Gespräche über den Höhepunkt der modernen Zeiten

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Ilustración: Azul Azul

KALLE

Apropos, bestellen wir noch zwei Bier?

So geschah es, aber nicht bevor Ziffel erklärt hatte, dass er in keinster Weise für die chemischen Vollendungen des Bieres im Allgemeinen verantwortlich war. Kalle antwortete darauf in barschem Ton.

KALLE

Heutzutage übernimmt niemand mehr die Verantwortung für irgendetwas. Das ist genau das Problem: Man weiß nie, wem man die Schuld geben soll. Ich habe einmal eine Geschichte über eine Händlerin im Mittelalter gelesen, die verdorbene Butter verkauft hatte: Die betrogene Kundschaft protestierte und die Händlerin wurde so lange mit einem Klumpen Butter auf dem Kopf an den Pranger gestellt, bis dieser vollständig geschmolzen war. Wenigstens würde sie nicht noch einmal versuchen, jemanden für dumm zu verkaufen. Aber die modernen Betrüger, einmal davon abgesehen, dass sie schwieriger ausfindig zu machen sind, sind in gewisser Weise schon durch das ungeheure Ausmaß ihrer Betrügereien geschützt: Um eine angemessene Strafe im Verhältnis zu ihren Untaten zu verhängen, müsste man beinahe den gesamten Planeten in Blut und Feuer versinken lassen. Nun gut, der Planet versinkt bereits in Blut und Feuer. Es ist, als hätte der Investor derart hohe Schulden, dass man ihm weiter Geld leihen müsste …

ZIFFEL

Das Bemerkenswerteste an Ihrer Geschichte ist die unmittelbare Gewissheit aller Käufer, dass die Butter verdorben war. Stellen Sie sich einmal die Anstrengungen vor, die heutzutage erbracht werden müssten, um eine solche Gewissheit zu erlangen: Hunderte, Tausende von Menschen wären mit einer solchen Angelegenheit beschäftigt, Ad-hoc-Kommissionen würden eingesetzt, internationale Institutionen würden Spezialisten entsenden und am Ende wüsste man überhaupt nicht mehr, worum es geht. Ob die Butter tatsächlich verdorben war, wer von ihr aß, ob es diese Butter überhaupt jemals gegeben hatte ...


KALLE

Soll heißen: All die Bemühungen, die aufgebracht werden, um keine Gewissheit zu erlangen.



ZIFFEL

Ganz genau. Anders gesagt, die zu untersuchenden Sachverhalte entstammen dermaßen komplexen Vorgängen und involvieren derartig viele Menschen und unterschiedliche Spezialisten, dass praktisch ein beinahe universelles Wissen vonnöten wäre, um sie verstehen zu können. Was uns zur Sinnlosigkeit des Denkens zurückführt. Sie erinnern sich vielleicht an die Abhandlungen, aus denen ich Ihnen vor einer Weile einige Abschnitte vorgelesen habe?



KALLE

Nicht besonders gut.



ZIFFEL

Darin stellte ich fest, dass unser Leben aufgrund der Abhängigkeit von einer immer komplizierteren Wirtschaft dermaßen komplex geworden ist, dass sich nicht einmal die klügsten Köpfe in der Lage sähen, auch nur die zurückhaltendsten Voraussagen zu machen. Das Einzige, was man sagen kann, ist, dass sich seitdem nichts verbessert hat. Um die Welt, die von Menschenhand errichtet wurde, zu verstehen, bedürfen wir nicht nur der Intelligenz von Übermenschen, sondern wir bedürfen – da die Übermenschen weiterhin auf sich warten lassen – der Intelligenz der Maschinen. Das ist zumindest das, was vorerst in Reichweite zu sein scheint.



KALLE

Sie werden jetzt aber nicht das Klagelied über das technologische Zeitalter ohne Seele anstimmen. So wehleidig kenne ich Sie auch gar nicht ...



ZIFFEL

Sie denken an diese Intellektuellen, die den Niedergang des Denkens beklagen, ohne dabei jemals in den Blick zu nehmen, was das Denken niedergehen lässt. Tatsächlich haben sie nichts auszusetzen an der Gesellschaft, welche sie nährt, dieser Gesellschaft, in der man ein primitives Dasein fristet, in der jedes Denken oberflächlich und unheilvoll bleibt, aber sie bringen keinen Einwand vor, um ihr täglich Brot nicht zu gefährden, auf dass die Nachfrage konstant bleibe und die Produktion ihren Absatz finde. Man muss sie wie ein verdammtes Unternehmen sehen: Das Handwerk der kleinen unabhängigen Produzenten des „Denkens”. Und offensichtlich ist es ein schlechtes Denken, jenes, das die Menschen auffordert, dem täglichen Schmerz der Existenz noch intellektuelle Anstrengungen hinzuzufügen.



KALLE

Hier bin ich vollends einverstanden mit Ihnen. Als ich nach dem Krieg in Frankreich Arbeiter war, wollte man uns um jeden Preis Kultur einflößen und das auch noch zusätzlich zu unserer Arbeitszeit: Vor allem unsere linken „Verteidiger” waren ganz berauscht von dieser Idee. Ich denke oft zurück an diesen Brecht, von dem Sie mir Gedichte vorgelesen haben. Das war der Lieblingsautor der kulturellen Einrichtungen, der Volkstheater, etc. Wenn ich das richtig verstanden habe, wollte er, dass sich das Theater nicht mehr an dem sogenannten großen Betrug des Gefühls beteiligt, sondern, dass es die Leute befähigt und scharfsinniger macht gegenüber der Welt, wie sie wirklich ist. Auf den ersten Blick war das eine gute Idee. Er sagte, dass das Theater sein Publikum als eine Art Versammlung potenzieller Revolutionäre begreifen solle, die dazu aufgefordert werden, die Welt zu verändern. Man kann jedoch von den Leuten, die den ganzen Arbeitstag so gut es geht ertragen und sich dieser Welt schlecht oder recht angepasst haben, nicht erwarten, dass sie sich am Nachmittag mal eben wie eine revolutionäre Vollversammlung verhalten.



ZIFFEL

Dennoch gab es Zeiten, in denen die Arbeiter nach ihrem Arbeitstag noch die Kraft hatten, ihre Probleme zu diskutieren und sich zu organisieren, um diese zu lösen.



KALLE

Ja, aber sicher nicht, indem sie ins Theater gingen. Wenn die Unterdrückten aufbegehren, haben sie Besseres zu tun; und wenn sie nicht aufbegehren, darf es nicht überraschen, dass sie bei all dem, was sie aushalten müssen, die Seifenoper dem „Epischen Theater” als Schmerzmittel vorziehen. Und wenn nicht, dann hat das „Epische Theater” nicht mehr Wert als ein gewöhnlicher Priester.



ZIFFEL

Das ist wie bei den Psychoanalytikern. Zunächst hieß es, die Menschen sollten sich ihrer wirklichen Lage bewusst werden. Doch dann wurde ihnen klar, dass das Bewusstsein, von dem sie sprachen, genau wie die Moral der Priester, die Welt nicht verändern würde. Und weshalb zum Teufel sollte man größeres Bewusstsein erlangen, wenn sich die Wirklichkeit dadurch nicht ändern ließe? Die Psychoanalytiker verstanden sehr schnell, dass man sich eher Ausreden als Heilmittel von ihnen erhoffte. Man sprach nicht mehr davon, die Vergangenheit zu bewältigen, denn im Anschluss daran hätte man sich ernsthaft mit der Gegenwart auseinandersetzen müssen. Und da sich die Vergangenheit nicht so leicht abschütteln lässt, konnten die Deutungsspezialisten ziemlich sicher sein, sich nicht arbeitslos wieder zu finden.



KALLE

Trotzdem war das zunächst einmal eine gute Idee: Dass jeder als sein eigener Geschichtsschreiber und in gewisser Weise in dritter Person lernen würde, mit mehr Achtsamkeit und einem höheren Anspruch zu leben. Aber ich gebe zu, mit derartigen Ideen hätte man sich der Psychoanalytiker sehr schnell entledigen können ...



ZIFFEL

Ganz genau. Und das war auf keinen Fall ihre Absicht. So ist der Zweck der Psychoanalyse der geworden, aus jedem Patienten wiederum einen neuen Psychoanalytiker zu machen, sei es als Beruf oder als Hobby. Das Übel, welches Freud angehen wollte - nämlich Gefangener der eigenen Vergangenheit und so weiter, zu sein - wurde durch seine Theorie soweit verbreitet, dass es nunmehr gesellschaftlich schon als Zeichen von Wahrhaftigkeit und Klarheit gilt, wenn man die eigenen Makel zur Schau stellt.



KALLE

„Die Krankheit unserer Zeit ist die Diagnose.” Aber wenn Sie sagen, dass es keinerlei Sinn macht, sich um ein bewussteres Denken zu bemühen, weil es nichts an unserer wirklichen Lage ändert, dann übertreiben Sie vielleicht ein bisschen. Würde man nur dann denken, wenn es direkte Auswirkungen auf die Wirklichkeit hätte, würde man nicht sehr oft denken.



ZIFFEL

Was ja vielleicht nicht das Schlechteste wäre. Ich habe mir immer gesagt, dass es völlig ungenau ist, Unverstand mit Ideenlosigkeit gleichzusetzen. Obwohl letztere wiederum sehr selten ist, wäre es doch besser, ihr den klinischen Begriff der Idiotie zu reservieren. Was aber den Unverstand betrifft (so kurz auch der Gedanke ist, den man daran verschwendet) wird einem sehr schnell klar, dass dieser in der allgemeinen Tendenz zu einem Übermaß an Ideen besteht, zu mehr Ideen jedenfalls als wofür man tatsächlich Verwendung hat. Oder man sieht in Anbetracht des Lebens, wie es sich heutzutage darstellt, gar nicht erst die Notwendigkeit, auch nur die kleinste Idee zu haben – was wir ja gerade schon festgestellt haben. Um unter diesen Bedingungen weiter nachzudenken, muss man ausdrücklich dafür bezahlt werden oder eben dumm sein. Wobei das eine mit dem anderen keinesfalls unvereinbar ist.



KALLE

Es ist mir beinahe peinlich, es zuzugeben: Ihre Ausführungen geben mir Anlass zu denken. Oft hat es mich überrascht zu sehen, wie dumm sich meine Arbeitskollegen oder die Armen im Allgemeinen gaben, sobald sie begannen nachzudenken. Wenn sie ohne nachzudenken sprachen, also mithilfe der Gedanken, die ihnen bei der Bewältigung ihrer tagtäglichen Existenz von Nutzen waren, wurden sie auf einen Schlag sehr vernünftig: Sie sahen in den Chefs, in den Vorarbeitern und der Polizei Feinde aller Art, gegen die jedes Mittel recht war. Sobald sie jedoch versuchten, sich zu Verallgemeinerungen aufzuschwingen und Gedanken über die Gesellschaft als Ganzes und nicht nur ihre eigene Lage hervorzubringen, trugen sie lediglich die schlimmsten konformistischen Plattitüden vor und zeigten sich blöde.



ZIFFEL

Man müsste also sagen, dass sie sich zu Verallgemeinerungen herabließen, statt sich zu ihnen aufzuschwingen.



KALLE

In der Tat. Mir hat einmal einer ausführlich erzählt, was er in der Fabrik und an anderen Orten alles geklaut hat, um danach zu erklären, dass das Gefängnis für Diebe eine viel zu milde Strafe sei, dass man sie eigentlich alle in Arbeitslager sperren solle, etc. Es kam ihm nicht in den Sinn, irgendeinen Zusammenhang zwischen seinen allgemeinen Ansichten und seinem Verhalten im Besonderen herzustellen.

ZIFFEL

Das kommt häufig vor. Die Wahrheit ist, dass er sich selbst nicht ausreichend wertschätzte, um seine Ansichten auf dem eigenen Verhalten zu gründen, so dass er sie sozusagen aus der Luft griff und unvermeidlich mit dem in Einklang brachte, was er schon gänzlich vorgefertigt und grundsolide vorfand: Die vorherrschende Dummheit. Am Ende war sein Verhalten schlauer als er selbst.



KALLE

Man könnte genauso gut sagen, dass er sich zu sehr wertschätzte, weil er aus seinem Verhalten etwas Außergewöhnliches machte, statt es im Gegenteil als das Gewöhnlichste und vollständig bestimmt durch die gemeinhin erfahrenen Bedingungen zu sehen.

ZIFFEL

Sie haben recht. Aber um mit dem eigenen Denken erst einmal zu beginnen, muss sich die Mehrheit der Menschen zunächst mehr Beachtung schenken. Die sogenannten großen Leute sind möglicherweise nur jene, die ihr Denken von ihrem Verhalten ableiten und darin nicht über die Grenzen der eigenen Taten hinausgehen, oder jedenfalls die, die sich in ihrem Denken nicht von den Grenzen freimachen, die ihnen die Wirklichkeit auferlegt: Nur deshalb klingen ihre Ideen gut. Und wie wir schon festgestellt haben, die Schändlichkeit der sogenannten großen Leute besteht darin, dass es zu wenige von ihnen gibt. Mir wurde einmal eine Diskussion von zwei Männern zugetragen, die darüber nachdachten, was man unter vergleichbaren Umständen bei der Russischen Revolution hätte anders machen können. Einer der beiden schlussfolgerte: „Das nächste Mal sollte man Kronstadt vermeiden.” Woraufhin sein Gegenüber antwortete: „Nein, das nächste Mal sollte man Lenin vermeiden.” In der Tat, wenn es eine ausreichende Anzahl an Menschen gäbe, die den strategischen Genius eines Lenin besäßen, gäbe es keinen Lenin und somit auch keine bolschewistische Partei und auch keine totalitäre Verwaltung.

… Fortsetzung folgt


Mit dem unorthodoxen Stück Dialogues sur l‘achèvement des temps modernes lässt Jaime Semprun Bertolt Brechts Figuren aus den Flüchtlingsgesprächen erneut aufeinander treffen und greift so in den Zeiten des aktuellen Exils Mythen, Missverständnisse und Anekdoten der herrschenden Ideologien des 20. Jahrhunderts mit Humor und ohne Zugeständnisse auf. Der vorliegende Text ist ein Auszug aus diesem Stück, das 1993 bei Éditions de l‘Encyclopédie des Nuisances erschien.