Die Autonomie der Technik
Übersetzung: Nike Wilhelms, Marian Krause
Es ist Jacques Ellul, dem wir die kritische Hinterfragung der entscheidenden Bedeutung der Technik als politischer Instanz und als Eindringling in die gegenwärtigen Gesellschaften verdanken. Entsprechend seiner frühen Analyse beginnt die Instanz der Technik, sich der Wirtschaft ab dem 20. Jahrhundert einzuschreiben. Ihre Entwicklung macht sich nicht nur endgültig unabhängig von den sozialen Bedingungen, sondern sie konditioniert und provoziert zunehmend soziale und politische Veränderungen. Ellul analysiert die Technik anhand fünf verschiedener Aspekte: Automatisierung, eigenständiges Wachstum, Einheit, Universalität und Autonomie. Die vorliegende Textauswahl widmet sich dem letzten Aspekt und entstammt der überarbeiteten Fassung von La technique ou l'enjeu du siècle (1954).
Im Laufe der gesamten Geschichte gehörte die Technik ohne Ausnahme der Zivilisation an und sie war Bestandteil einer Vielzahl von nicht–technischen Tätigkeiten. Heute umfasst die Technik¹ die gesamte Zivilisation.
Natürlich ist die Technik nicht die simple Ersetzung der menschlichen Arbeit durch die Maschine. Sie ist dazu übergegangen, in den Wesensgehalt von Organischem und Anorganischem einzugreifen. Im Bereich des Organischen führt sie Erhebungen aus, die die Quellen des Lebens selbst betreffen: Sie steuert die Fortpflanzung, beeinflusst das Wachstum, sie verändert das Individuum und die Arten. Der Tod, die Zeugung, die Geburt und die Lebensräume unterliegen der Rationalisierung als letzter Stufe der endlosen industriellen Kette … Was als persönlichstes Element des menschlichen Lebens galt, ist heute technisiert: Die Art und Weise der Erholung ist Gegenstand von Entspannungstechniken; die Form, wie Entscheidungen getroffen werden, ist Gegenstand betrieblicher Forschungstechniken.
Wie also ließe sich glauben, dass nicht die gesamte Zivilisation betroffen ist, dass sie nicht eingenommen ist durch die Autonomisierung der Technik, wenn selbst die menschliche Substanz in Frage gestellt wird?
Die Tatsache der Autonomie der Technik sollte je nach den Kräften, von denen sie unabhängig ist, aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet werden. In erster Linie ist die Technik der Wirtschaft und der Politik gegenüber autonom. Wie bereits festgestellt, sind es gegenwärtig nicht die wirtschaftlichen oder politischen Entwicklungen, die den technischen Fortschritt beeinflussen. Der Fortschritt ist auch gänzlich unabhängig von sozialen Bedingungen. Es ist sogar das Gegenteil der Fall – der umgekehrten Ordnung muss man folgen (wir werden zu einem späteren Zeitpunkt noch ausführlich darauf zurückkommen). Technik bedingt und verursacht soziale, politische und wirtschaftliche Veränderungen. Sie treibt auch alle weiteren gesellschaftlichen Prozesse an – selbst wenn das nicht so wirkt. Selbst wenn unser Hochmut vorgibt, der Mensch könne durch seine philosophischen Theorien noch maßgeblichen Einfluss nehmen und durch seine politischen Systeme zu entscheidenden Veränderungen beitragen. Es sind nicht mehr äußere Notwendigkeiten, die die Technik bestimmen, sondern interne. Sie ist eine eigene Realität geworden, die sich selbst genügt und über ihre eigenen Regeln und unterschiedlichen Bestimmungen verfügt.
Wir irren uns hier nicht. Selbst wenn der Staat sich beispielsweise in technische Bereiche einschaltet; wenn er aus sentimentalen, theoretischen, intellektuellen Gründen eingreift, und sein Eingreifen daher negativ oder gegenstandslos sein muss. Oder aber, wenn der Staat aus politisch–technischen Gründen eingreift und wir dann lediglich die Mischung aus zwei Techniken haben. Es besteht keine andere Möglichkeit. Jede historische Erfahrung der vergangenen Jahre beweist dies.
Doch darüber hinaus manifestiert sich die Autonomie der Technik auf einer weiteren Ebene – und zwar hinsichtlich der Moral und der geistigen Werte. Technik duldet keinerlei Urteil, sie akzeptiert keine Beschränkung. Eher aufgrund der Technik als durch die Wissenschaft hat sich das wesentliche Prinzip etabliert: Jeder für sich. Die Moral urteilt über moralische Probleme; technische Fragen gehen sie nichts an. Hierbei spielen ausschließlich technische Kriterien eine Rolle. Die Technik, die über sich selbst urteilt, findet sich ganz offensichtlich von den größten Hindernissen des menschlichen Handelns befreit (ganz unabhängig davon, ob deren Gültigkeit berechtigt ist oder nicht – halten wir zum jetzigen Zeitpunkt lediglich fest, dass es auf jeden Fall Hindernisse gegeben hat). So gewährleistet sie auf theoretische und systematische Weise die Freiheit, die sie sich erobert hat. Sie hat keinerlei Beschränkung mehr zu befürchten, da sie sich jenseits der Kategorien Gut und Böse befindet. Es wurde lange so getan, als ob sie ein neutrales Objekt sei. Doch heute hilft dies nicht mehr: Ihre Macht und ihre Autonomie sind so gut abgesichert, dass sie sich selbst in einen Richter über die Moral verwandelt – in eine neue moralische Instanz. Somit ist sie gleichzeitig Schöpferin einer Zivilisation und einer Moral, die der Technik innewohnt. Sie hat dadurch ausschließlich Vorteile und wird nicht von ihrem Kurs abkommen. Wie dem auch sei – gegenüber der traditionellen Moral stellt die Technik eine unabhängige Macht dar. Allein der Mensch (nicht wahr?) ist dem moralischen Urteil Untertan. Wir befinden uns nicht mehr in dem primitiven Zeitalter, in dem die Dinge entweder Gut oder Böse waren. Die Technik ist aus sich selbst heraus nichts und sie kann daher alles tun. Sie ist tatsächlich autonom.
Andererseits kann sich die Technik natürlich nicht unabhängig von physikalischen oder biologischen Gesetzmäßigkeiten machen. Ganz im Gegenteil – sie bringt diese in Gang und versucht in Wahrheit, deren Gesetzmäßigkeiten zu bestimmen.
In seiner bemerkenswerten Studie über die Mechanisierung und das Brot zeigt Giedion, dass „überall dort, wo die Mechanisierung auf eine lebende Substanz trifft, Bakterie oder Tier, die organische Substanz die Gesetze vorgibt.” Die Mechanisierung des Bäckerhandwerkes ist also kein Erfolg: Es werden mehr einzelne Arbeitsschritte, Pausen und Vorsichtsmaßnahmen als beim Backen per Hand benötigt. Die immens großen Maschinen sparen keine Zeit ein, sie ermöglichen es lediglich, größere Mengen zu bearbeiten. Er zeigt auch, wie versucht wird, das Brot zu verändern, um es den maschinellen Manipulationen anzupassen. Schließlich geht es darum, den Geschmack des Menschen zu verändern. Jedes Mal, wenn die Technik auf ein natürliches Hindernis stößt, tendiert sie dazu, es zu verkehren – entweder wird der lebende Organismus durch die Maschine ersetzt, oder der Organismus wird so verändert, dass er keine spezifischen Reaktionen mehr zeigt.
Dies beobachten wir in einem letzten Bereich, in dem sich diese Autonomie zeigt, und zwar in der Beziehung zwischen Mensch und Technik.
In Anbetracht des selbstständigen Wachstums der Technik wurde bereits deutlich, dass sie ihren Weg immer unabhängiger vom Menschen fortsetzt. Das heißt, dass der Mensch immer weniger aktiv am technischen Schaffensprozess teilnimmt, was aufgrund der automatischen Verknüpfung der besagten Elemente verhängnisvoll ist. Der Mensch wird in diesem Prozess auf die Rolle eines Katalysators reduziert, oder sogar auf eine Spielmünze, die in einen Automaten geworfen wird: Er löst eine Bewegung aus, ohne an dieser teilzunehmen.
Die Unabhängigkeit dem Menschen gegenüber geht jedoch noch viel weiter. Die Technik ist schließlich ein Mittel, das ein genaues mathematisches Ergebnis erzielen soll und es ist ihre Aufgabe, jegliche Veränderlichkeit und menschliche Ungenauigkeit zu beseitigen. Es ist ein Gemeinplatz, dass die Maschine den Menschen ersetzt, aber sie ersetzt ihn mehr als wir glauben können!
Die industrielle Technik wird sehr schnell dahin kommen, die Arbeitskraft vollständig zu ersetzen (was sich noch verstärken wird, wenn der Kapitalismus ihr dabei nicht im Weg ist). Der Arbeiter wird die Maschine weder steuern noch bewegen, sondern sie lediglich überwachen und reparieren. Er nimmt an der Arbeit nicht mehr teil als ein Coach bei einem Boxkampf. Es ist bereits heute Realität: Industrieroboter übernehmen einen Großteil der Arbeit und das ist weiter ausbaubar.
(…)
Wir befinden uns gerade erst am Anfang einer Entwicklung. Die ganze Kybernetik ist darauf ausgerichtet. In seinem erstaunlichen Buch zeigt de Latil all die Möglichkeiten auf, wie der Mensch durch die Technik ersetzt werden kann.
Nun muss dies aber fortgeführt werden. Der Mensch muss noch weiter aus diesem Kreislauf entfernt werden. Muss er das wirklich? Gewiss! Der Mensch, der den Arbeitsverpflichtungen entkommt, ist ein Vorbild. Jegliches Eingreifen des Menschen, so fortschrittlich und mechanisiert es auch sein mag, bedeutet eine Quelle von Fehlern und Unvorhersehbarkeiten.
Die Verknüpfung „Mensch–Technik” ist nur dann gelungen, wenn der Mensch dabei keine Verantwortung trägt. Er ist dauernd versucht, eine Wahl zu treffen, ohne Unterlass das Objekt unvorhersehbarer Versuchungen und emotionaler Regungen, die die Berechnungen verfälschen. Er ist auch empfänglich für Müdigkeit und Entmutigung. All das beeinträchtigt die Eigendynamik der Technik.
Der Mensch sollte in diesem Prozess nichts Entscheidendes verantworten, da er eine potenzielle Fehlerquelle darstellt. Die politische Technik ist bei aller technischer Präzision der Apparate und trotz der Dressur der Beteiligten durch einige unvorhersehbare Ereignisse gestört. (Es stimmt, dass die Technik noch in den Kinderschuhen steckt.) Ganz gleich wie exakt die Reaktionen des Menschen berechnet sein mögen, ein dehnbarer Koeffizient löst eine nicht akzeptable Ungenauigkeit für die Technik aus. Im Idealfall muss diese Fehlerquelle komplett eliminiert, der Mensch vollständig ausgeschlossen werden. So werden alsbald hervorragende Ergebnisse erzielt werden können. Der bewusste Techniker kann nur den Urteilen von Jungk Folge leisten: „Der Mensch bremst den Fortschritt” und „Aus der Sicht moderner Techniken hat der Mensch von heute versagt.” So sind durchschnittlich 10 % der Telefonanrufe falsch verbunden – was für ein miserabler Umgang des Menschen mit einem derart perfekten Apparat!
Die Statistiken sind genauer, seit sie nicht mehr vom Menschen, sondern von Maschinen und perforierten Karten erstellt werden. Maschinen verrichten heute nicht mehr grobe und simple Arbeiten, sondern führen unzählige subtile Arbeitsgänge aus. Sie erreichen mit ihren elektronischen Gehirnen bald eine intellektuelle Macht, zu der der Mensch nicht fähig ist.
So hat die „große Ablösung” weitreichendere Folgen, als es J. Duboin noch vor einigen Jahrzehnten angenommen hatte. Bouthoul, einer der kompetentesten Soziologen, die sich mit Kriegsphänomenen beschäftigt haben, kommt zu dem Schluss, dass Kriege immer dann ausbrechen, wenn in einer sozialen Gruppe „die Menge der jungen Menschen die wesentlichen Aufgaben in der Wirtschaft überwiegt.” Wenn die Menschen keiner Beschäftigung nachgehen, wenn sie aus irgendeinem Grund keine Beschäftigung haben, sind sie gleichzeitig eher bereit für einen Krieg. Je mehr Menschen von der Arbeit ausgeschlossen werden, desto wahrscheinlicher ist es, dass ein Krieg entsteht. Es wäre angebracht, sich das wenigstens bewusst zu machen, wenn man die ständige Reduzierung der Arbeitsbeteiligung der Menschen idealisiert.
Und dennoch ist es in diesem Bereich unmöglich, den Menschen auszuklammern. Die Autonomie der Technik wird sich also in einem anderen Sinne entwickeln. Die Technik ist jedoch einem Faktor gegenüber nicht autonom: Es ist die mit der Uhr messbare Zeit. Die Maschinen und die abstrakten technischen Regeln sind dem Gesetz der Schnelligkeit untergeordnet und die Koordination setzt die Anpassung an die Zeit voraus. In seiner Beschreibung der Fließbänder schildert Giedion: „Sehr genaue Zeitpläne führen hier die automatisierte Zusammenarbeit der Instrumente an, die wie Atome eines Planetensystems aus voneinander getrennten Einheiten bestehen, die aber in Beziehung zueinander stehen, indem sie den ihnen innewohnenden Gesetzen folgen.”
Dieses Bild zeigt auf beeindruckende Weise gleichermaßen die Unabhängigkeit vom Menschen und den Gehorsam gegenüber der Zeit. Die Technik gehorcht ihren spezifischen Gesetzen — so wie jede Maschine den anderen gehorcht. Jeder Bestandteil dieses technischen Gefüges folgt den Gesetzen, die von den anderen Elementen des Ganzen und den Systeminhärenzen bestimmt werden. Hier ist nichts durch fremde Faktoren beeinflussbar.
Es geht also nicht mehr darum, den Menschen verschwinden zu lassen, sondern ihn zum Bestandteil eines Prozesses werden zu lassen, ihn dazu zu motivieren, sich der Technik anzupassen – und keine persönlichen Gefühle und Reaktionen mehr zu empfinden. Technik ist mit freien Menschen nicht möglich. Wenn die Technik in alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens vordringt, prallt sie ununterbrochen auf Menschen. Die Verbindung „Mensch–Technik” ist unvermeidlich, insofern als dass die Wirkungsweise der Technik unbedingt zu einem vorbestimmten erfolgreichen Ergebnis führen soll. Die Vorhersage ist genauso notwendig wie deren Genauigkeit. Die Technik muss demnach den Menschen übertreffen; das ist für sie überlebenswichtig. Sie muss ihn zum technischen Tier reduzieren, zum König der technischen Sklaven. Es existiert keine Phantasie, die dieser Notwendigkeit Stand hält, der Mensch kann der autonomen Technik gegenüber nicht autonom sein. Der Mensch muss also von den Techniken bearbeitet werden, sei es auf negative (Techniken des Wissens über den Menschen) oder auf positive Weise (Anpassung des Menschen in den technischen Rahmen), um die Fehler seiner persönlichen Eigenschaften, die er in den perfekten Ablauf der Organisation einführt, verschwinden zu lassen.
(…)
Daher ist es unlauter, dass ein Mensch diesen Bemühungen entflieht. Genauso indiskutabel ist es, dass es im Menschen einen Teil gibt, der nicht in die Technisierung integriert werden kann und dass jemand in der Gesellschaft annehmen könnte, dieser Notwendigkeit entkommen zu können. Der Mensch kann sich weder körperlich noch geistig der Gesellschaft entledigen: Körperlich nicht, weil sein Leben auf zahlreiche Weisen vereinnahmt wird, so dass er dem Kollektiv nicht entrinnen kann. Es gibt keine Wüste mehr, keinen geografischen Ort zum Alleinsein, keine Straßen, Stromleitungen oder Talsperren, die nicht in einen gemeinschaftlichen Strom führen. Man kann unmöglich vorgeben, man könne nur auf sich gestellt auskommen, da man kollektive Phänomene und gemeinschaftliche Instrumentarien benötigt, um sein Existenzminimum zu sichern. In unserer Gesellschaft ist nichts mehr umsonst. Von der Wohltätigkeit anderer zu leben, wird zunehmend unmöglich. Die „sozialen Begünstigungen” sind nur für die Arbeiter gedacht, nicht für nutzlose Münder. Der Einzelgänger ist ein nutzloser Mund: Er wird bis zu dem Tage keine Essenmarke erhalten (und das wurde schon von der Convención versucht), an dem er nach Cayenne abtransportiert wird.
Und auch spirituell ist es unmöglich, sich von der Technik zu befreien. Dies liegt nicht allein an der Tatsache, dass spirituelle Techniken in unserer Gesellschaft immer stärker wirken. Vielmehr zwingt uns unsere Situation dazu, uns im Positiven wie im Negativen „in–Beziehung” zu den Techniken zu verhalten. Ständig wird unsere geistige Haltung eingefordert, wenn nicht sogar von dieser Situation bestimmt. Allein durch das Unbewusste, durch Animalität wäre es möglich, sich dieser Forderung zu entziehen. Doch unsere geistige Haltung selbst ist wiederum nur ein Produkt der Maschine.
Heute bewegt sich jedes Bewusstsein auf dem schmalen Grat einer Entscheidung gegenüber der Technik. Derjenige, der glaubt, sich dem entziehen zu können, ist entweder heuchlerisch oder ahnungslos. So hindert die Autonomie der Technik den Menschen von heute daran, sein Schicksal selbst zu bestimmen. Sie werden sagen, dass er nie die freie Wahl hatte, dass soziale Umstände, Milieu, Knechtschaft und Familie sein Schicksal früher bestimmt haben. Ich würde Ihnen zustimmen, aber die Beschränkung der Essenmarken in einem autoritären Staat ist mit dem familiären Druck von vor 200 Jahren nicht vergleichbar.
Wenn man vor 200 Jahren mit der Gesellschaft in Konflikt geriet, war das ein schweres und erbärmliches Los, das Energie erforderte, um nicht zu zerbrechen; heute sind es Konzentrationslager oder der Tod, weil die Technik keine abweichenden Aktivitäten aushalten kann.
Ebenso wenig wie sein Schicksal kann sich der Mensch heute seine Mittel aussuchen, da die Wandelbarkeit, die Flexibilität der Technik, je nach den Orten und Umständen, auf die wir hingewiesen haben, nicht verhindert, dass zu einem Ort und Zeitpunkt schon ein geeignetes technisches Mittel bereit steht (und das gilt für alle Menschen, da sie immer nur an einem Ort zu einem Zeitpunkt sein können). Die Gründe dafür wurden bereits erläutert.
(…)
Ohne das Heilige und das Geheimnisvolle kann der Mensch nicht leben. Darüber sind sich Psychoanalytiker (außer höchstens Marxisten!) einig. Nun profaniert die technische Invasion aber die Welt, in der der Mensch lebt. Für die Technik gibt es nichts Heiliges, kein Mysterium und kein Tabu: Und das ist die Folge der Autonomie, für die wir Beispiele gegeben haben. Sie akzeptiert es nicht, dass es Regeln und Normen gibt, die außerhalb von ihr existieren. Und noch weniger akzeptiert sie Urteile über sie selbst. Folglich ist all ihr Durchdringen, das, was sie macht, erlaubt, zulässig, gerechtfertigt.
Das Mysterium aber ist vom Menschen größtenteils erwünscht. Nicht, weil er das Mysterium nicht verstehen und durchdringen kann, sondern weil er es nicht will. Es ist eine unterbewusste Entscheidung, das Heilige zu respektieren. Das sich festsetzende Tabu wird zum sozialen Zwang, aber es schwingen stets Bewunderung und Respekt mit, die nicht aus Zwang oder Angst entstehen.
Technik verehrt nichts, sie respektiert nichts, sie hat nur eine Funktion: Den Dingen auf den Grund zu gehen, sie klarzustellen und anschließend jede Sache durch einen Rationalisierungs– und Transformationsprozess zu funktionalisieren. Mehr noch als die Wissenschaft, die sich damit begnügt, das „wie” zu erklären, profaniert die Technik, da sie durch Selbstverständlichkeit und nicht durch Verstand, durch ihren Gebrauch und nicht durch Bücher zeigt, dass das Mysterium nicht existiert. Die Wissenschaft durchschaut all das, was der Mensch für heilig gehalten hat, die Technik reißt es an sich und macht es sich zu Nutze. Das Heilige kann sich dem nicht widersetzen. Die Wissenschaft begibt sich auf den Meeresgrund, um unbekannte Fische zu fotografieren, die in den Untiefen herumspuken; die Technik fängt sie ein, befördert sie an die Luft, um zu sehen, ob sie essbar sind. Aber bevor sie auf dem Schiffsdeck ankommen, sind sie aufgeplatzt. Und warum sollte die Technik das nicht machen? Sie ist unabhängig, sie kennt allein die zeitlichen Grenzen ihrer Handlungen.
Darüber hinaus ist es in ihren Augen nicht das Mysterium, sondern die zum Zeitpunkt der Betrachtung unbekannte Erde, der man habhaft werden soll. Die Technik ist in der Tat weit davon entfernt, von einem Skrupel gegenüber dem Heiligen zurückgehalten zu werden. Sie setzt alles daran, sich durch nichts bremsen zu lassen. Alles, was noch nicht technisch ist, soll es werden. Sie wird von sich selbst angetrieben, durch ihr eigenes Anwachsen. Die Technik verneint demnach das Mysterium, ohne bis dahin vorgedrungen zu sein. Mysterium ist lediglich das, was noch nicht technisiert wurde.
Sie schafft es, das Leben und dessen Rahmen komplett neu zu erstellen, weil sie technisch optimierbar sind. Da der Nachlass voller Unwägbarkeiten ist, schlägt sie das Erbe aus, um die Menschen zu haben, die sie benötigt, um den idealen technischen Ablauf zu gewährleisten. Der perfekte Mensch wird bald ein einfacher technischer Arbeitsgang sein. Es ist nicht mehr erforderlich, auf die Zufälle innerhalb der Familie oder die persönliche Virilität zu zählen, die als Tugend bezeichnet wird. Die angewandte Genetik ist einer der Bereiche, in dem am deutlichsten wird, wie sehr die Technik profaniert. In diesem Sinne darf die Psychoanalyse nicht vergessen werden, wo Traum, Visionen und Psyche lediglich Objekte sind. Und man sollte ebenso wenig die Durchdringung und Nutzung der Geheimnisse der Erde vernachlässigen. Wir werden bald in den Wirkungsbereich der Fotosynthese eindringen und von dort aus die gesamten Lebensbedingungen vollständig verändern. Vor kurzem haben Studien zur Elektronik (1960) die Bedeutung der DNA ans Licht gebracht und werden vielleicht ermöglichen, den Zusammenhang zwischen anorganischen Stoffen und dem Leben herauszufinden.
Der Bereich der Götter, der nicht natürlichen Kräfte, wird immer bedeutungsloser. Der Mensch, der im technischen Umfeld lebt, ist sich sicher, dass das Spirituelle nirgendwo mehr eine Rolle spielt. Und doch erleben wir eine sonderbare Umkehrung. Der Mensch kann ohne das Heilige nicht leben; er überträgt den Sinn des Heiligen auf genau das, was all das zerstört hat, was Gegenstand desselben war: Auf die Technik. In der Welt, in der wir leben, ist die Technik das eigentliche Mysterium geworden. Und das in unterschiedlichen Ausprägungen, je nach sozialen Milieus und Rassen. Eine Bewunderung, die sich bei denjenigen mit Angst vor der Maschine mischt, die sich eine Vorstellung von Zauberei bewahrt haben. Das Rundfunkgerät stellt ein unerklärliches Mysterium dar, ein offensichtliches Wunder, das sich erneuert. Es ist nicht weniger verblüffend als die heftigsten Offenbarungen der Zauberei und man vergöttert es mit ebenso viel Ehrfurcht wie ein Götzenbild.
Doch die Gewohnheit, die Wiederholung des Wunders, lässt diese primitive Vergötterung schließlich langweilig werden. In den europäischen Ländern trifft man sie kaum noch. Es sind eher Proletarier, Arbeiter oder Bauern, die eine stolze Haltung gegenüber dem kleinen Gott haben, der ihr Sklave ist: Motorräder, Radios, Elektrogeräte. Gönnerhafter Stolz, ein Lebensideal, das in Gebrauchsgegenständen leibhaftig wird. Alle haben jedoch das Gefühl des Heiligen, insofern als ihnen ein Leben, dem diese technischen Mittel nicht zur Verfügung stehen, nicht lebenswert scheint. Aber das geht noch viel weiter, wenn wir es mit einem bewussten Proletarier zu tun haben. Hier wird Technik in ihrer Gesamtheit und nicht in zufälligen Aspekten wahrgenommen: Sie ist das Werkzeug zur Befreiung des Proletariats. Ihre bloße Weiterentwicklung führt dazu, dass sich das Proletariat ein wenig mehr aus seinen Ketten befreit. Stalin hält die Industrialisierung für die einzige Voraussetzung, den Kommunismus in die Tat umzusetzen. All das, worum sich die Technik verdient mache, komme dem Proletariat zugute.
Es handelt sich hier ganz offensichtlich um einen Glauben an das Heilige. Technik ist der rettende Gott, sie ist grundsätzlich gut; der Kapitalismus ist abscheulich, dämonenhaft und steht ihr manchmal im Weg. Technik ist die Hoffnung des Proletariats. Das Proletariat kann der Technik vertrauen, weil ihre Wunder wenigstens sichtbar und in Entwicklung sind. Dabei bleibt ein großer Teil des Mysteriums übrig. Wenn Karl Marx in der Lage war zu erklären, wie die Technik das Proletariat befreit hat, ist dies gewiss nicht auf dem Niveau der Proletarier, für die das nicht nachvollziehbar wird und daher mysteriös bleiben muss. Sie haben lediglich die Glaubensformel und ihr Glaube richtet sich voller Begeisterung auf dieses Werkzeug, das auf mysteriöse Art und Weise zu ihrer Befreiung beiträgt.
Die nicht intellektuellen bürgerlichen Klassen sind dieser Verehrung gegenüber vielleicht weniger anfällig. Aber die Techniker der bürgerlichen Klassen sind zweifellos am stärksten besessen: Für sie ist Technik heilig, obwohl sie keinerlei Grund dafür haben, eine echte Leidenschaft für sie zu hegen. Sie geraten immer aus der Fassung, wenn sie nach dem Beweggrund ihres Glaubens gefragt werden. Sie erwarten keineswegs Befreiung, sie erwarten überhaupt nichts von ihr, und doch opfern und widmen sie ihr leidenschaftlich ihr Leben, wenn es um die Entwicklung von Fabriken und die Organisation von Banken geht. Das Glück der Menschheit und andere Albernheiten sind Gemeinplätze, die nicht einmal mehr als Rechtfertigung dienen können und die nichts mit dieser Leidenschaft zu tun haben.
Der Techniker erzeugt Technik, vielleicht weil es sein Beruf ist, aber er erschafft sie mit Verehrung, weil sie für ihn im Bereich des Heiligen angesiedelt ist. In seiner Haltung gibt es keine Gründe und keine Erklärungen. Die leicht mysteriöse Kraft, die gleichwohl völlig wissenschaftlich ist, die die Erde mit ihrem Wellennetz und mit Papierfasern überzieht, ist für den Techniker ein abstraktes Vorbild, das ihm seinen Lebensinhalt und sogar Freude gibt. Ein Anzeichen dafür, dass es sich für ihn um etwas Heiliges handelt, zeigt sich in der Vertrautheit des Menschen gegenüber der Technik. Es ist bekannt, dass der Mensch oft mit Lachen und Humor auf die Anwesenheit des Sakralen reagiert. Dies trifft auf primitive Völker zu, ist aber auch der Grund, weshalb die erste Atombombe Gilda genannt wurde und der riesige Teilchenbeschleuniger von Los Alamos Clémentine heißt, warum Batterien „Wasserkrüge” genannt werden und eine radioaktive Kontamination als „Verbrennung” bezeichnet wird. Schließlich haben die Techniker von Los Alamos das Wort „Atom” komplett aus ihrem Wortschatz ausgeschlossen. All das ist sehr bezeichnend.
Unter Berücksichtigung dieser Aspekte lässt sich nicht von einer Religion der Technik sprechen. Es handelt sich vielmehr um ein Gefühl für das Heilige, das sich bei jedem Menschen anders äußert. Und bei all diesen wunderbaren technischen Werkzeugen kommt letztlich der Machtinstinkt stets in Verbindung mit einer gewissen Magie zum Ausdruck.
Denken wir an die explosiven Auswirkungen von Sputnik: Die sowjetischen Gedichte, den Traum von der Eroberung des Weltalls. Sputnik wurde mit der Sonne verglichen und seine Erfindung mit der Erschaffung einer neuen Welt gleichgesetzt. Denken wir an die Sorge der Amerikaner angesichts des Erfolgs von Sputnik. All diese Erscheinungen sind Ausdruck einer bestimmten gesellschaftlichen Haltung gegenüber Technik: Technik ist heilig, da sie der allgemeine Ausdruck der Macht des Menschen ist. Ohne sie fühlt er sich einsam, ungeschminkt, nackt. Ohne sie ist er nicht mehr der Held, das Genie, der Erzengel. Selbst diejenigen, die unter dem technischen Fortschritt leiden oder arbeitslos geworden sind, diejenigen, die durch Technik ruiniert wurden, selbst diejenigen, die sie kritisieren und bekämpfen (ohne es zu weit zu treiben, das ginge gegen all die Bewunderer der Technik), haben ihr gegenüber das gleiche schlechte Gewissen, das alle Ikonoklasten haben. Sie finden weder in sich selbst noch außerhalb etwas, das die Technik ersetzen könnte, die sie eigentlich in Frage stellen. Sie leben nicht in Verzweiflung, was Zeugnis ihrer Befreiung wäre. Dieses schlechte Gewissen erscheint mir am aufschlussreichsten für die heutige Verherrlichung der Technik.
All diese Eigenschaften legen nahe, dass sich die Technik vergangener Tage nicht mit der heutigen vergleichen lässt. Es handelt sich um zwei unterschiedliche Phänomene. Diejenigen, die die Beziehung „Mensch–Technik” der vergangenen Jahrhunderte auf die heutige Situation übertragen wollen, haben das Phänomen offensichtlich nicht ganz durchschaut. Hier Parallelen zu ziehen, entbehrt jeglicher Grundlage. Analogien dieser Art sind anastigmatisch.
Die berühmte These Alains muss widerlegt werden: „Das Werkzeug ist das ehrliche und aufrichtige Instrument zur Erfüllung unserer Bedürfnisse. Wenn wir ihm gehorchen, macht es uns unabhängig von den Gesetzmäßigkeiten der Natur; das Werkzeug ermöglicht Sieg durch Gehorsam.” Diese These mag zwar insofern zutreffen, als Werkzeuge es dem Menschen ermöglichen, eine gegebene und scheinbar unveränderliche Realität zu überwinden und insofern dies nur möglich ist, indem wir ihnen gehorchen. Der Gehorsam gegenüber Pflug und Säge mag tatsächlich das einzige Mittel sein, um sich Erde und Holz zu Nutze machen zu können. Doch die These trifft nicht mehr auf die heutige Technik zu. Denn sobald wir den Bereich der Technik betreten, haben wir es mit einer anderen Form von Bedürfnissen zu tun. Es sind keine natürlichen Bedürfnisse mehr, die Natur als solche spielt hier keine Rolle. Es handelt sich um rein technische Bedürfnisse, die gegenüber den natürlichen Bedürfnissen umso zwingender werden als diese verblassen und verschwinden. Dem lässt sich weder entfliehen noch ist es zu überwinden. Das Werkzeug war noch ohne Unwahrheit, doch die heutige Technik, die uns die scheinbar glanzvolle Objektivität des Ergebnisses suggeriert, führt uns in einen geheimen Bereich der Unwahrheit, in dem sich der Mensch aufgrund der Instrumente, die er verwendet, selbst nicht mehr erkennt.
Aus dem Französischen von Marian Krause und Nike Wilhelms
¹ Jacques Ellul studiert die „Technik“ unter einer sozial–anthropologischen (und nicht allein wirtschaftlichen) Perspektive. Auf der einen Seite geht sein Begriff von „Technik“ und „technisierter [Gesellschaft]“ weit über das strikte Schema der Maschinisierung oder der „wirkungsvollsten Methode, ein Ziel zu erreichen“ hinaus. Dem Autor nach etabliert die Technik den Wert und den Imperativ der Effizienz in allen Bereichen der menschlichen Tätigkeit. In diesem Sinne ist die „Technik“ eine Art und Weise, zu denken und zu sein. Es kann psychologische, pädagogische, landwirtschaftliche, wirtschaftliche und andere Techniken geben. Gemäß dieser Prämissen bevorzugt es Ellul, über die technische Gesellschaft anstelle der postindustriellen Gesellschaft zu sprechen. Auf der anderen Seite verwendet er den Begriff „Technologie“ lediglich mit Bezug auf den Diskurs (den Logos) über die Technik. (Anm. d. Redaktion)