”Solange, wie es keine weitverbreitete Übereinstimmung zur Existenz eines besseren Lebens außerhalb des Kapitalismus gibt, wird es keine Bewegung geben, mit der wir ihm erfolgreich entkommen.”

Jenseits der Sackgasse
Stategie und Richtung: Die sozialen Bewegungen und die Linken

Übersetzung: Miriam Hutter, Susan Tröger

Die politischen und sozialen Fragen, die Michael Albert aufwirft, erweisen sich ebenso sehr, wie die von ihm formulierten Antworten als hilfreich, um eine Reihe von Stillstandsmomenten der Linken zu überwinden und die konkrete Vorstellung von Veränderung wieder herzustellen. Der nordamerikanische Aktivist und Theoretiker ist in den letzten Jahrzehnten nicht müde geworden, die Linke und die sozialen Bewegungen in ihrem eigenen Vorgehen verstehen zu wollen (sei es durch die Publikation zahlreicher Bücher oder durch seine alltäglichen Aktivitäten im Informationsbereich bei ZCommunications). Ausgehend von dieser Auseinandersetzung rät er der Linken und den Aktivistenkreisen, ein großes Maß an Selbstreflexion und ein Bewusstsein für die Grenzen und Potenziale der Dogmen und Tugenden der eigenen Vorstellungswelten zu entwickeln.
Im Interview mit Júlio do Carmo Gomes spricht Michael Albert über Syriza, über die Rolle der Graswurzelbewegungen, die Bürokratisierung der Kämpfe, den verbreiteten Zynismus, das Klassenverständnis unter den Linken, die partizipatorische Ökonomie und die Dringlichkeit einer sozialen Vision – immer unter dem Gesichtspunkt der Notwendigkeit einer tiefgründigen und haltbaren sozialen Veränderung.

Auf den öffentlichen Plätzen in Griechenland war es relativ ruhig, als die linke Partei Syriza an die Macht gekommen ist. Was hältst Du von diesem scheinbaren Rückzug der griechischen Graswurzelbewegungen?

Die Menschen müssen neue Kraft tanken und wollen vernünftigerweise zunächst abwarten, wie groß der Einfluss von Syriza sein wird. Es wäre aber desaströs, wenn sich diese bewusste Pause zu einer ”Lass–die–Regierung–mal–machen–und–das–Beste–hoffen”–Mentalität entwickeln würde.

Während Syriza sich ihren Platz erkämpft, sollten die Bestrebungen der Basis aus meiner Sicht auf zwei Ebenen intensiv fortgesetzt werden. Erstens sollten nonelitäre Kreise, die Syriza bisher ablehnen, angesprochen werden, um hier neue Unterstützung zu gewinnen. Und zweitens sollte man mit den Wählerschaften Syrizas kooperieren, um gemeinsam Ziele für den anstehenden Kampf zu erarbeiten.

Meinst Du mit gemeinsamen Zielen, dass die sozialen Bewegungen Syriza zwingen sollten, einen antikapitalistischen Ansatz zu übernehmen?

Es wäre wertlos für Syriza, perfekte Grundsätze zu verfolgen, aber kaum Unterstützer zu haben, ganz unabhängig davon, woher diese Grundsätze kämen. Ebenso wertlos wäre es, jede Menge Unterstützung für ein defizitäres Programm zu haben. Beide Arten von Gruppen — tolle Ansätze, aber keine Unterstützung; miserable Ansätze und viel Unterstützung — gibt es überall. Es ist daher notwendig, dass Syriza ihren Einfluss und ihre Anhängerschaft ausbaut und gleichzeitig ihre Ansichten stetig weiter entwickelt und verbessert.

Deine Frage impliziert, glaube ich, dass die sozialen Bewegungen die besseren Ansichten vertreten — das kann gut sein, aber ich weiß es nicht. Es kann genauso gut sein, dass die Mitglieder von Syriza, sogar die hochrangigen Vertreter ebenso antikapitalistisch eingestellt sind, aber in einem ganz anderen Kontext agieren als die Demonstranten auf der Straße oder beim Häuserkampf. Unabhängig davon, was stimmt, sollte Syriza nicht nur um mehr Raum taktieren und ein kurzfristiges Progamm verfolgen, sondern alle gesellschaftlichen Gruppen mit einem potenziellen Interesse an ernsthaften Veränderungen ansprechen. Wenn man sich denen zuwendet, die einen im Moment als Feind betrachten, so ist es die Aufgabe, sie ernst zu nehmen und gut mit ihnen zu kommunizieren, zuzuhören und Angebote zu machen, in der Hoffnung, die Feindseligkeit zu überwinden oder sogar neue Verbündete zu finden. Und ich spreche natürlich nicht über reiche Gegner. Ich spreche davon, sich mit der arbeitenden Bevölkerung oder anderen entrechteten Bürgern zu verbünden, die Syriza abgeneigt oder sogar feindselig gegenüberstehen und vielleicht sogar nach ganz rechts driften. Nichts ist damit gewonnen, diese Menschen zu ignorieren oder als lächerlich abzutun. Es geht darum, sich ihnen zuzuwenden und sich mit ihnen zu verbinden.

Darüber hinaus gibt es sehr viele Griechen, prozentual gesehen vielleicht mehr als in jedem anderen europäischen Staat, die sich gegen die Sparpolitik und gegen die machthabenden Autoritäten wenden — und diese unterstützen in der Regel Syriza. Statt auf die überwiegend passive Unterstützung dieser Gruppe zu setzen, gilt es, sie auf dem Weg zu einem transformierten Griechenland gleichberechtigt einzubinden — sie einzubinden in die Entwicklung einer Vision der fundamentalen Veränderung, die kollektiv und öffentlich diskutiert wird und nicht nur am Abendbrottisch. Falls dies geschieht, woher wird dann die Substanz dieser neuen geteilten Vision kommen? Aus dem Inneren von Syriza? Aus den sozialen Bewegungen? Von bisher weniger engagierten und involvierten Bürgern? Ich weiß es nicht. Ich nehme an, es wäre eine Mischung aus allen. Aber ich bin ziemlich sicher, dass wir es nur dann erfahren, wenn wir uns darum bemühen.

Was hätte die emanzipatorischen Bewegungen von Island, Spanien, Griechenland und von Occupy Wall Street bis zum Taksim–Platz anhaltender und nachhaltiger gemacht?

Erstens kann Aktivismus wesentlich dazu beitragen, Anhängerschaften zu gewinnen. Zweitens kann er das Bewusstsein erhöhen, Strukturen aufbauen und die Einsatzbereitschaft der Anhänger für weitere Kämpfe steigern.
Was das betrifft, gab es einige kurzfristige Erfolge sowie eine deutliche Steigerung der öffentlichen Wahrnehmung und mancherorts auch der Selbstorganisation bei den genannten Bewegungen.

Was hätte man besser machen können? Vielleicht hätte die allgemeine Energie der Massen effektiver in anhaltende Veränderungen bestehender umgewandelt oder für der Schaffung neuer selbstkontrollierter Institutionen genutzt werden können. Und vielleicht hätte es ein selbstbewussteres Vorgehen beim Aufbau neuer Strukturen zur Kommunikation, Aufklärung und Mitgliedergewinnung geben können.
Aber all das ist noch in Entwicklung.

Kam es nach dem Abebben der Antiglobalisierungsbewegung, dem Ende der Antikriegsbewegung und der Institutionalisierung des antiliberalen Widerstandes in Lateinamerika zu einem Stillstand der sozialen Bewegungen?

Die Antiglobalisierungsbewegung hat das Bewusstsein geschärft und schuf den Nährboden für Occupy und darauf folgende Bewegungen. Mit ihr wuchsen viele der späteren Teilnehmer auf, sie entfachte viele der jetzt zirkulierenden Ideen und Stimmungen und brachte zahlreiche Taktiken voran.

Die jüngsten Antikriegsbewegungen haben keine Kriege beendet, aber wenn wir uns fragen, ob diese Kriege bis zum heute möglichen Grad an Zerstörung geführt wurden, haben sie viel erreicht.
Ohne 15M wäre Podemos beispielsweise ebensowenig möglich gewesen, wie die lokalen Basisbewegungen im Wohnungskampf. Das Gleiche gilt für Griechenland und die Rolle von Syriza dort.

Und schließlich, was heißt denn ”Institutionalisierung des Widerstandes” in Lateinamerika eigentlich? Ich vermute, es ist gemeint, dass die Energie der Opposition in bürokratischen oder autoritären Strukturen versumpft, die die sozialen Kräfte untergraben und Dynamiken der Unterdrückung etablieren.

Um ein Beispiel zu nennen: Als die brasilianische Linke, die Arbeiterpartei (PT) die Präsidentschaftswahl mit Lula gewann, hatte sie bereits einige Bürgermeister– und Gouverneursposten inne. Was in diesem Wahlsieg so verblüffte, ist, dass die PT in den von ihr regierten Gebieten schlechter abschnitt als in den anderen. Die PT verlor die Anziehungskraft einer Graswurzelbewegung, weil sie von den Komplexitäten der lokalen Politik verschluckt wurde. Man kann sogar sagen, dass es der Nationalen PT später genauso erging, inklusive des Verlustes ihrer radikalen Tendenzen.
Das muss aber nicht der Fall sein.

Wenn es so kommt, liegt der Grund für dieses Versumpfen in bürokratischen oder autoritären Dynamiken, nicht im Aufbau von Institutionen an sich, sondern im Aufbau unzulänglicher Institutionen. Daher müssen wir darauf achten, dass unsere Bemühungen nicht knöchern werden, statt dazu überzugehen, Institutionen als solche zu verdammen.

Wenn Bewegungen erste Veränderungen in einer Gesellschaft anstoßen, sagen wir in Venezuela, Bolivien, Spanien oder Griechenland, dann tun sie dies inmitten einer Unmenge an historischen Altlasten im Staatsbetrieb, der Wirtschaft und der Kultur. Es wäre völlig realitätsfern, zu denken, dass diese Bewegungen schlagartig ideale Ergebnisse hervorbringen können. Und jede Abweichung vom vollkommenen Sieg als totale Niederlage zu sehen, führt zu einer Untergrabung der Möglichkeiten.
Ein besserer Maßstab ist, ob eine Bewegung das Leben der Menschen verbessert und so effektiv, wie es die gegebenen Umstände erlauben, die Bedingungen für weitere Verbesserungen schafft.

Verbessert die venezolanische Regierung, die bolivianische Regierung oder die neue Regierung unter Syriza die Bedingungen für die Wählerkreise, die es verdienen? Gewinnen sie an Boden und befördern sie ein neues Ausmaß von Volksbeteiligung, um weitere Veränderungen zu ermöglichen? Arbeiten sie konsistent und konsequent an einer neuen Gesellschaft, statt in die Akzeptanz derjenigen zurückzufallen, die wir derzeitig erdulden? Tun sie alles, was unter den aktuellen Umständen möglich ist? Dies sind faire Maßstäbe, die man ansetzen kann.

Glücklicherweise gibt es Basisbewegungen in Spanien und Brasilien, die danach streben, neue Institutionen zu schaffen (Wohnungsmarkt, Bildung, Konsum) und ihren sozialen Einfluss so weit wie möglich zu vergrößern. Dabei gibt es allerdings ein verbreitetes Problem: Kooptation. Ich bin auch der Meinung, dass es besser ist, Syriza und Podemos in der Regierung zu haben als die etablierten herrschenden Parteien. Aber glaubst Du — angesichts des Wissens darum, dass autokratische Institutionen menschliche Beziehungen untergraben und Fortschritte gegen die Kommerzialisierung diverser Lebensbereiche blockieren — dass soziale Bewegungen, die nicht–hierarchische und nicht–kapitalistische Ziele verfolgen, sich um diese Ziele zu erreichen, an politischen Prozessen beteiligen sollten, die eine Selbstverwaltung oder Bestrebungen danach ausschließen und verhindern?

Wir stimmen wohl alle darin überein, dass wir besser das tun sollten, was funktioniert und weniger Gefahr läuft, unter die Räder zu geraten oder vereinnahmt zu werden. Doch welche realen Möglichkeiten hat eine Bewegung? Solange es keine besseren Optionen gibt, halte ich nichts davon, Ansätze, die Risiken bergen oder gar Schwächen haben, zu verwerfen.

Wir wollen eine neue Form von Regierung, die nach Möglichkeiten der Selbstverwaltung strebt und diese fördert, die Kapitalismus, Rassismus und dergleichen ablehnt. Das ist klar, aber das werden wir nicht über Nacht erreichen. Wenn wir die Beziehungen zu einer existierenden Regierung oder sogar das Ausüben von Ämtern innerhalb dieser Regierung auf eine unserer Agenda zuträgliche Art gestalten können und es keinen besseren Weg gibt, dann ist das gut. Es ist nicht unmöglich, existierende Strukturen zu nutzen und gleichzeitig zu verändern.

Eine Analogie aus der Wirtschaft macht das vielleicht deutlicher: Wenn Du als Angestellter in einer kapitalistischen Firma arbeitest, wirst du Teil eines unglaublich lähmenden Prozesses, der bestehende Strukturen reproduziert. Andererseits brauchst du etwas zu essen. Wenn es eine Stelle gibt, bei der du in einer nicht–hierarchischen Umgebung etwas wirklich Wertvolles tust — toll! Nimm sie! Wenn es aber eine solche Stelle nicht gibt und du die Wahl hast zwischen Hungerlohn und Hungertod, dann macht es keinen Sinn, deine Wahl des Hugerlohns zu kritisieren. Was allerdings Sinn macht, ist diesen Missstand aufzuzeigen und auf eine Veränderung der Arbeitsbedingungen hinzuarbeiten. Gerade zu Beginn mögen die Möglichkeiten für Veränderungen sehr begrenzt sein. Es geht aber nicht darum, ob man seinen Arbeitsplatz über Nacht komplett umgewandelt hat. Vielmehr geht es darum, dass man alles tut, was getan werden kann, und dass man sich davor schützt, in passive Akzeptanz zu verfallen.

Im Fall von Syriza und ihren Mitgliedern heißt dies: Es ist sicher nicht ideal, in föderale Ämter einzuziehen, in denen sie ihren Platz mit Akteuren teilen, die keines ihrer Ziele unterstützen, in denen sie sich den in die Strukturen eingebauten repressiven Gesetzen unterwerfen müssen und in denen sie Zuschauer von rauem, mitunter scheußlichem Verhalten werden — zum Beispiel im unveränderten Strafsystem. Aber es könnte besser sein, als alle anderen tatsächlich verfügbaren Optionen. Und das bedeutet weder, dass sie innerhalb dieser beschränkten Möglichkeiten nicht scheitern könnten, noch bedeutet es, dass sie scheitern müssen.

Was, wenn die Amtsträger Syrizas in der Regierung ihre Position immer besser nutzen können, um die Bewegungen, von denen Du sprichst, zu schützen und ihnen Ressourcen zur Verfügung zu stellen? Was, wenn sie es schaffen, einige der alten Strukturen so umzuformen, dass sie mit neuen Zielsetzungen einhergehen? Und sogar richtig schwere Strukturen mit riesigen Bürokratien und verwerflichen Altlasten — wie zum Beispiel die Polizei oder das Gefängnissystem — verändern? Es stimmt weiterhin, dass die Amtsträger — wenn all das eintritt, und das ist jede Menge — im Zuge des Prozesses bürokratisch, autoritär oder einfach langweilig werden und den Bezug zur Bewegung verlieren könnten. Doch solange es keinen geeigneteren Weg gibt, ist es immer noch die bessere Lösung, bestehende Optionen auszuspielen und den konformistischen Kräften Widerstand zu leisten, als gar nichts zu tun.

Aber haben wir es dennoch mit einem Stillstand zu tun? Ist die politische Intervention, die nach echter sozialer Veränderung strebt, blockiert, wie viele meinen? Wie können wir revolutionär denken, wenn es keine Widerstandskämpfe gibt?

Bemühungen nach echter sozialer Veränderung werden immer an Grenzen stoßen, solange die Gesellschaft organisiert ist, um den Reichtum und die Macht einiger weniger zu vergrößern, anstatt soziale Innovation zu begünstigen. Deshalb müssen wir kämpfen. Die Frage ist, wie wir die unvermeidbaren Hürden überwinden. Du verlierst, du verlierst, du verlierst, du gewinnst.

Rückschläge können den Widerstand manchmal bremsen und ganz selten auch auslöschen. In diesem Moment organisieren sich die Menschen überall und nur weil es nicht so sichtbar und im gleichen Ausmaß wie zu anderen Zeiten der neueren Geschichte geschieht, heißt das nicht, dass es nicht geschieht.

Natürlich wird revolutionäres Denken durch den Kampf im großen Rahmen gestärkt, aber was es absolut braucht, ist das unablässige Engagement dafür, neue Institutionen zu errichten.
Man kann sich am Widerstand der Masse beteiligen, ohne revolutionär zu sein. Andersherum kann man aber auch in einer Zelle eingesperrt und abgeschottet sein, ohne eine Bewegung außerhalb, und dennoch revolutionär sein.

Bei den Aufständen im Juni 2013 in Brasilien war einer der Hauptakteure das Movimento Passe Livre (MPL), eine selbstverwaltete, antikapitalistische Bewegung, die einen Prozess in Gang gesetzt hat, der Millionen von Menschen auf die Straße brachte, mit Protesten in mehr als 140 Städten (einige sagen sogar in mehr als 350). Der Widerstand hatte durchschlagenden politischen Erfolg: Die Fahrpreiserhöhung wurde in dutzenden Städten nicht durchgeführt und Präsidentin Dilma Rousseff war gezwungen, ein Paket politischer und sozialer Reformen zu schnüren.

Was Du als energischen Aufstand beschreibst, hatte positive Effekte auf das Leben der jeweiligen Gesellschaftsgruppen, war im großen Rahmen gedacht und zu Teilen selbstverwaltet und antikapitalistisch angelegt. Das klingt doch vielversprechend.

Ja, aber trotz des Massenausmaßes dieses Aufstandes und trotz der Tatsache, dass die MPL bis heute aktiv ist, dass sie die Form von Nachbarschaftsversammlungen angenommen hat und mit den Occupy Bewegungen sowie dem Prekariat in den Vororten vernetzt ist, stimmt es auch, dass es kaum einen Widerstand am Arbeitsplatz gibt. Welche Strategie könnte man verfolgen, um einen Arbeitskampf mit dem gleichen Erfolg wie beim Juni–Aufstand zu generieren?

Das Massenausmaß begünstigt Siege, die Menschen helfen und bedeutet langfristigen Nutzen in Bezug auf Bewusstsein, Engagement und Selbstorganisation. Doch denken wir einmal an die Auflehnung gegen den ersten Irakkrieg: 13 Millionen Menschen gingen auf die Straße – es war eine unglaubliche Masse. Diese Energie hat sich aber nicht in Form einer anhaltenden Opposition und Bewusstseinsveränderung, geschweige denn in einer anhaltenden Selbstorganisation kanalisiert. Ich hätte eine Bewegung von einer Million in den Straßen, die mit jedem weiteren Monat stetig wächst, einer Bewegung von anfangs 13 Millionen, die mit jedem Monat schrumpft, vorgezogen. Es gibt einen Wahlspruch der Bürgerrechtsbewegung in den USA ”Keep your eyes on the prize" (Verliere den Gewinn nicht aus den Augen!). Aber es ist kein Gewinn, eine große Sensation zu sein. Der Gewinn ist eine neue Gesellschaft.

Obwohl sich die Situation in Brasilien verbessert hat — sich die positiven Effekte über Nachbarschaften hinweg in kommunalen Organisationen und Gruppen verbreiten, die Wahlkreise besser vernetzt und so eine Basis für weitere Schritte sind — ist die Frage, wie sich ein vergleichbarer Kampf am Arbeitsplatz organisieren könnte.

An verschiedenen Orten wird es zu verschiedenen Zeiten wahrscheinlich unterschiedliche Auslöser geben. Aber ich vermute, dass die Energie, die einem erfolgreichen Arbeitskampf zugrunde liegt, vor allem von Belangen wie materieller Unzufriedenheit und Fragen der Menschenwürde und des Einflusses geprägt sein wird.

Da bei einer erfolgreichen Arbeiterbewegung faire Gehälter und würdige, die Arbeiter stärkende Arbeitsbedingungen im Mittelpunkt stehen, tun Aktivisten, die die Wünsche der Arbeiterklasse wecken und fördern wollen, gut daran, zu verstehen und zu vermitteln, wie faire Gehälter, würdige Arbeitsbedingungen und angemessene Teilhabemöglichkeiten aussehen könnten.

Viele Aktivisten sind der Meinung, dass sie diese Antwort bereits geben, indem sie Privateigentum und Lohnarbeit ablehnen. Stimmst Du dem zu?

Es ist wunderbar, zu sagen, dass die Menschen kein Gehalt bekommen sollen, um damit Eigentum anzuhäufen. Aber das beantwortet nicht die positive Frage danach, was man will.
Nehmen wir an, du befindest dich in einer Kampagne für einen höheren Mindestlohn. Sagen wir mal 15 Dollar pro Stunde. Diese Forderung befürwortest du. Aber dann willst du darüber reden, wie viel Einkommen die Arbeiter deiner Meinung nach überhaupt haben sollten und folglich darüber, wo die Bewegung letztlich hinführen soll. Es ist schön und gut zu sagen, es sollte keine Eigentümer geben, die jede Menge Geld verdienen, aber das liefert noch keine vollständige Antwort. Einfach nur zu sagen, dass es keine Lohnarbeit geben sollte, würde vielen als sinnlos erscheinen und sagt definitiv nichts darüber aus, welches Einkommen Menschen haben sollten. Welchen Anteil des Sozialprodukts sollte jede Person bekommen? Versuch das mal zu diskutieren und schau, was dabei herauskommt.

Es ist ein großes Thema, aber meine positiv formulierte Antwort darauf würde lauten, dass Menschen für ihre Arbeit Lohn in Abhängigkeit davon bekommen sollten, wie lange sie arbeiten, wie hart sie arbeiten und wie schwierig die Bedingungen sind, unter denen sie arbeiten — immer davon ausgegangen, dass sie sozial relevante Werte schaffen.

Mit einem solchen Standard hätte man keine Einnahmen aufgrund des einfachen Besitzes von Eigentum oder durch die Macht, darüber zu verfügen. Das Einkommen würde noch nicht einmal auf dem absoluten Wert dessen basieren, was man selbst produziert, denn auch dies ist Glück, den Umständen oder bestimmten Werkzeugen statt der Länge und Härte der verrichteten Arbeit geschuldet. Davon abgesehen ist mein Punkt aber dieser: Wenn man sich an einer Kampagne für höheren Mindestlohn beteiligt und diese so umsetzen will, dass man Bewusstsein schafft und Wünsche und Kapazitäten frei werden, die wiederum weitere Verbesserungen bringen, dann ist es unerlässlich, für ein langfristiges Ziel zu stehen. Und dasselbe gilt für Kampagnen zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen und der Machtverteilung bei Entscheidungsprozessen. Um bessere kurzfristige Ergebnisse zu erzielen, die auf lange Sicht zu neuen gesellschaftlichen Verhältnissen führen, muss man, meiner Meinung nach, gemeinsame langfristige Ziele entwickeln.

Du erwähnst häufig den ”apokalyptischen Modus" der Organisation und warnst vor ihm, wenn man langfristig etwas erreichen will?

Der apokalyptische Modus baut auf den Zorn eines Augenblicks, um für den Moment sehr inspirierende, letztlich aber unmögliche Forderungen à la ”Wir wollen die ganze Welt und wir wollen sie jetzt!" zu stellen. Oft verweigert apokalyptische Organisation sogar bewusst das Nachdenken über den sofortigen Sieg hinaus. Sie weigert sich zuzugeben, dass es Zeit braucht, um Bewegungen aufzubauen und dauerhafte Veränderungen zu erreichen.

Bei einem apokalyptischen Ansatz reden wir über jedes Problem als wäre es das letzte. Bis nächsten Donnerstag müssen wir gewinnen oder die Menschheit wird untergehen. Wir rufen ”Mach es jetzt, mach es, als hättest du jahrelange Erfahrung als Aktivist und wenn nicht, bist du ein Reaktionär!" Die Differenzierung verschwindet. Und es gibt keine Strategie über den Moment hinaus.

Wir veranstalten eine Demonstration, um irgendeine Versammlung oder Konferenz abzubrechen, eine vom IMF oder so. Das Organisieren fokussiert sich nur auf dieses Ereignis. Es geht einzig um die Frage: Haben sich die Türen geöffnet und die Machthaber ihre Konferenz abhalten können oder haben wir sie gestoppt? In der Vorbereitung für den Aufbau der Blockade geht die meiste Energie ins Debattieren über Taktik — unsere und die der Polizei. Was verloren geht, ist, dass Sieg oder Niederlage nicht davon abhängen, ob die Konferenz stattgefunden hat oder nicht. Sondern davon, ob wir es geschafft haben, das Bewusstsein zu erhöhen, die Organisation zu verbessern und Unterstützung gewonnen zu haben. Mit dieser letzteren Einstellung betont man andere Inhalte, geht auf andere Weise vor und lernt etwas anderes, als wenn man sich nur auf die unmittelbare Konferenz fixiert.

Wie können wir die Zersplitterung von Bewegungen verringern? Wie erreichen wir Solidarität, ohne Diversität zu verlieren?

Der Schlüssel dazu liegt in der Erkenntnis, dass wir Diversität brauchen — nicht nur unter unseren Unterstützern, sondern auch innerhalb der Ansätze und Einstellungen. Es ist notwendig, dass die verschiedenen Teile unserer Bewegungen eng zusammenarbeiten. Wenn wir bei der Planung einer Aktion diese beiden Punkte beherzigen, ist eine mit Autonomie verknüpfte Solidarität automatisch Teil der Agenda.

Wenn du glaubst, dass es einzig und allein darum geht, eine Konferenz abzubrechen, wirst du beherzt versuchen, genau dies zu erreichen. Wenn du stattdessen glaubst, dass die Konfrontation während der Versammlung wichtig ist — um Informationen zu vermitteln, Bewusstsein zu schaffen, Engagement zu fördern, Selbstvertrauen sowie dauerhafte Verbindungen und neue Organisationsformen aufzubauen — wirst du beherzt versuchen, diese Dinge zu erreichen. In der Praxis macht dies den Unterschied zwischen dem Wunsch nach einem netten Ereignis und dem Wunsch nach einer wunderbaren Gesellschaft aus.

Ein Weg, um Solidarität ohne Einbuße an Diversität zu erreichen, wäre es, die Minderheitenansichten zu schützen und indem man ihnen Raum gibt, sogar zu fördern, statt ihre Positionen bei fehlender Zustimmung einzustampfen.

Unser Ziel muss es sein, eine neue Gesellschaft aufzubauen und nicht unseren eigenen Sichtweisen zu huldigen. Sieg bedeutet nicht, seine Meinung als richtig bestätigt zu bekommen — und dann den Kampf zu verlieren.

Wir können und sollten nicht nur unterschiedliche Ideen und Prioritäten haben, sondern auch mit den Möglichkeiten experimentieren, funktionierende Ansätze finden und weiterverfolgen, sowie alternative Ansätze am Leben erhalten, falls sich ein scheinbar richtiger Weg als falsch erweist.

Glaubst Du, Bewegungen laufen Gefahr, unzulänglich zu sein, wenn sie nicht eine Vision und damit eine Richtung verfolgen?

Ich denke, ohne Vision ist Unzulänglichkeit kein Risiko, sondern Gewissheit.

Die Menschen heutzutage sind schrecklich zynisch, weil sie nicht an Alternativen glauben. Wir können zynische Menschen nicht inspirieren, indem wir ihnen das Unrecht in der Welt aufzeigen — das kennen sie bereits. Wir müssen sie davon überzeugen, dass es Alternativen gibt. Die Menschen wissen, dass Krieg tötet, dass Armut entkräftet und so weiter ... Wir müssen eine Vision anbieten, um Zweifel zu überwinden und zur Beteiligung zu motivieren.

Darüber hinaus sollten wir uns sehr genau überlegen, was die Institutionen ausmacht, die wir anstreben, sonst werden wir nicht in der Lage sein, dem Fundament für eine bessere Zukunft die richtigen Anforderungen, Sprache und Organisationsstrukturen zu Grunde zu legen. Wenn wir nicht verstehen, wo wir ankommen wollen, neigen wir zu falschen oder sogar selbstmörderischen Entscheidungen, die uns nirgendwohin führen oder schlimmer.

Während der ”Occupy Wall Street" Bewegung sagte Ken Knabb (in einem Interview mit Artkel 11): ”Es ist fast irrelevant ob Menschen sagen, sie sind für oder gegen ”Kapitalismus" oder ”den Staat"; es ist viel wichtiger, dass sie jetzt in einen nicht–hierarchischen und nicht–kapitalistischen Prozess eingebunden sind." Stimmst Du dem zu und falls ja, warum?

Ich stimme zu, dass das, was jemand sagt — insbesondere wenn er Worte benutzt, die vage sind und für jeden etwas anderes bedeuten — weniger wichtig ist als seine sichtbaren Entscheidungen und sein Einsatz. Aber was bedeutet es, sich in einem nicht–hierarchischen und nicht–kapitalistischen Prozess zu engagieren? Ist das mit einer rein ablehnenden Haltung oder mit eindeutig zukunftsorientierten Bekenntnissen verbunden?

In den 60er Jahren haben viele junge Leute Kommunen, Ko–Ops, kreative Bauernhöfe oder kollektive Hausgemeinschaften gegründet und Varianten davon gab es seitdem durchgängig bis heute. Eine solche Entscheidung war und ist mit Sicherheit besser begründet als die Jagd nach einer Führungsposition, aber sie hat sich sehr oft allein über eine ablehnende Haltung definiert. Dadurch hat es diese Bewegung nicht geschafft, positive, nach vorn gerichtete Veränderungen anzuregen, die für die ganze Gesellschaft funktionieren könnten. Sie hat sehr häufig ein Inseldasein geführt.

Wichtiger als ihre Haltung dem ”Kapitalismus" gegenüber zu äußern ist, dass Menschen für nachhaltige Veränderungen kämpfen, die sich auf nicht–hierarchische und nicht–kapitalistische Zugewinne mit dem Potenzial, die Gesellschaft umzuformen, konzentrieren. Noch besser und wahrscheinlich sogar unentbehrlich ist es, dass diese Zielsetzungen klar benannt werden können und dass sie konzipiert und kommuniziert werden, um den ganz normalen Bürger zu überzeugen.

Es ist deutlich besser, klar und überzeugend für etwas Gutes, als laut gegen etwas Negatives zu sein.

In Deinem Buch ”Occupy Strategy" ist eines der Hauptargumente, dass wir vermeiden müssen, unterschiedliche Bewertungen von Taktiken und Strategien als unüberwindbare Unterschiede zwischen Prinzipien zu behandeln. Kannst Du das näher erklären?

Du beziehst Dich wahrscheinlich auf die Behauptung, dass Taktik und sogar Strategie fast immer kontextabhängig sind. In einem bestimmten Kontext sind sie sinnvoll und funktionieren, in einem anderen nicht. Daher ist es selten sinnvoll, eine bestimmte Taktik auf Teufel komm raus zu verteidigen. Über solche Überzeugungen zu streiten, hat noch weniger Sinn.

Im Buch erklärst Du überzeugend, warum selbst die engagiertesten Revolutionäre Reformen unterstützen sollten. Auf welchen Argumenten gründet diese Schlussfolgerung?

Ich lehne Reformismus ab. Ich will die Institutionen, die unsere Gesellschaft definieren, fundamental umgestalten und nicht nur ihre schlimmsten Ausprägungen verbessern. Aber um auf dem Weg dahin, fundamentalen Wandel zu erreichen, lehne ich Reformen nicht per se ab.

Wer Reformen ablehnt, lehnt auch das Ende eines Krieges, die verstärkte Nutzung erneuerbarer Energien, Fördermaßnahmen und eine kürzere Arbeitswoche ab. Wie kann jemand bei klarem Verstand für Recht und Gleichheit sein, jedoch jene Formen der Veränderung ablehnen, die das Leben der Menschen verbessern können? Das wäre extrem abgestumpft.

In der Realität haben wir nicht die wundervolle Möglichkeit, eine komplett neue Gesellschaft jetzt sofort und auf einen Schlag zu bekommen. Eher können wir Veränderungen erreichen, die Menschen helfen und uns außerdem Kraft geben, weitere Veränderungen zu ermöglichen.

Wer Reformen ablehnt, lebt in einer Blase aus Arroganz, Gleichgültigkeit und Ignoranz gegenüber dem sozialen Gefüge. Und trotzdem muss ich zugeben, dass ich diese Grundhaltung verstehen und sogar nachempfinden kann. Ich glaube, wenn Menschen Reformen ablehnen, dann tun sie dass, weil sie denken, dass sie sonst zwangsläufig zu Reformisten werden. Sie glauben, sie müssten Reformen ablehnen, um wirklich eine neue Welt zu wollen. Leider ist diese Wahrnehmung falsch.

Wer Reformen befürwortet, kann ein Reformist sein — das ist wahr. Und der Kampf für Reformen kann die eigenen Auffassungen langsam aber sicher zu denen eines Reformisten aufweichen. Aber es ist keine Lösung, Reformen abzulehnen. Es ist keine Lösung, die Beendigung von Kriegen oder steigende Löhne abzulehnen, etc. Die Lösung besteht darin, auf nichtreformistische Weise Reformen anzustreben und umzusetzen und immerwährend die Notwendigkeit zu betonen, über den momentanen Gewinn hinaus einen dauerhaften und fundamentalen Wandel anzustreben.

In Deinen Büchern und Artikeln sprichst Du viel über Entscheidungsfindung. Der kontroverseste Vorschlag — besonders für Bewegungen, für die Konsensentscheidung in Versammlungen Ehrensache ist —, ist wohl die Anregung, den Konsens mitunter als etwas ernsthaft Fehlerhaftes zu verstehen. Wie würdest Du argumentieren, um eine widerwillige Versammlung davon zu überzeugen, ihre nicht–autoritären Strukturen aufzugeben?

Das würde ich nicht tun. Natürlich gibt es in einer schrecklichen Welt wie heute Zeiten, in denen vereinbarte Pläne nur dann zu den gewünschten Fortschritten führen, wenn sie mit Disziplin und Geheimhaltung ausgeführt werden. Doch ich sehe nicht, warum dies kontrovers sein sollte.

Um es kontrovers zu machen, ich denke nicht, dass der Konsens die Krone des Antiautoritarismus ist. Tatsächlich glaube ich, dass Konsens in vielen Kontexten völlig falsch gedacht wird, auch wenn er in anderen Kontexten sehr gut funktioniert. Mit anderen Worten: Konsens ist eine Taktik, eine Methode. Manchmal ist sie angemessen, manchmal nicht, und ganz bestimmt ist sie nichts, was man als Prinzip vertreten muss. Die Alternative zum Autoritarismus ist für mich die grundlegende Regel, dass bei einer Entscheidung all die Menschen mitzureden haben, die es betrifft — und zwar im Verhältnis zur Auswirkung dieser Entscheidungen auf ihr Leben. Um diesem Anspruch gerecht zu werden, hat der Einzelne nur unter bestimmten Umständen ein Vetorecht und ebenso hat jede Person eine Stimme oder zählt die Mehrheit bei der Wahl. Dies sind taktische Herangehensweisen. In meinen Augen ist das grundsätzliche Ziel, welches sie je nach Situation erfolgreich oder nicht erfüllen, die Selbstverwaltung.

Die zweite Frage geht über die unmittelbare Wahl der Techniken hinaus. Sollten wir Minderheitspositionen überwinden und eliminieren oder sollten wir sie respektieren und ihnen sogar die Möglichkeit bieten, sich auszutesten und weiter zu entwickeln? Ich bin selbstverständlich für die letztere Option. Das ist es, was Diversität in Wirklichkeit bedeutet.

Noch allgemeiner glaube ich — und das erzeugt viele Kontroversen — dass manche Menschen es als Autoritarismus wahrnehmen, wenn nicht jeder das tun kann, was immer er oder sie möchte. Umgekehrt bedeutet Antiautoritarismus für Menschen mit dieser Sichtweise, dass jeder jederzeit — ohne Rücksicht auf die Sichtweisen der anderen — tun können sollte, was immer er oder sie möchte. Eine solche Haltung erscheint mir, ehrlich gesagt, antisozial.

Angenommen wir befänden uns in einem Unternehmen und die Arbeiter stimmen kollektiv darin überein, dass der Arbeitstag um 17 Uhr endet. Aber ich sage dann: Moment, ich möchte gerne nach 20 Uhr arbeiten. Das würde bedeuten, dass andere, von denen ich abhängig bin, das Gleiche tun müssten, dass die Lichter natürlich an blieben und so weiter und so fort. Aber ich möchte es. Bekomme ich, was ich will?

Nein. Das wäre Nonsens. Ich sollte es nicht bekommen. Ich sollte, wie jeder andere auch, in der Lage sein, die Entscheidungen auf die Arbeitsstunden in dem Maße zu beeinflussen, wie sie Auswirkungen auf mich selbst haben. Und wenn ich Teil einer starken Minderheitsperspektive bin, sollte diese näher untersucht werden, statt sie aufgrund eines anderslautenden, kollektiven Beschlusses der Gruppe einfach aus dem Weg zu räumen. Aber weiterhin gilt, dass eine gewisse Disziplin ins Spiel kommt, sobald Vereinbarungen getroffen wurden.

Die sozialen Verpflichtungen und Verantwortlichkeiten, selbst wenn sie nicht exakt dem entsprechen, was man selbst vorziehen würde, sind nicht zwangsläufig Zumutungen. Tatsächlich können sie ein wesentlicher Teil dessen sein, was einen als anteilnehmendes soziales Wesen ausmacht.

Was die Diskussion polemischer Fragen angeht, ist die Klassenfrage vielleicht eines der größten Tabus der Linken. Heutzutage hinterfragt selbst die Rechte ihre Vorurteile bei Genderthemen, weshalb also hält die Linke (selbst die ideologisch fortschrittlichere) in ihren Projekten, Zeitungen, Bewegungen an dem Glauben an die Klassen und die unternehmerische ¹Arbeitsteilung fest?

Weder die Rechte noch die Linke waren in Genderfragen vorurteilsfrei, bis die Frauen und später die Homosexuellen und Trans–Gender–Gruppen ihre Themen sichtbar gemacht haben und um Würde und Einfluss in der Gesellschaft kämpften — ein Kampf, der immer noch andauert. Ein Teil ihrer Anstrengungen fokussierte dabei ganz klar auf gleiche Löhne, aber eine andere Komponente bezog sich auf das Verständnis von gesellschaftlichen Verhältnissen und von Gerechtigkeit.

Und nun sieh Dir die Klassen an: Historisch gab es sicher erhebliche Anstrengungen, was die materielle Gleichberechtigung betrifft, aber sehr viel weniger Bemühungen, was die gesellschaftlichen Verhältnisse der Klassen betrifft. Sofern es letztere nennenswert gab, waren sie aus meiner Sicht verdreht.

Oft geht es uns um die Löhne. Manchmal addressieren wir Eigentümer oben und Arbeiter unten und die Psychologie der besitzenden Klasse im Gegensatz derjenigen der Arbeiterklasse. Zudem sind wenige der Linken in ihrer Kritik an Eigentümern zurückhaltend. Also warum erzeugt Deine Frage trotzdem eine Resonanz? Ich glaube die Antwort läuft auf zwei Aspekte hinaus.

Um Deine Frage zu beantworten, der erste Aspekt ist, dass, obwohl die meisten Linken das Streben nach Profit verachten und verachten können, nur wenige sich über eine Alternative im Klaren sind. Im Vergleich dazu wissen Menschen, die es verurteilen, dass Frauen, Schwule oder Andere als minderwertig behandelt werden und sich gegen Einschränkungen auf deren Leben aufgrund ihres Geschlechts oder ihrer sexuellen Präferenzen aussprechen, dass die Alternative darin besteht, alle Menschen gleich zu behandeln. Wenn es aber um das Verhältnis von Arbeit und Besitztum geht, sind sich manche, und darunter selbst Linke, nicht über die Alternative im Klaren, die ohne Eigentum an Produktionsmitteln auskommt.

Ein viel größeres Thema ist meiner Ansicht nach jedoch die Tatsache, dass sich die Gesellschaft nicht nur aus zwei zentralen wichtigen Klassen, also nicht nur aus Besitzern und Arbeitern zusammensetzt. Es gibt eine dritte Klasse: die Klasse der Koordinatoren. Die Besitzer besitzen. Koordinatoren arbeiten für ein Gehalt, dass von Besitzern bezahlt wird, aber sie nehmen ökonomische Rollen ein, die ihnen Macht verleihen. Die Arbeiter beziehen ebenfalls ein Gehalt von den Besitzern, aber sie besetzen Rollen, die sie entmachten.

Arbeiter erledigen verschiedene Aufgaben. Dasselbe gilt für die Mitglieder der Koordinatoren–Klasse. Die Aufgaben der Arbeiter sind typischerweise Routinearbeiten, die sich wiederholen und auf Anweisungen von oben hin ausgeführt werden. Aus diesem Grund vermitteln die Aufgaben der Arbeiter ihnen wenig Wissen oder Selbstbewusstsein. Koordinatoren führen Aufgaben aus, die Selbstvertrauen und Informationen mit sich bringen. Sie treffen Entscheidungen. Ihre Arbeit vermittelt ihnen Verbindungen. Sie ermächtigt sie. Aufgrund dieser Unterschiede der Gegebenheiten bestimmen Koordinatoren, die in entwickelten Ökonomien rund 20 Prozent der Bevölkerung ausmachen, über Arbeiter, deren Anteil etwa 80 Prozent stellt. Koordinatoren überblicken und definieren auch den Alltag der Arbeiter. Sie bestimmen die Tagesordnung, legen Beziehungen fest und geben Anweisungen. Die Arbeiter folgen.

Was hat das also mit der Klassendiskriminierung zu tun, die in den linken Debatten größtenteils außer Acht gelassen wird?

Nehmen wir den Vergleich nochmal auf: Denken wir an die Linke, als sie noch von Männern, oder sagen wir von Weißen, dominiert wurde und als es keine wirkliche Diskussion über diesen Zustand gab und noch weniger Anstrengungen ihn zu verändern. In diesen Zeiten fehlte die Diskussion um Sexismus und Rassismus zwar nicht vollkommen, aber sie war schrecklich begrenzt. Es war normal, Vergewaltigung und Lynchmord anzuprangern, aber nicht die weniger dramatischen alltäglichen Demütigungen, die die Gesellschaft und auch die Linke in jenen Tagen durchdrangen.

Nun zurück zur Klasse. Die Linke integriert normalerweise niemanden in ihre Aktionen, der sich durch größeren Besitz charakterisiert. Das gibt es vermutlich, aber nicht sehr oft. Also ist das Thema der Eigentümerschaft nicht vollkommen tabu. Es anzusprechen, tut niemandem in der Linken weh.

Allerdings schließt die Linke Verhaltensweisen und Strukturen ein, die mit Menschen in Verbindung stehen, die überwältigend ermächtigende Arbeit verrichten und in Folge dessen in großem Maße über Menschen herrschen, die erdrückend entmächtigende Arbeit erledigen. Während es also für die Linke in Ordnung ist, ein Augenmerk auf die Freundlichkeit und Beachtung gegenüber den Menschen zu legen, die Manager, Doktoren, Anwälte, Ingenieure oder Ähnliches sind, gibt es sehr wenig linke Aufmerksamkeit für die Ungerechtigkeit der zu Grunde liegenden sozialen Aufgabenteilung. Die Ungerechtigkeit der unternehmerischen Arbeitsteilung zu fokussieren, würde sich nachteilig auf eine Untergruppe der Linken auswirken und das ist die Untergruppe, die entscheidet, was thematisiert wird und was nicht.

Mit anderen Worten, die institutionell betriebenen Dynamiken zwischen Menschen, die ermächtigende Aufgaben monopolisieren, und jenen, die Routineaufgaben ausführen, stehen kaum überhaupt im linken Fokus. Und wenn sie angesprochen werden, geschieht dies ohne tiefergehendes Verständnis, da eine solche Thematisierung dramatische Auswirkungen auf die Anführer der Linken hätte.

Mit der rückläufigen Macht der Arbeiterbewegung erscheint es heute häufig so, als ob nichts außerhalb der Reichweite des Kapitalismus liegt. Können wir ohne eine nicht–kapitalistische Basis für unsere Gedanken, ohne eine Vision, die über den Kapitalismus hinausgeht, erfolgreich widerstehen, wenn unser Alltagsleben von neoliberalen Praktiken und dem kapitalistischen Lebensstil verschlungen wird?

Der Kapitalismus hat seine Logik auch in der Vergangenheit überall in der Gesellschaft ausgebreitet. In einigen Fällen machten das Tatsachen wie Unternehmensstädte sicher schon früher wahr, während andere Aspekte wie etwa Bildung, darin stimme ich zu, erst jetzt einer stetigen Kommerzialisierung ausgesetzt sind.

Ich stimme aber vor allem zu, dass es schwierig für uns war, ist und sein wird, den gesellschaftlichen Ansichten zu entkommen, wenn wir unsere Einsichten aus dem ableiten, was uns ständig und überall umgibt. Wir müssen uns des Existierenden bewusst sein, damit wir nicht unrealistisch sind, aber wir müssen auch das hervorheben, was wir begehren, damit wir die gesellschaftlichen Verhältnisse nicht rekonstruieren.

Was das angeht, haben beispielsweise viele der lateinamerikanischen Linken das Gefühl, dass es einerseits eine nouvelle gauche (neue Linke) gibt, die durch Chavez, Lula, Morales, und Correa gebildet wurde und den Kapitalismus saniert hat, und dass es andererseits eine zeitgenössische indigene Revolte und Kommunalisierung gibt. (Diese begann mit der Gründung der Shuar Federation in Äquatorial Amazonas 1964 und gewann mit den Zapatisten der EZLN in Mexiko an Dynamik.) In der urbanen Sphäre zeigte sie sich zum Beispiel in den kooperativen Arbeiterbewegungen (Movimiento Nacional de Fabricas Recuperadas, Los piqueteros und anderen in Argentinien). Sind das unvereinbare Visionen? Welche dieser Perspektiven ist politisch und strategisch wichtiger, wenn es am Ende darum geht, eine neue Welt zu schaffen?

Besteht ein Gegensatz dazwischen, die Gesellschaft mit Graswurzelaktivismus in Kommunen und an den Arbeitsplätzen oder mit einem Regierungsprogramm zum Besseren zu verändern? Meine Antwort lautet ja und nein.

Ja, weil Veränderung ”von oben" und Veränderung ”von unten" sich oft aufs Schärfste widersprechen — selbst wenn es auf beiden Seiten ein ernsthaftes Streben nach den gleichen Veränderungen gibt. Dynamiken, die ”von unten" kommen, gehen typischerweise, wenn auch nicht immer, damit einher, die Kräfte ”unten” zu stärken und jene von ”oben” zu verringern. Für Dynamiken, die ”von oben” kommen, gilt gewöhnlich das Umgekehrte.

Aber auch wenn die negative ”von oben" kommende Dynamik — oftmals sogar durch Kräfte, die nach dem Guten von oben streben — verstärkt wird, muss das nicht der Fall sein. Bewegungen können Kontrolle über verschiedene offizielle Strukturen erlangen und sie nicht nur nutzen, um auf geforderte institutionelle Veränderungen und Druck von unten zu reagieren und darüber hinauszugehen, sondern auch, um den Aktionsspielraum und die verfügbaren Ressourcen zu vergrößern, damit die Macht von unten wächst und die Macht von oben abnimmt.

Alle, die sich eine Welt der Selbstverwaltung wünschen, sollten darauf eingestellt sein, dass es Gefahren birgt, die Werkzeuge des Meisters zu nutzen, um die Programme des Meisters auszuhebeln. Ein solches Unterfangen sollte immer die Macht des Volkes fördern und die Staats– und Unternehmermacht verringern, selbst wenn letztere genutzt wird, um Gutes zu tun.

Nach meinem Eindruck sind sich viele der linken Aktivisten nicht nur über die Gefahren bewusst, was angemessen ist, sondern sie halten diese auch für unvermeidbar. Dies verhindert, dass sie beständig daran arbeiten, Gefahren von oben zu verhindern und die tatsächlich erreichten und beeindruckenden Erfolge zu vergrößern.

Für viele scheint der Kapitalismus mittlerweile eine Art lebendiger Leichnam zu sein. Was bleibt vom Skelett des kapitalistischen Schiffes? Sollte die Gesellschaft um uns herum nur als taktische Ressource gesehen werden (um es abzuwracken oder nach und nach überflüssig zu machen) oder ist die Strategie, das Schiff zu übernehmen und seine komplexen Strukturen für einen Fortschritt zu nutzen, weiterhin sinnvoll?

Metaphorisch gesehen könnte der Kapitalismus als lebendiger Leichnam bezeichnet werden, weil er so verdammt morbide ist. Aber was von ihm übrig und in Betrieb ist, ist alles, was wir haben.

Der Kapitalismus bestimmt nicht die gesamte Gesellschaft — die sich auch über ein Gemeinwesen, eine Kultur, Verwandtschaftsbeziehungen, etc. definiert — aber die gesamte Ökonomie. Und das Herz des Kapitalismus ist das Eigentum an Produktionsmitteln in privater Hand sowie die Entlohnung nach Verhandlungsmacht, die Kombination von Markt– und Machtverteilung und eine unternehmerische Arbeitsteilung. All das besteht fort. Der Kapitalismus ist weit davon entfernt, untätig wie ein Leichnam zu bleiben, vielmehr strotzt er vor immenser in vielerlei Hinsicht brutaler und sogar selbstmörderischer Energie. Ich denke, diese Frage verweist im Grunde auf die vorherige. Können wir innerhalb der vom Kapitalismus vorgegebenen Grenzen navigieren oder wird uns das Navigieren in seinen Gewässern unausweichlich daran ketten, ihn aufrechtzuerhalten?

Ich stimme von ganzem Herzen darin überein, dass wir unsere Energie in die Schaffung neuer, für uns operabler Strukturen und Verhältnisse stecken sollten, statt allein mit jenen zu arbeiten, die uns die Vergangenheit vermacht. Aber diese Beobachtung darf in keiner Weise die Einsicht überblenden, dass die Menschen essen, sich um ihre Gesundheit und die Schulbildung kümmern und in Gemeinschaften leben müssen und nicht umhin kommen zu arbeiten und zu konsumieren — und das all dies die Auseinandersetzung mit Institutionen erfordert, die von der Logik der Gegenwart und nicht von der Logik unseres Verlangens nach einer besseren Zukunft geprägt sind.

Wir, die wir die Gesellschaft revolutionieren wollen, haben keine andere Wahl, als dies zu tun, solange wir innerhalb der aktuellen gesellschaftlichen Verhältnisse navigieren, das Leiden unter dem Druck zur Konformität eingeschlossen. Bis wir eine neue Zukunft erreichen, müssen wir einen Großteil unseres Lebens und unserer Organisation innerhalb der Strukturen der Vergangenheit umsetzen. Das ist unvermeidbar. Die Herausforderung liegt darin, dies auf eine Art zu tun, die die Zwänge der Vergangenheit permanent untergräbt und die gewünschten Eigenschaften der von uns begehrten Zukunft festschreibt.

Was die Machtfrage angeht, scheint es klar, dass sowohl die Teilnehmer von Protestbewegungen als auch gewöhnliche Menschen (sieh Dir beispielsweise den Anteil von Stimmenthaltungen in Europa an), realisiert haben, dass sich das demokratische Projekt nicht mit dem repräsentativen demokratischen Modell deckt.

Das stimmt, die Leute sehen, dass die moderne Demokratie unglaublich fehlerhaft ist. Aber was sie dagegen tun, unterscheidet sich, oder? Die Griechen und die Venezolaner haben gewählt. Die amerikanischen Linken nicht so zahlreich und manchmal gar nicht. Aber wenn ich sage, dass es eine Möglichkeit für Wahlen gibt — meine ich damit, dass es den Menschen möglich ist, eine Wahl zu treffen, indem sie ihre Stimme abgeben. Das impliziert nicht, dass die heutigen Wahlmethoden optimal oder auch nur im entferntesten wünschenswert sind.

Was die Wirtschaft angeht, scheint die allgemeine Verwirrung noch größer zu sein. Es scheint für gewöhnliche Bürger und sogar für einen Großteil der Aktivisten weiterhin nahezu unmöglich, über die Allgemeinplätze hinauszuschauen, die besagen, dass eine Wirtschaft ohne Kapitalismus Fiktion sei. Denkst Du auch, dass die Menschen die Lüge der Demokratie in der Regel durchschaut haben, aber weiterhin an dem fortschrittlichen und egalitären Ideal der Demokratie festhalten — sich aber gleichzeitig keine Zukunft ohne Kapitalismus vorstellen können? Was muss noch getan werden, um Menschen den Glauben an eine andere Art von Wirtschaft und Wirtschaftsbeziehungen zu vermitteln?

Dem stimme ich zu, obwohl ich hinzufügen würde, dass die Bevölkerung selbst beim Gemeinwesen nicht sicher weiß, was nötig ist, um eine echte Selbstverwaltung in politischen Funktionen sicherzustellen.

Aber ich sehe auch, dass es bezüglich der Wirtschaft einen sehr viel größeren Grad an Fatalismus gibt. Die Menschen glauben, dass wir, wenn wir einen Job haben möchten, Produkte, etwas zu essen und sogar einfach nur überleben wollen — nur die Option eines erbarmungslosen Konkurrenzkampfes haben, aus dem nicht einmal die Gewinner aussteigen können.

Unsere einzige Möglichkeit ist eine Wirtschaft, die Respekt, gegenseitige Hilfe, und Unterstützung erzeugt und in der diese als Ausdruck von Erfolg gesehen und Gier und Missgunst als Zeichen von Versagen bewertet werden.

Durch Konkurrenzdruck, wahnwitzige Ungleichheit und die scheinbar unaufhaltsame Vorherrschaft einiger weniger, die irgendwie produktiver, cleverer oder wertvoller scheinen — und ich betone, scheinen — sowie durch die durchgängige Kommerzialisierung, vom Essen bis zum Atmen und von der Kommunikation bis hin zur Liebe, wurden die Menschen davon überzeugt, dass es keine Alternative gibt. Und ja, ich glaube, dass dieser Fatalismus das wohl größte Hindernis für den sozialen Wandel ist.

Es gab diese Zeile in einem Lied aus den Sechzigern, ”paranoia strikes deep, into your life it will creep" (Paranoia geht tief, in dein Leben wird sie kriechen) bei der es für mich darum geht, wie Bedrohungen und Übertretungen, wie das Spionieren und Unterdrücken, Menschen mit gutem Willen den Fokus und die Richtung verlieren lässt, und sogar dazu bringt, sich in Angst zu verkriechen oder sich zu bewaffnen und andere zu nötigen. Traurigerweise begünstigen wir das Entstehen von Paranoia tatsächlich sehr oft, indem wir geradezu unablässig über Spionage und Unterdrückung und fast nie über unsere Bestrebungen, Absichten und positive Alternativen sprechen.

Aber so bedeutsam die Angst manchmal sein kann, ist sie für die Beteiligung an den Kämpfen für Veränderung nicht das größte Hindernis. Der Zynismus — der denjenigen, die an ihm leiden, vollkommen rational erscheint — ist weitaus mächtiger. Die Menschen denken, dass es aussichtslos ist, gegen Armut, Krieg und Ungerechtigkeit zu kämpfen, weil diese Erscheinungen aus ihrer Sicht ein unvermeidbarer Auswuchs der menschlichen Verfassung sind. So düster diese Schrecken auch sind, sind sie ein notwendiger Preis, den wir, oder zumindest einige von uns, bezahlen müssen, damit die Menschheit überhaupt überlebt.

Obwohl es wahr ist, dass wir diesen Preis mit unserer gegenwärtigen Gesellschaftsstruktur und ihren Institutionen zahlen müssen, liegt die Ironie darin, dass dies keine Konsequenz der menschlichen Eigenschaften an sich ist. Wir leben in Gesellschaften, die strukturiert sind, um genau das wahr werden zu lassen. Und die Menschen sehen das nicht, und ehrlich gesagt, denke ich, dass der Großteil der Menschen es erst dann wirklich als Anstoß für Engagement und den Kampf für ein neues soziales System verstehen wird, wenn die Bewegungen die Möglichkeit eines besseren Lebens und besserer Verhältnisse überzeugend darstellen. Solange, wie es keine weitverbreitete Übereinstimmung zur Existenz eines besseren Lebens außerhalb des Kapitalismus gibt, wird es keine Bewegung geben, mit der wir dem Kapitalismus erfolgreich entkommen.

Ein Hauptargument für die vermeintliche Unmöglichkeit von Alternativen hängt mit dem Menschenbild zusammen (das der dominanten Kultur, unter anderem den Wirtschaftswissenschaften mit langfristigem Erfolg, gelungen ist zu kreieren). Entsprechend dieses Bildes sind Gewalt und Eigennutz wesentliche Bestandteile des menschlichen Wesens (was schon zu denken verhindert, dass Solidarität, Gleichheit und Selbstverwaltung funktionierende Prinzipien sein könnten). Was entgegnest Du, wenn Du mit derlei Vorurteilen konfrontiert wirst?

Man sagt mir — aber der Mensch ist böse. Der Mensch ist gierig, egoistisch, gewalttätig usw. Das ist die menschliche Natur. Der Versuch, eine bessere Gesellschaft zu erreichen, ist vollkommen zwecklos. Es ist der Weg eines Narren. Vielleicht wünschst du dir eine bessere Welt, aber wir haben eine menschliche Welt und wir sitzen darin fest. Die menschliche Natur diktiert das so.

Ich habe verschiedene Weisen darauf zu antworten.
Zu sagen, dass etwas eventuell gegeben oder menschliche Natur ist, ist eine Sache. Wir wissen, dass es möglich ist, gierig, gewalttätig, usw. zu sein. Wir sehen es, also ist es offensichtlich möglich. Aber zu behaupten, dass diese Dinge von unserer menschlichen Natur — und damit von den gleichen Prinzipien, aufgrund derer wir eine Leber haben oder Sauerstoff zum Atmen oder Wasser brauchen — getrieben sind, ist etwas ganz anderes.

Nehmen wir an, du behauptest, dass es Gier oder Gewalt, Vergewaltigung oder was auch immer nur gibt, weil es in unsere Natur ebenso eingeschrieben ist, wie eine Leber zu haben oder Wasser zu benötigen. Das hieße zu denken, dass jede Person, die man je gekannt hat, einschließlich dir selbst, mit der gleichen Selbstverständlichkeit gierig ist, Gewalt anwendet oder vergewaltigt, wie sie Wasser trinkt. Glaubst du das wirklich?

Oder stellen wir uns vor, du schaust an einem sehr heißen Tag aus dem Fenster. Ein bulliger Typ kommt die Straße hinunter und dort befindet sich ein kleines Kind mit einer Eiswaffel. Der Typ packt die Waffel, drückt das Kind in den Rinnstein und geht weiter. Denkst du dir dann, dass es sich dabei um ein Exemplar der Gattung Mensch handelt, das unserer aller Natur gemäß agiert, oder denkst du, da geht ein pathologischer Verbrecher?

Oder anders, kennst du persönlich irgendjemanden, der nicht gierig, gewalttätig oder ein Vergewaltiger, usw. ist? Wenn ja, hast du ein Problem. Denn du kennst niemanden, der kein Wasser oder keinen Sauerstoff braucht oder keine Leber besitzt.

Oder nimm an, es gibt eine gute Person — deine Großmutter, sagen wir, oder wen auch immer. Mithilfe deiner Sicht auf die menschliche Natur als Produzent asozialer Menschen kannst du die Existenz dieser Person nicht erklären.

Angeborene Bösartigkeit würde im Zusammenspiel mit Institutionen, die soziales Verhalten weder begünstigen noch unterdrücken und Gier weder bestrafen noch fördern, nicht eine einzige gute Oma hervorbringen. Aber ich kann ohne den Verweis auf die menschliche Natur erklären, warum sich eine Person gewalttätig, gierig, antisozial verhält, solange wir inmitten von Institutionen leben, die diese Züge aggressiv und unablässig hervorbringen.

Und nehmen wir letztlich an, du hast recht, nehmen wir gegen jede Vernunft an, dass die menschliche Natur nach Gewalt, Vergewaltigung, Gier und so weiter strebt und wenig Antrieb zu einem sozialeren Verhalten hat. Warum sollten wir aus diesem trostlosen Bild folgern, dass wir eher Institutionen brauchen, die antisoziale Verhaltensweisen fördern und belohnen als Institutionen, die deren Vorherrschaft verringern und stattdessen soziale Züge fördern und belohnen.

Die menschliche Natur ist sehr komplex. Über das Offensichtliche hinaus wissen wir tatsächlich nicht besonders viel darüber. Gute Schriftsteller wissen vielleicht mehr davon als Biologen. Aber was wir wissen müssen und worüber wir uns sicher sein können, ist einfach und offensichtlich.

Unter bestimmten Umständen werden Menschen auf entsetzliche Weise handeln. Unter anderen Umständen werden Menschen, und zwar sogar dieselben Menschen, sehr erfreuliche, sogar großartige Handlungen vollbringen. Das Fazit ist trivial: Wir sollten Gesellschaften haben, in denen der letztere Zusammenhang allgegenwärtig ist. Und genau das meinen wir mit der Suche nach einer wertvollen, begehrenswerten Gesellschaft ...

Beim Thema wünschenswerte Gesellschaft würde ich nun gerne die ökonomische Vision von Parecon (Abkürzung für Partizipatorische Ökonomien) ansprechen, eine tiefgründige Theorie, die Du für den ”Normalbürger” verständlich darstellst. Wo finden sich Berührungspunkte zwischen dieser Vision und den Aktivitäten der alltäglichen Bewegungen?

Partizipatorische Ökonomien beruhen auf einigen wenigen Grundwerten und wenigen Institutionen, die konzipiert sind, diese umzusetzen. Die Werte lauten Selbstverwaltung, Solidarität, Diversität, Gleichheit und ökologische Vernunft.

Die Institutionen sind Arbeiter– und Konsumentenräte, die Entscheidungsmethoden der Selbstverwaltung anwenden; hinzu kommt ein Einkommen, das sich nach Dauer, Intensität und Beschwerlichkeit der sozial wertvollen Arbeit richtet; Jobs mit ausgeglichenen Machtverhältnissen, so dass wir alle Aufgaben übernehmen, die unsere Fähigkeit, uns mit anderen zu verbünden stärken und neue Ideen und deren Umsetzung am Arbeitsplatz fördern; und eine kooperative und kollektive Verhandlung der In– und Outputs wirtschaftlichen Austausches, die wir partizipatorisches Planen nennen.

Aus meiner Sicht gibt es zahllose Verbindungen zwischen dieser breitgefächerten ökonomischen Zukunftsvision und den konkreten Kämpfen, die Menschen innerhalb der gegenwärtigen Ökonomien führen. Die Verbindung liegt in der Art und Weise, wie wir die Dinge auswählen, für die wir kämpfen und noch stärker in der Art, wie wir darüber sprechen und ebenso, wie wir uns in unseren Bewegungen organisieren.

Nehmen wir den Kampf um höhere Löhne oder gegen das Militärbudget oder für kürzere Arbeitstage oder nehmen wir das Schaffen eines neuen kooperativen Arbeitsplatzes. In den ersten drei Fällen streben wir beispielsweise nach einem Mindestlohn von 15 Dollar, einer niedrigeren Budgetzuteilung für Waffen oder einer kürzeren Arbeitswoche. Wenn wir mit der partizipatorischen ökonomischen Vorstellung vertraut sind, werden wir diese Dinge mithilfe unserer gesamten Überzeugung einfordern — also beispielsweise, dem Wert eines Lohnsystems, in dem die Menschen ihren Lohn abhängig von der Zeit, der Härte und der Belastung ihrer Arbeit bekommen; mit der Attraktivität der Vorstellung von Arbeitern und Konsumenten, die kollektiv und selbstverwaltet vor dem Hintergrund der vollständigen sozialen Kosten und Nutzen über Aufwand und Produktion entscheiden; mit einem gesunden Verständnis dafür, dass ein Arbeitstag entsprechend der tatsächlichen Bedürfnisse nach Arbeit und Freizeit gestaltet sein sollte.

Wegen der Gewichtung, die wir haben, wird im Laufe des Kampfes klar, dass ein höherer Mindestlohn gut ist, aber es auch wichtig ist, denjenigen, die die schwerste und die entkräftendste Arbeit für lange Stunden ausführen, im Verhältnis zu anderen nicht das Minimum, sondern das Maximum zu bezahlen. Ein Militärbudget sollte nicht nur reduziert, sondern in Fetzen gerissen werden, und noch wichtiger, sollte die Entscheidung zuerst bei den Betroffenen liegen, statt bei einer unerreichbaren, über der Bevölkerung schwebenden Bürokratie. Gleichermaßen sollte die Länge des Arbeitstages vom Bedarf der Arbeiter nach Freizeit im Verhältnis zum Einkommen, und nicht vom Profitbedarf des Eigentümers abhängen. In jedem Fall geht die Schlacht nach der Erfüllung einer Forderung weiter. Die Diskussion bereitet den Weg, um nach mehr zu streben.

Und im Fall der Suche nach einer neuen Arbeitsplatz–Kooperative: Fast jede linke Sichtweise besagt, okay, lass uns dieses neue Projekt ansetzen, ohne einen Eigentümer ”über uns”. Aber die Perspektive der partizipatorischen Ökonomie fügt dieser Idee etwas hinzu, nämlich Entscheidungen selbstverwaltet zu treffen und gerechte Vergütung einzuführen und vor allem den neuen Ansatz, die Aufgabenteilung so zu gestalten, dass am Ende des Arbeitstages jeder am Entscheidungsprozess teilhaben kann.

Natürlich gäbe es dazu — wie zu vielen anderen Dingen auch — noch viel mehr zu sagen, aber zwischen der partizipatorischen Ökonomie als Idee oder Vision und ihrer realen Umsetzung steht allerhand.

Und was ist das größte Hindernis, das Menschen daran hindert, diese Vision in die Tat umzusetzen?

Der Widerstand derjenigen, die von den bestehenden ökonomischen Verhältnissen derzeit am meisten profitieren, ist sicherlich ein sehr reales und mächtiges Hindernis. Aber ich denke, die Frage zielt auf ein noch größeres Hindernis ab. Um einen alten Slogan aus den Sechziger Jahren zu zitieren: Die Macht des Volkes ist, wenn es seine Macht nutzt, wirklich größer als die Macht der menschgemachten Technologien. Sie ist auch größer als die Macht der Polizei und der Medien des Establishments. Sie ist größer als das Ego des Geldbeutels und der Brieftasche. Aber die Macht des Volkes ist nur so groß, wie die Menschen bereit sind, sie auszuleben. Also besteht das Hindernis, das wir überwinden müssen, aus der Angst der Menschen vor dem Versuch einerseits und noch wichtiger andererseits, aus ihrem Zweifel und ihrem Unglauben gegenüber der Idee, dass es etwas gibt, für das es sich zu kämpfen und zu gewinnen lohnt.

Wir marschieren nicht durch die Straßen der Hauptstädte rund um die Welt, um zu verlangen, dass der Sensenmann, der Tod als solcher, zurücktritt. Und es ist vernünftig, dass wir das nicht tun. Ebenso grimmig, wie der Sensenmann sich zeigt, ist der natürliche Tod eine Tatsache. Das Problem ist, dass die meisten Menschen denken, dass der Tod durch Verhungern, durch verhinderbare Krankheiten, durch langsames und beständiges Verweigern der Würde, durch Kugeln und Bomben dem Tod in den Händen der Biologie und der erbarmungslosen Lebensuhr gleicht. Dass dies lediglich eine Tatsache sei, die es zu akzeptieren gilt. Aber das ist es nicht. Es ist ein Verbrechen. Und es ist vermeidbar.

Dagegen zu demonstrieren, sich zu versammeln und zu organisieren, gegen den sozial verordneten Tod und für eine Welt, die all dies eliminiert und durch Bedingungen von Gleichheit, Partizipation, Würde, und Volksmacht ersetzt ist nicht nur möglich und wünschenswert, es ist sogar absolut erforderlich, um irgendeine Zukunft zu ermöglichen, ganz zu schweigen von einer besseren Zukunft.


¹ Als unternehmerische Arbeitsteilung bezeichnet Michael Albert die in Unternehmen gängige Arbeitsteilung, bei der sich Befugnisse und Tätigkeiten der Einzelnen erheblich unterscheiden und sich eine Art Pyramide der Arbeitsplatzqualitäten bildet. (Anm. d. Redaktion)

Aus Englischen von Miriam Hutter und Susan Tröger

Utopie-Magazin, März 2015

Die englische Version findet sich hier.