Notwendiger Nirgendsort

Utopie – Verständnis und Miß­verständnis einer verbogenen Kategorie

Insel Utopie
»Es ist doch süß, sich Staatsverfassungen auszudenken, die den Forderungen der Vernunft … entsprechen; aber vermessen, sie vorzuschlagen, und strafbar, das Volk zur Abschaffung der jetzt bestehenden aufzuwiegeln.«1

Das ist Immanuel Kant in seinem »Streit der Fakultäten« von 1798, und wir können wohl davon ausgehen, daß nach der Französischen Revolution ganze Heerscharen von Abwieglern an einem Diminutiv für den offensichtlich als aufwiegelnd verdächtigten Begriff der Utopie gearbeitet haben. Sprachgeschichte liegt ja weithin im Dunkeln, aber wir wissen, was schließlich herausgekommen ist: nämlich das süße Wort »utopisch«. Was »utopisch« ist, das braucht man nicht zu bekämpfen, das »Utopische« hat sich bereits von selbst erledigt. Auch Peter Hacks hat den Utopie-Begriff schließlich für erledigt erklärt, als »ein Wort für Gegenrevolution« – »von Utopien kommt nichts als Peinliches«2, so sein energisches Votum 1990. Das war für ihn durchaus nicht immer so klar. Eineinhalb Jahrzehnte früher konnte er noch ganz affirmativ von der »Utopie des Gutgemachten« sprechen und vom „utopischen Wesen der Kunst«3. Und als Zwanzigjähriger hatte er Wielands »Pandora« bearbeitet, die bei ihm den Untertitel trug: »Von Arkadien nach Utopia« Und noch 1980 heißt es zu Goethes »Pandora«: »Vom Standpunkt des reifen Sozialismus her läßt die mögliche Einheit von Tat und Entwurf als Hoffnung sich wieder schreiben; das ist die Utopie, die Goethe in der beendeten Entzweiung und Hochzeit der Kinder erledigt [also in der Symbiose der Nachkommen des Prometheus und des Epimetheus]. Aber die Utopie des triumphierenden Epimetheus … ist ein Vorgriff, der selbst das heute Denkbare übertrifft.«4 Und Hacks liest Goethes »Verklärung« des Epimetheus natürlich als Kritik des prometheischen Kapitalismus und geht selbst über diesen noch hinaus.

Irgendwie stecken wir in einem Dilemma, denn beide Lesarten von Utopie haben ihren Stellenwert, auch wenn die Parolen von 1989 bereits vergilbt sind: »Das Ende des Sozialismus ist die Befreiung der Utopie aus der Unrechtsherrschaft des Real-Existierenden!« »Endlich können wir wieder ungestört Utopien haben!«

Seit die Insel Utopia vom Pejorativ »utopisch« überschwemmt wurde, ist der Umgang mit dem Utopie-Begriff sehr mühsam geworden. Das hat sich auch nach den bemerkenswerten Interpretationen von Karl Mannheim und Ernst Bloch nicht wesentlich geändert. Bei Bloch in anthropologischer Perspektive, die das »Mangelwesen« Mensch zum permanenten Vorgriff auf die Zukunft geradezu verurteilt sieht. Bei Mannheim in sozialer Perspektive, als gesellschaftlich eingebundene Antithese zu allem Bestehenden. Bloch und Mannheim sind bei aller Differenz aber in einem einig: sie wollen den Begriff der Utopie verteidigen gegen das vulgäre Verdikt »Völlig utopisch!«; sie wollen ihm den »Utopismus«-Makel nehmen, den Begriff wenigstens intellektuell repatriieren. Und sie wollen dabei doch nicht grundsätzlich auf die patentierte Formel verzichten: Utopie ist der Traum vom Besseren, von der verbesserten Welt.

Natürlich klingt das bei ihnen nicht so platt. Es soll ja gerade nicht banal und abgegriffen klingen. Es soll ja gerade gezeigt werden, wie der zu Kitsch und Science-fiction konvertierte »Traum aller Träume« weder das eine noch das andere ist, sondern etwas ganz Grundsätzliches mit einer Mensch und Gesellschaft bewegenden Dynamik, ein Lebensprinzip (Bloch), eine gesellschaftliche Entwicklungskraft (Mannheim). Aber die Formel bleibt: Utopie ist das, »was ›sein soll‹« und noch nicht ist.

Wenn der Begriff der Utopie tatsächlich nur eingebunden gedacht werden kann in den Verrechnungsanspruch von Soll und Haben, dann läßt sich natürlich auch Utopie-Geschichte schreiben, denn Differenz gab es an diesem Punkt schon immer. Und – eigenartig genug – in dieser Frage gibt es keinen Unterschied zwischen Arthur von Kirchheims 1892 erschienener »Geschichte der Dichtungen vom besten Staat« und Ernst Blochs »Abriß der Sozialutopien« von 1946: Beide beginnen ganz antik und eigentlich mit Platon. Wer aber sagt, daß Platon eine »Utopie« geschrieben hat im Sinne jener Formel, die von Soll und Haben handelt?!

Man braucht nicht einmal Poppers beißende Kritik an Platon zu teilen, um in der »Politeia« alles andere als eine Vision von einer »besseren Welt« zu sehen. Aber das Vorurteil wirkt unumstößlich: Platons »Politeia« sei »die erste wirkliche Utopie, das Urbild so vieler späteren«. Platon sei der große Utopiker der Antike. Er stehe »am Anfang aller literarischen Utopien«. Vielleicht ist das ja wirklich so. Nur: wenn es so ist, wenn Platons großer Dialog über den Staat tatsächlich eine »Utopie« genannt werden kann, dann kann der Begriff der Utopie unmöglich identisch sein mit dem »Traum aller Träume«, denn die »Politeia« ist ein reiner Alptraum.

Die Frage nach dem eigentlichen Skopus des Utopie-Begriffs läßt sich nicht abstrakt beantworten. »Utopie« versteht sich nicht von selbst. Was der Utopie-Begriff besagt, läßt sich ausschließlich dort festmachen, wo er Eingang gefunden hat in unsere Sprache. »Utopie« ist kein archaischer Menschheitsbegriff, der schon im antiken Staatsmärchen zur Welt kam oder im aszendenten Gedanken an ein kommendes goldenes Zeitalter. »Utopia« ist ein Wort des Thomas Morus aus dem Jahre 1516 – ein Kunstwort zudem, eine Wortschöpfung, die offensichtlich notwendig wurde, um etwas zum Ausdruck bringen zu können, was ganz und gar nicht selbstverständlich war.

DIE ALTERNATIVE AM ABGRUND

An Thomas Morus »Utopia« von 1516 scheiden sich die Geister. Während die einen dieses Werk für die feinsinnige Stilübung eines gebildeten Menschenfreundes ausgeben und die römische Kurie glaubwürdig versichern würde, daß Morus nicht etwa als Vorläufer von Marx heiliggesprochen wurde, zielt die marxistische Morus-Interpretation gerade auf die »gedanklich vorweggenommene kommunistische Gütergemeinschaft«, auf die hin »das ganze Buch angelegt« sei.

Und tatsächlich nimmt in »Utopia« die Gütergemeinschaft samt den sie begleitenden Neuerungen einen zentralen Platz ein: Abschaffung des Geldes, Einführung einer menschenfreundlichen Arbeitskultur, einer allgemeinen kommunalen Kranken- und Altenpflege, eines allgemeinen und gleichberechtigten Bildungssystems. Bis hin zu den fakultativen Gemeinschaftsmahlzeiten steht »Utopia« im Zeichen einer kommunalisierten Humanität. Humanität ist in »Utopia« Staatsdoktrin. Ein wunderbares Land, von dem allein nur so konkret zu träumen im Jahre 1516 eine außergewöhnliche Leistung gewesen wäre. Thomas Morus aber träumt gar nicht von einem Paradies. »Utopia« ist für Morus nicht der Entwurf einer idealen Möglichkeit, sondern einer realen Notwendigkeit. Denn die alles entscheidende Frage, die diesen Entwurf bestimmt, zielt nicht auf ein Land, in dem »Milch und Honig fließen«, sondern auf einen Staat, der Bestand und also Zukunft hat.

Des Raphael Hythlodeus Bericht über die Insel Utopia schließt mit einer Quintessenz, die alles trägt: Die Utopier »haben sich Lebenseinrichtungen geschaffen, mit denen sie das Fundament eines Staates legten, dem nicht nur das höchste Glück, sondern, nach menschlicher Voraussicht wenigstens, auch ewige Dauer beschieden ist.«

Karl Kautsky hat in seiner Morus-Biographie sehr ausführlich die ökonomischen und sozialen Umwälzungen beschrieben, die das englische Königreich mit dem Ausgang des 15. Jahrhunderts in jene dramatische Krise stürzten, die von Morus in »Utopia« geschildert wird. Die frühkapitalistische Entwicklung setzte besonders in England katastrophale Prozesse in Gang. Der Verfall des Feudaladels überschwemmte das Land mit seiner nunmehr vogelfreien Gefolgschaft. Massen von Bauern wurden Opfer der neuen Landbesitzer und ihrer allein auf die Wollmanufakturen abgestellten Schafzucht. Handwerker unterlagen der neuen Manufakturkonkurrenz, und aus einst wohlversorgten Militärs wurden marodierende Räuberbanden. England drohte im Chaos zu versinken, in Elend und Anarchie. Was Marx dreieinhalb Jahrhunderte später im »Kapital« theoretisch (auch unter Aufnahme drastischer Schilderungen in »Utopia«) darstellen konnte als »ursprüngliche Akkumulation« des Kapitals und also als eine Übergangsphase, das war für Thomas Morus alles andere als ein zukunftsträchtiger Progreß. Für Morus war das praktisch das Ende seines Staates, der Untergang und also eine Katastrophe.

Und in eben dieser Katastrophenstimmung wurde »Utopia« geschrieben – nicht als ein verspielter Entwurf eines idealen Staates, sondern als eine Denk-Schrift, die den Ausweg aus der Katastrophe weisen will. »Utopia« verdankt sich nicht einer grenzenlosen humanistischen Phantasie, sondern der not-wendigen Frage nach dem möglichen Ausweg eines Staates, der vor dem Abgrund steht.

Der Ausweg, den Morus denkbar machen will, ist kühn und radikal. Wer vor dem Abgrund steht, der kann nur noch umkehren. Am Abgrund zählen keine Reformprogramme; es gibt nur noch Alternativen. Ein Staat, der kopfsteht, muß auf die Füße gestellt werden, das heißt die Gesamtheit seiner traditionellen und offenkundig unheilvollen politischen und gesellschaftlichen Prinzipien muß umgekehrt werden – geradezu ins glatte Gegenteil. Und genau dies tut Morus in »Utopia«. Die »Wende« wirkt total und zielt auf alles, was gewendet werden kann und muß. Vor allem zielt sie auf das Denken. »Verkehrte Meinungen« muß man »mit der Wurzel ausrotten«. Und da gibt es vieles auszurotten: die unselige Meinung, daß es wichtiger ist, neue Reiche zu erobern, statt das eigene gut zu verwalten; daß Kriege unvermeidlich sind und nicht das Ergebnis einer planmäßigen und vorsätzlichen Kriegspolitik; daß sich die Fürsten und ihre Berater vornehmlich mit militärischen Fragen und nicht mit der Kunst des Friedens zu befassen haben; daß eine volle Kriegskasse die Sicherheit des Landes befestigt und nicht seinen Untergang herbeiführt; daß Kriegsruhm etwas Großes ist und nicht etwas erbärmlich Unrühmliches.

Die Friedensfrage nimmt in »Utopia« verständlicherweise einen breiten Raum ein. Aber nicht nur hier muß total umgedacht werden, wenn der Staat Bestand und Zukunft haben soll. Sämtliche konventionellen Maßstäbe bedürfen einer neuen Legitimation und, wenn nötig, einer totalen Erneuerung. Weil das Elend Ursachen hat, muß man die Ursachen beseitigen und nicht etwa Todesstrafe für Tagediebe verhängen. Weil der Besitz immer auf Kosten anderer geht, muß man das Privateigentum abschaffen und natürlich auch das Geld, das Armut ja erst schafft. Und selbstverständlich haben die Bordelle zu verschwinden, und – Morus treibt es in den eklatanten Widerspruch – aus Gold und Silber darf man höchstens Nachttöpfe machen, nicht aber prunkvolles Tafelgeschirr. Wer die Jagd liebt, der haßt das Leben; wer einen Krüppel verlacht, der ist ein Unmensch; wer sich schminkt, der ist ein Idiot. Was ist Utopie? Für Thomas Morus jedenfalls nicht der Traum von einer besseren Welt, die Hoffnung auf Verbesserung, die Erinnerung an einen »Urstand«, ein Entwicklungsprinzip der Geschichte. In »Utopia« sieht es in der Tat ganz anders aus als im England Heinrich VIII. Aber: es muß alles eben ganz anders aussehen, wenn England Bestand haben will. »Utopia« ist der kategorische Imperativ zu einem grundsätzlich alternativen Denken angesichts einer gesellschaftlichen Situation, die sich in den Kategorien apokalyptischer Endzeit beschreiben läßt. »Utopia« ist für Morus zugleich der präzise Ausdruck dafür, daß das von ihm eingeforderte neue Denken am Abgrund der Katastrophe in dieser Welt noch keinen Ort hat. Ou-topos: kein Ort, nirgends, wo so gedacht wird. Das aber nimmt dem Begriff der Utopie jegliche Erbaulichkeit. Wer mit Morus von Utopie spricht, der redet nicht einfach von Zukünftigem, sondern davon, daß es für die Zukunft in der Gegenwart noch keinen verbürgten Ort gibt. Morus ist kein Optimist, dem es gegeben ist zu glauben, es werde schon alles irgendwie werden. Seinem Realismus eignet eher Pessimismus, der im Begriff U-topia zum Ausdruck kommt und Alternativen formuliert: Entweder bekommt das neue Insel-Denken einen Ort in dieser Welt – oder die Welt wird nicht mehr bleiben als eine Insel, der jederzeit die Überflutung droht.

EIN GEGENSTÜCK ZUR UTOPIE

Der Utopie-Begriff des Thomas Morus ist nicht getragen von dem Gedanken an das, was künftig machbar wäre und wünschenswert. Er wird vielmehr bestimmt von dem, was notwendig ist, um Zukunft überhaupt zu garantieren. »Utopia« ist kein Fortschritt in die Zukunft, sondern ein Rücktritt von einem Denken, das die Zukunft in Frage stellt.
Wer den Utopie-Begriff bei Morus disloziert, kann nicht mehr unkritisch »Utopie-Geschichte« schreiben und etwa Francis Bacon und Thomas Morus in Synopse bringen.

Bacons »Nova Atlantis« von 1627 ist – gemessen an dem Inbegriff von Utopie bei Morus – gerade keine Utopie, geradezu das Gegenteil davon. Denn Bacons Zukunftsoptimismus ist völlig ungebrochen. Er sieht sich am Anfang einer zukunftsträchtigen Entwicklung, nicht an deren Ende. Was alles möglich ist und machbar, das will Bacon zeigen. Da wird in der Tat geträumt und phantasiert von einem Land, das einer riesigen Akademie der Wissenschaften gleicht. Erfindungen erleichtern das Leben, befördern den Überfluß. Alles hat seine feste Ordnung wie in einem wissenschaftlichen System. Bacon schreibt die erste Science Fiction, und für die Wissenschaft braucht er die klinisch saubere, geordnete Gesellschaft.

Morus ist da viel skeptischer. Die ungeahnten Möglichkeiten der Akkumulation des Kapitals hat er noch gar nicht im Blick. Allein schon den Kompaß hält er für sehr ambivalent: eine Erfindung, die zwar große Vorteile bringe – aber, unvorsichtig eingesetzt, noch größeren Schaden verursachen könne.

Wer »Utopie« an Bacon definiert, muß sich von Morus trennen, denn das sind Alternativen, die nicht in eine Geschichte gehören, bloß weil die Gattung »Staatsroman« das nahelegt. Hier fallen semantische Grundentscheidungen, die nur um den Preis umgangen werden können, den Begriff der Utopie zu einer völlig diffusen Kategorie verkommen zu lassen. Entweder Morus oder Bacon. Diffus genug ist das Utopie -Gerede in der Tat geworden. Doch aufs Ganze gesehen hat sich die Geschichte doch entschieden: für Bacon und also für »Utopie« als den (literarischen) Traum von einem Land, in dem Bedingungen geschaffen sind, unter denen alle Menschen endlich glücklich und zufrieden leben können.

Daß Marx und Engels diese Utopie (im Hegelschen Sinne) »aufheben« mußten, ist verständlich. Und verständlich ist auch, warum der Skopus von »Utopia« für sie gar nicht mehr in den Blick kommt: Wenn die Revolutionen die Lokomotiven der Geschichte sind, dann wird des Morus These abständig, die da – mutatis mutandis – besagt: Revolutionen sind nicht die Lokomotiven der Geschichte, sondern deren Notbremsen. Utopia oder Barbarei.

DIE TOTALE KORREKTUR

Die sogenannte »Utopie« des Francis Bacon hat eine ganz eigene Rezeptionsgeschichte, aber auch Thomas Morus hat Nachfolger gefunden, wenn auch bei weitem nicht so viele. Vielleicht wird man vorbehaltlos sogar nur zwei Namen nennen können: Tommaso Campanella und Johann Valentin Andreae.

Ernst Bloch hat Campanellas »Civitas solis« von 1623 ein »Gegenstück zu Morus« genannt. Genau dieses aber ist der »Sonnenstaat« nicht, auch wenn es in ihm tatsächlich weit strenger zugeht als in »Utopia«. Campanella will den Zentralismus, er will durchaus auch Hierarchie – vor allem aber will er Ordnung in das Ganze der Gesellschaft bringen. Doch dieses stellt ihn nur vordergründig in einen Gegensatz zu Morus. Ein »Gegenstück zu Morus« wird daraus nur, wenn man mit Bloch das formale Schema »Freiheit und Ordnung« anlegt und nicht den von Morus inhaltlich geprägten Utopie-Begriff verrechnet. Genau dieser aber trägt den »Sonnenstaat« – natürlich mit dem spezifischen Gepräge seines italienischen Autors, der als Dominikaner-Mönch 27 Jahre im Kerker zubringen mußte.

Die Welt, die Campanella erlebt, verdichtet sich für ihn zum Inbegriff des Nichtigen. Von Gottes guter Schöpfung ist im Blick auf die Menschen kaum etwas zu merken. Hier regiert das Unrecht und das Böse. Das Elend zerfrißt den Leib und das Gemüt. Wohin man auch schaut, überall erbärmliche Verhältnisse und niedrige Gesinnung. Gemessen an der Ordnung der Natur, deren Maß sich berechnen läßt, die als Kosmos auch Schönheit ist und Harmonie – gemessen an dem regelmäßigen Verlauf von Sonne, Mond und Sternen, verläuft das Leben in der Menschenwelt chaotisch. Das Reich des Menschen ist unberechenbar, gnadenlos willkürlich. Nirgends erkennt man einen Plan. Gesetze gibt es nur dem Namen nach. Der Zufall regiert, Dummheit beherrscht das Land, und blanke Gewalt erstickt jeden Keim der Vernunft.

Düsterer als Campanella kann man die Gesellschaft der Menschen ja kaum empfinden. Ganz sicher ist das auch eine Frage der Perspektive und des historischen Ortes. Und Campanellas Italien ist durchaus der Ort, an dem man so empfinden kann – und auch empfinden muß, wenn man das Leben von unten sieht.

Wie »Utopia« so ist auch der »Sonnenstand« nicht etwa eine ideale civitas, sondern eine notwendige Gründung. Das unterscheidet auch Campanella von Bacon und dessen Nachfahren. Seine Utopie trägt nicht den Charakter des Idealen. Ideale sind Superlative, die Gegebenes optimieren. Campanella aber will – wie Morus – das Gegebene gerade destruieren und neue Gegebenheiten setzen. Und dafür hat er – aus seiner Sicht – auch allen Grund, fast noch mehr Gründe als Morus. Für Morus steht die Frage nach der Überlebensfähigkeit des Staates auf dem Spiel, die Frage nach der Zukunft. Doch was für Morus der befürchtete Zusammenbruch ist, das ist für Campanella das ganz Normale. Für ihn ist alles noch viel schlimmer. Die Welt droht nicht erst aus den Fugen zu geraten, sie ist noch nie gefügt gewesen. Und das wird auch künftig so bleiben, wenn nicht der Mensch selber hier eingreift und Ordnungen schafft, die auf der Höhe der Natur sind.

Campanella hat sehr drastisch eingegriffen. Natürlich gibt es in dem »Sonnenstaat« nicht mehr das Eigentum, das andere versklavt. Kommunalität bestimmt nun das Leben in jeder Beziehung – aber auch Bildung und Weisheit. Und natürlich auch die Astrologie. Warum soll ein Menschenleben weniger berechenbar sein als die Bahnen der Sterne?! Also muß man etwas dafür tun, im Großen wie im Kleinen. Das Große ist der einheitliche Weltstaat, der der Einheit der Natur entspricht. Das etwas Kleinere beginnt schon mit der Zeugung: die Dicken paaren sich mit den Dünnen und die Langen mit den Zukurzgekommenen. Harmonie muß erzeugt werden, Ordnung muß hergestellt werden, sonst bleibt die Menschenwelt ein Chaos. Mit Platons Politik der »Menschenzucht«, die zudem ausschließlich militärischen Gewinn erzielen soll, hat Campanellas Harmoniestreben nichts zu tun. Und doch hat man sich über Campanella immer mehr ereifert als über den Griechen Platon. Das sei alles »fanatischer Kommunismus«, eine »gewaltsame Beglückung der Menschen«. Macht und Gewalt ist für Campanella kein Abstraktum. Schließlich schreibt er im Gefängnis. Aber daß Macht als solche böse sei, kann man im »Sonnenstaat« in der Tat nicht lesen. Auch die Natur ist mächtig und gewaltig. Aber in ihr hat die Macht einen Sinn für das Ganze. Und es geht auch nicht darum, die Menschheit gewaltsam zu einem »Zurück zur Natur« zu zwingen. Campanella will nicht zurück, er will heraus aus einem Zustand der Menschheit, der noch nicht einmal das geregelte Maß der Natur hat. »Vorwärts zur Natur«, das ist sein eigentlicher Gedanke.

Wie bei Morus so zeichnet sich auch bei Campanella der Utopie-Begriff in das Katastrophale ein. Morus will die Katastrophe verhindern, Campanella will das Katastrophale überwinden. Der württembergische Theologe Johann Valentin Andreae will eigentlich beides, wenigstens will aber seine »Christianopolis« eine »Fluchtburg für das Wahre und Gute« sein. Bevor Andreaes »Christianopolis« 1619 erschien, konnte ihr Autor wahrscheinlich schon Einblick nehmen in Campanellas »Sonnenstaat«, dessen erste Fassung bereits 1602 entstanden war. Einfach abgeschrieben hat Andreae aber weder bei Campanella noch bei Morus, wiewohl in Zentralem Übereinstimmung herrscht: kein Geld, kein produktives Privateigentum, Kommunalität in jeder Hinsicht und Arbeit und Bildung für alle und zwei Tafeln, auf denen zehn Gebote stehen, die Gesetzeskraft haben und von allen befolgt werden.

Der Protestant Andreae macht sich ganz einfältig und sagt: Wir brauchen nur die zehn Gebote zu halten, dann haben wir eine andere Welt. So einfach ist das, und es ist offensichtlich doch einfach nicht möglich. Denn diese Welt wird nicht von den Zehn Geboten, sondern vom Teufel regiert. Und es sieht ganz danach aus, daß dies auch so bleiben wird – bis zum jüngsten Tage. Aber wehe der Kirche, die sich mit einem Staat abfindet, dessen Wappen von »Sinnbildern der Roheit und Eitelkeit« besetzt ist und nicht von »Werkzeugen der Menschlichkeit und Arbeit« geziert wird. Schon erstaunlich: Hammer und Sichel in der Tradition eines württembergischen Frühpietisten. Andreaes Protest gegen Staat, Kirche und Gesellschaft konnte im ersten Jahr des Dreißigjährigen Krieges radikaler nicht ausfallen. Diese Radikalität entspricht einer an die Wurzeln gehenden Diagnose, die wie bei Morus und Campanella lautet: diese Welt ist in einem katastrophalen Zustand – und nur mit einer radikalen Therapie zu retten. Viel Hoffnung hat Andreae dabei allerdings nicht. »Christianopolis« ist kein Kind des historischen Optimismus. Andreae kokettiert nicht mit einer lichten Zukunft. Wo der Teufel regiert, da ist Zukunft ohnehin kein schönes Wort. Doch wehe der Kirche, die sich abfindet mit der »Normativität des Faktischen« und Fatalismus predigt und dem Teufel nicht auf der ganzen Linie und in jeder Beziehung den Kampf ansagt und also nicht bereit ist zur totalen Korrektur in Staat und Kirche und Gesellschaft!

DER UTOPISCHE EINGRIFF

Der von Morus definierte Inbegriff von Utopie zeigt Traditionslinien, die weit zurückreichen, bis hinein in die alttestamentliche Prophetie und die neutestamentliche Predigt von der Metanoia, von der Umkehr. Doch nicht schon das bloße Modell einer Stadt, eines Staates ist Utopie in des Wortes Bedeutung. Der Staatsroman als solcher muß nicht utopisch sein, auch wenn er sich durchweg an Idealem orientiert. Utopien beschreiben nicht das Ideale, sie modellieren Antithesen, die den Ausweg suchen.

»Utopia« sieht nur einen Ausweg: das Ganze eines Staates muß verändert werden, und schon das Denken selbst bedarf der radikalen Korrektur.

Ein Thomas Hobbes sieht das ganz anders, wiewohl er das Ganze im Blick hat. Sein »Leviathan« von 1651 rechnet erst gar nicht damit, Grundsätzliches verändern zu können. Der Mensch ist, wie er ist – und dementsprechend sieht auch die Gesellschaft aus: ein bellum omnium contra omnes. Da kann man die Menschen höchstens auf ihren Egoismus ansprechen und ihnen bewußt machen, daß sie um ihrer Selbsterhaltung willen gezwungen sind, den Kampf aller gegen alle einzustellen. Dieses aber bedarf eines radikalen Eingriffs in die Gesellschaft. Die naturgegebene Gleichheit aller Kombattanten muß an einer Stelle durchbrochen werden: der Souverän herrscht absolut und wird darin -ganz wider die »Natur des Menschen« – von allen anerkannt. Und nur so kann er seine Aufgabe erfüllen, die Untertanen voreinander zu schützen und das Land nach außen erfolgreich zu verteidigen.

Hobbes rechnet mit der »Natur« des Menschen und sieht sich gerade deshalb zu einem »widernatürlichen« Eingriff gezwungen, von dem er sich Bewahrung vor dem Untergang verspricht. Die civitas als solche soll im Prinzip nicht verändert, sie soll lediglich nachhaltig stabilisiert werden.

Ganz ähnlich denkt schon Platon. Und analog wirkt auch die Situation. Was für Hobbes die englische Revolution ist, das ist für Platon der peleponnesische Krieg.

Platons Antwort auf die Herausforderung des griechischen Bürgerkrieges ist die »Politeia«, der große Dialog über den Staat, um den es nicht gut bestellt ist in einer Welt, in der der Krieg zum Alltag gehört. Auf den Gedanken, den Krieg zu ächten, wenn er doch an die Fundamente der Polis geht, kommt Platon nicht. Seine staatserhaltenden Erwägungen fallen ausgesprochen simpel aus und lauten: Wenn der Krieg den Staat bedroht, muß man dessen Wehrfähigkeit erhöhen. Das ist denn auch schon der eigentliche Inhalt der »Politeia«, die nun beschreibt, wie man das gründlich macht. Auch Platon protestiert gegen den status quo: gegen die Krise der Polis, die sich zur »ungesunden« Großstadt auswächst und mit ihrer politischen Identität ihre Wehrfähigkeit verliert. In einer vom Krieg dominierten Welt aber bedeutet der Verlust der Wehrfähigkeit und Kriegstüchtigkeit eine Infragestellung der Überlebensfähigkeit. Auch Platon philosophiert am Rande der Katastrophe, weit weg vom Ideal des besten aller Staaten, ganz eingebunden in die Frage nach der überlebensnotwendigen Korrektur. Das Ganze darf diese freilich nicht berühren, denn schließlich soll der Stadt-Staat bleiben, was er einmal war: aristokratisch regiert und beherrscht. Und so geht es in der »Politeia« fast ausschließlich nur um das Militär und darum, wie diese »Wächter« zu halten und zu züchten sind. Am besten eben so, daß nur die Tüchtigsten den Tüchtigsten beischlafen dürfen, damit auch der Nachwuchs ganz tüchtig wird. Was sonst noch zur Welt kommt, wird beiseite geschafft, wenn es nicht vorher schon abgetrieben werden konnte. Ein richtiges Heer muß gezüchtet werden. Wie eine »Herde« (V,8) muß es auf voller Höhe bleiben. Die Frauen als »weibliche Schäferhunde« (V,3), die Kinder als künftige Krieger, die schon Schlachten beiwohnen sollen, um zuzusehen, wie ihre (ihnen unbekannten) Eltern den Feind besiegen.

Entscheidend für Platon ist das Heer, das doppelsinnige Wort von der Heeres -Zucht. Hier greift er korrigierend ein, um seiner Polis Dauer zu verleihen.

Auch Hobbes stützt sich lediglich auf einen Punkt: der Souverän befriedet seine Untertanen. Doch Hobbes weiß, daß das ganz »unnatürlich« ist. Platon will wieder ganz »natürlich« werden: die Armee muß man züchten wie Rassehunde (V,8).

ABSCHIED VON DER UTOPIE?

Gemessen an Morus, Campanella und Andreae wirken Platon und Hobbes geradezu realistisch – in des Wortes traditioneller Bedeutung. Sie wollen die Welt nicht verändern, sondern nur dafür sorgen, daß der status quo erhalten bleibt. Um das zu erreichen, bedarf es des spektakulären Eingriffs in das Fundament eines Staates. Die außerordentlich große Bedrohung kann nur noch durch außergewöhnliche Maßnahmen abgewendet werden.

In dieser Überzeugung liegt der Utopie-Gehalt der »Politeia« und des »Leviathan«. Und hier treffen sich Platon und Hobbes mit Morus bei jenem Utopie-Begriff, der als Inbegriff von Überlebensstrategie den Ausweg sucht. Die Differenz aber ist erheblich. Für Morus ist das Ganze des Staates nur noch dann zu retten, wenn der Staat ganz umgestaltet, wenn das Alternative zum Prinzip des politischen Denkens erhoben wird. Wenn die Welt kopfsteht, muß man sie auf neue Füße stellen.

Von diesem alternativen Denken ist bei Platon und Hobbes nichts zu spüren. Ihr utopischer Eingriff bleibt partiell und konventionell, gebunden an den Vorsatz, daß sich möglichst gar nichts ändern soll.

Fazit: Wer heute überhaupt noch von Utopie sprechen will, der muß sich fragen lassen, mit wem er es zu halten bereit und in der Lage ist. Und wer sich politisch bis zu Morus zurück – bzw. heraufarbeiten will, der muß damit rechnen, daß er sich im Sinne Kants strafbar macht. Aber ein anderer Utopie-Begriff als der in »Utopia« zur Welt gekommene macht heute ohnehin keinen Sinn mehr, er wäre, um Hacks das letzte Wort zu lassen, nichts als peinlich.


Dieser Beitrag ist die gekürzte Fassung eines Referats, das Dieter Kraft auf der fünften wissenschaftlichen Tagung der Peter -Hacks -Gesellschaft gehalten hat

Er ist am 10.11. 2012 in der jungen Welt erschienen.

1 I. Kant, Streit der Fakultäten, 2. Abs. 9, Anm.
2 P. Hacks, Werke Bd. 13, S. 490.
3 Ebd., S. 223 und 225.
4 Werke Bd. 15, S. 267.