volksgenossen und vor allem -genossinnen, sogar die von ihnen selbst mühsam erkämpfte sexuelle Selbstbestimmung achtlos in den Wind schlagen.
Und die derart angefeindeten „Gutmenschen“? Auch sie zeigen sich – schockiert (!) und sehen sich in ihrem humanistischen Ansinnen in einer Legitimationskrise. Warum eigentlich? Warum müssen nach ihrer Vorstellung die Flüchtlinge, für deren Aufnahme sie eintreten, eigentlich schuldlos in Not gekommene, durch und durch gute Menschen – am liebsten „klavierspielende Kinderärzte aus Syrien“ (Stefan Gärtner) – sein, die allen hierzulande geltenden Maßstäben für gutes Benehmen gerecht werden? Warum sollten die Opfer der imperialistischen Weltordnung eigentlich sympathische Zeitgenossen sein, die dazu noch den westlichen Wertehimmel achten und ehren?
Offenbar überwiegt auch in dieser Bevölkerungsgruppe die Überzeugung, dass Menschen in Not Hilfe nur dann verdienen, wenn sie gut, zumindest aber unschuldig sind, weswegen Kinder und Tiere auch immer noch die meisten Sympathien genießen. Offenbar teilen sie auch den nationalistischen Grundsatzvorbehalt, dass Ausländern im Normalfall die Einreise in den Nationalstaat zu verweigern ist, wenn sie mit Hinweis auf die außerordentliche Not der überdurchschnittlich qualifizierten und durchweg guten Flüchtlinge für eine Ausnahme in Zeiten der Flüchtlingskrise eintreten.
Vielleicht wäre es statt der selbstverliebten „Solidarität mit Flüchtenden“ ja doch die bessere Idee, nicht für Flüchtlinge, sondern gegen die Fluchtursachen und Verursacher im eigenen Land anzutreten und den dazugehörenden Patriotismus zu kritisieren, statt ihn zu hofieren.
Dieser Artikel erscheint bei uns mit freundlicher Erlaubnis des Autors und der Streifzüge, wo er am 16. Januar 2016 erschien.
Arian Schiffer-Nasserie ist Professor für Sozial- und Migrationspolitik sowie Rassismusforschung an der Evangelischen Fachhochschule in Bochum.