Wir haben Grund, uns aufzulehnen
Übersetzung: Jakob Peter
Auf der ganzen Welt erdulden Menschen verschiedenste Regierungsformen, die wir in drei Gruppen ordnen können. Unter die erste Gruppe der Regierungsformen fallen Einparteiensysteme, in denen die Macht bei einer Partei konzentriert ist. In Systemen dieser Art werden Wahlen gefälscht, die Medien mundtot gemacht und Oppositionelle befinden sich im Gefängnis oder verschwinden spurlos. Zu dieser Gruppe gehören viele frühere und aktuelle “kommunistische” Staaten sowie ehemalige Kolonien, welche die brutalen Unterdrückungsmethoden von ihren Kolonialherren übernommen haben und nun selbst ausüben. Regierungen des zweiten Typs sind politisch instabil. Die politische Führung wird hier durch Aufstände oder Staatsstreiche bedroht, wie es derzeit in Syrien oder in der Demokratischen Republik Kongo der Fall ist. Die dritte Gruppe versammelt Regierungsformen, die gemeinhin “Demokratien” genannt werden: Hier werden Wahlen an festgelegten Terminen abgehalten, Parlamente verabschieden
Gesetze und Regierungen verwalten die öffentlichen Angelegenheiten. Die reichsten Länder dieser Gruppe entsenden ihre führenden Politiker regelmäßig zu Treffen, auf denen unter dem Schutz eines großen Polizeiaufgebots die Zukunft der Welt diskutiert wird. Die anderen Staaten werden von diesen Ländern gelobt, sofern sie sich willig den “demokratischen” Werten anpassen, ganz gleich ob sie dabei der Ausbeutung ihrer Ressourcen und der Verelendung ihrer
Bevölkerung tatenlos zusehen. Die Grenzen zwischen diesen drei Gruppen sind fließend: Einige bedeutende Staaten – Algerien, der Iran, Russland – haben gleichzeitig Merkmale der ersten und der dritten Gruppe, und es kommt vor, dass ein Land plötzlich von der einen in eine andere Kategorie rutscht, wie Ägypten unter Mubarak kürzlich von der ersten in die zweite Gruppe geriet. Daneben gibt es zudem die Länder der “bolivarischen Revolution”, Venezuela, Ecuador, Bolivien, die eine Gruppe für sich bilden und in die manche ihre Hoffnung setzen.
Um das Wort Demokratie hat sich mit der Zeit eine Aura pflichtbewusster Hochachtung gebildet. Die Demokratie ist ein Regierungssystem, das dem zivilisierten Herzen des Westens entsprungen ist, der dem Rest der Welt nun auf unterschiedliche Weise hilft, ebenfalls eine solche Regierungsform zu erreichen. Für alle Staatsoberhäupter, von den tolerantesten Sozialdemokraten bis zu den schlimmsten Despoten, ist die öffentlich bekundete Sorge um die Demokratie eine Pflichtaufgabe. Die Demokratie ist unbestritten, denn sie ist das Regime der Freiheit und, durch eine schleichende Bedeutungserweiterung, des Liberalismus, des Freihandels, der Wettbewerbsfreiheit und des Neoliberalismus. Seit dem Ende der sogenannten “Volksdemokratien”, die wir in verhängnisvoller Erinnerung behalten, ist die Demokratie untrennbar mit dem Kapitalismus und seinen verschiedenen Tarnnamen verbunden. Im Folgenden werden wir deshalb von kapitalistischer Demokratie sprechen. Sie hat sich heute als letzte und vermeintlich endgültige Form des gesellschaftlichen Zusammenlebens durchgesetzt, und das nicht nur als Ideologie der Eliten, sondern gerade auch in der Vorstellung der Bevölkerung. Ihre Legitimation beruht nun auf drei recht porösen, im Verfall begriffenen Säulen.
Die erste Säule besteht in der konstanten Steigerung der Lebensqualität, die zur Bildung einer universellen Mittelschicht führen soll. Sie ist durch den Fordismus geprägt (die Erhöhung der Löhne mittels Produktivitätssteigerungen, damit die Arbeiter mehr kaufen können und so die Industrie ankurbeln) und die verschiedenen sozialdemokratischen Maßnahmen, wie sie der amerikanische New Deal, die französische Volksfront-Regierung und der sozialistische Flügel der Labour-Partei in der Nachkriegszeit in England entwickelt hatten. Dieser Grundpfeiler existiert heute nur noch in der Vorstellung, das heißt in den Vorhersagen von Finanzministerien und internationalen Organisationen, die die sozialstaatlichen Maßnahmen trotz aller Bilanzfälschung regelmäßig noch weiter zurücknehmen und nach unten korrigieren. Daneben steht als zweite Säule der Weltfrieden, den die kapitalistische Demokratie nach den “Gräueln der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts” auf dem Planeten herrschen lässt. Nun muss man allerdings kein großer Geopolitologe sein, um zu erkennen, dass sich überall Kriege ausbreiten. Seien es die – je nach Ausgangslage unterschiedlich heftigen – Bürgerkriege, in Europa eher lautlos, im Mittleren Osten dagegen erbittert; seien es die schrecklichen Kriege um Edelsteine, Diamanten und Nahrungsmittel in Afrika; seien es die vergessenen Aufstände in Myanmar und auf den Philippinen; seien es die endlosen Kriege in Afghanistan, Somalia und Palästina. Alles Kriege zwischen Stämmen, Volksgruppen und Religionen? Nein, hinter jedem einzelnen von ihnen steckt die kapitalistische Demokratie, die mit unterschiedlichen Masken ihre eigenen Interessen verfolgt, nämlich die Kontrolle von Bodenschätzen, Nahrungsmitteln, Erdöl und strategisch wichtigen Stellungen. Als großer Friedensbringer, als Leviathan der Welt, hat die kapitalistische Demokratie längst jede Glaubwürdigkeit verloren.
Die wackeligste Säule aber ist die durch das allgemeine Wahlrecht begründete “demokratische Legitimation”. Schließlich wird das Volk von Menschen geführt, die man gewählt hat. Und wenn man mit ihnen nicht zufrieden ist, muss man beim nächsten Mal nur andere auswählen. Dieses Argument diente bereits dem republikanischen Politiker François Arago, als er im Juni 1848 die Barrikaden im Quartier Latin von Paris stürmen ließ: Das Volk hat gesprochen und kein Recht, die Waffen gegen die zu erheben, die es selbst gewählt hat. Aber bei aller Etymologie und trotz der Verfassungsartikel, die die Souveränität des Volkes versichern, in keinem Land der Welt geht die Macht wirklich vom demos aus. Das ist seit langem offensichtlich. Neu ist jedoch, dass die Macht auch nicht mehr bei der Kaste der Politiker liegt, die unter sich traditionellerweise im Rhythmus von Legislaturperioden die Minister- und Verwaltungsposten aufteilen. Diese Form von Politik ist nur mehr nichts weiter als eine leere Hülle. Mit der “Krise” trat offen zutage, was als Hintergrund schändlich verborgen lag: Wirtschaft ist unmittelbar Politik. Die Macht liegt nirgendwo anders als, wie man beschönigend sagt, bei den “Märkten”, die ihre Ängste, ihre Launen und ihre Erwartungen in den Zeitungsüberschriften drucken und von Experten aller Couleur kommentieren lassen (der Experte ist neben dem Wachmann sicherlich das personifizierte Sinnbild unserer Zeit). Märkte, das ist beruhigend – denn was ist friedlicher, als auf dem Markt einkaufen zu gehen? Das Wort Märkte wahrt die Anonymität dessen, was sich dahinter verborgen und maskiert findet, all der Strukturen, mithilfe derer wir an unserer eigenen Enteignung mitwirken. Oft lesen wir, dass die Märkte “besorgt”, sogar “beunruhigt” seien.
Gewiss wären die Reaktionen in der Bevölkerung weniger friedfertig, weniger resigniert, wenn man ihnen klar sagte: Wer hier unzufrieden ist, das sind die Vorstände der großen Banken, der Versicherungen und all die Verwalter der Fonds – der Pensionsfonds, in denen die Ersparnisse der Rentner verwaltet werden; der hoch riskanten Hedgefonds; der Investmentfonds (private equity) – und des Schattenbankensystems, welches im Namen schon darauf verweist, im Dunkel der absoluten Deregulierung zu operieren. Unter diesen Akteuren der privaten Finanzwirtschaft mag es unterschiedliche Interessen geben. Dennoch teilen sie dieselben Ansichten und bilden daher ein Ganzes (“die Märkte”). Sie kommen aus der gleichen Denkschule, lesen die gleichen Texte, bewegen sich in den gleichen Netzwerken und haben die gleiche Auffassung davon, was gut für die Welt und vor allem davon, was gut für sie selbst ist. Die Beziehung zwischen der privaten Finanzwirtschaft auf der einen und den Regierungen, Zentralbanken und der Europäischen Kommission auf der anderen Seite, ist durch absolute Durchlässigkeit charakterisiert. Sie wird gewährleistet durch einen doppelten Mechanismus: den offiziellen Lobbyismus und die Drehtür zwischen Wirtschaft und Politik. Das große Karriereziel von französischen Finanzaufsichtsbeamten ist der Wechsel an die Spitze von Privatbanken, der mit einer Erhöhung ihres Einkommens um das zehn- bis zwanzigfache einhergeht. Dies erklärt u.a. auch das beschämende Zurückrudern der sozialistischen Regierung Frankreichs bei der Bankenreform, einem Wahlversprechen des amtierenden Präsidenten François Hollande. Ursprünglich sollte der Geschäfts- vom Privatkundenbereich getrennt werden, um die privaten Spareinlagen von faulen Fonds trennen zu können, die aus der Deregulierung des Finanzsystems stammen. Doch den Finanzaufsichtsbeamten, die das Gesetz vorbereitet haben, lag wenig daran, ihre zukünftigen Arbeitgeber zu verärgern. Das Geld der Sparer wird also weiterhin dazu dienen, die katastrophalen Folgen des liberalisierten, ungezügelten Finanzsystems abzufedern. Mittlerweile haben es die “Märkte” auf hoch verschuldete Staaten abgesehen. Damit Griechenland in der Eurozone bleiben kann, hat die Troika (Europäische Union, IWF, EZB) faktisch die Macht übernommen und wahrt nicht einmal mehr den “demokratischen” Schein. Zypern ereilte vor kurzem das gleiche Schicksal, und Portugal, Spanien und Italien stehen unter der Aufsicht dieser neuen Heiligen Allianz.
Wenn die “Krise” eines gezeigt hat, so ist es weniger die Schuld der “Märkte” als die politische Unterwerfung aller Staaten unter die Logik der Wirtschaft. In Frankreich beginnt der Zerfall der konstitutionellen Macht 1983. In diesem Jahr begannen die Sozialisten1, “Härte zu zeigen”. Sie haben also entschieden, dass Regieren nichts anderes ist als die Anpassung an den allgemeinen Lauf der Dinge. In der Folge ist es erneut ein Sozialist (der am 01. Mai 1993 unter ungeklärten Umständen tot aufgefundene Pierre Bérégovoy), der 1986 als Wirtschafts- und Finanzminister die Deregulierung des Finanzsystems vorantrieb. Danach nehmen die folgenden Regierungen lediglich die Verschlechterung der materiellen und sozialen Bedingungen in dem ihnen anvertrauten Land und seiner Bevölkerung zur Kenntnis. Sie begnügen sich damit, Ministerien zu schaffen, die ihrem Namen nach – Wirtschaftlicher Aufschwung, Nationale Identität, Solidarische Wirtschaft, Föderalismus – angelegt scheinen, die gesellschaftliche Realität zu beschwören.
Doch die Feststellung, das daraus entstandene System sei zynisch, ungerecht und brutal, greift zu kurz. Wer gegen das System protestiert, demonstriert und Unterschriftensammlungen initiiert, erkennt implizit an, dass Anpassungen im Angesicht der Krise möglich sind. Denn was Krise genannt wird, ist für die Politik ein entscheidendes Mittel, um die Bevölkerung – die produktive wie die “überzählige” – zu kontrollieren. Der Krisendiskurs ist deshalb in allen industrialisierten Ländern verbreitet und wird permanent von den Medien und politischen Institutionen aufgegriffen. Die “Bewältigung der Krise” geht so naturgemäß mit dem “war on terror” einher, da beide sich auf dem selben grundlegenden Reflex gründen: der Angst vor dem Chaos.
Nachdem die Armen mit einer Schwemme billiger Kredite ruhig gestellt wurden, nachdem als Folge der allgemeinen Verschuldung nach und nach die verschiedensten Finanzblasen geplatzt sind, fordern die “Märkte” nun das Dogma der Austerität und hoffen so, ihre Verluste auf Kosten der Allgemeinheit wieder wettzumachen (ein Prozess, der “Rückkehr zum finanziellen Gleichgewicht” genannt wird). Die Regierungen bedienen sich des berühmten Arguments von Margaret Thatcher: TINA (There Is No Alternative). Sie befolgen die Vorgaben der “Märkte” und schüren die Angst vor der Katastrophe, damit die notwendigen Opfer von der Bevölkerung willig erbracht werden. Aber das Volk ist nicht dumm. Es macht sich lustig über die Märchengeschichten der Wirtschaftsvertreter. Die unzähligen Gipfeltreffen, die alle der “Krise” ein Ende bereiten sollen, stoßen auf eine bemerkenswerte Gleichgültigkeit. Der Hass auf die Brüsseler Bürokratie ist so weit verbreitet wie die Geringschätzung des politischen Personals, unabhängig welcher Couleur. “Politisches Personal” beschreibt ziemlich gut die dressierten schwatzhaften Angestellten der Wirtschaft, denen die Führungspositionen des Staates und die alltäglichen Verwaltungsaufgaben übertragen werden, wenn sie im Gegenzug dafür die Drecksarbeit machen und der Bevölkerung die Entscheidungen ihrer wahren Herrscher schmackhaft machen. So sehr der demokratische Kapitalismus auch verachtet und gehasst wird, ernsthaft angegriffen wird er nicht. Man möchte ihn allenfalls korrigieren, gerechter, lebenswerter und moralischer machen. Doch das widerspricht seinem Wesen – erst recht seit der “Krise”, deren „Behandlung“ sich auf Niedriglöhne und organisierte Armut stützt. Kein Wort davon, ihm das gleiche Schicksal zu bereiten wie anderen Unterdrückungssystemen vor ihm. Kein Wort davon, ihn ein für alle Mal hinter sich zu lassen. Von der radikalen Linken ist nichts zu erwarten. Seit langem schon ist ihre Rhetorik nicht mehr mit anzuhören, ist ihre Lebenskraft erloschen, und ihre Vorstellung von Glückseligkeit vollkommen trostlos. Selbst die angesehensten Parteigänger – diejenigen, die zur rechten Zeit am rechen Platz sein werden – glauben nicht mehr wirklich an die versteinerten trotzkistischen Ideen, die von einem Großteil der linken Organisationen und Gruppen geteilt werden. Sie sind nur noch da aus Loyalität, weil es nichts Besseres gibt. Man wartet. In Frankreich ruft die Großmäuligkeit der Parti de gauche2 zwar noch ein gewisses Echo hervor, aber ihre aktiven Mitglieder werden bald begreifen, dass die Jakobinermütze zu tragen, die Marseillaise zu singen und alle Unruhen in den Vororten als Spielerei abzutun, so wenig ein Programm ist, wie Léon Gambetta einem Louis-Auguste Blanqui ähnelt.
Bewegungen wie Occupy oder die spanischen Indignados haben das Bewusstsein von Personen geweckt, die bisher völlig unpolitisch waren. Ein nicht zu verachtendes Ergebnis, das aber noch zu keinen Erschütterungen im System geführt hat: Die kapitalistische Demokratie hat schon viele andere Bewegungen kommen und gehen sehen und betrachtet solche Phänomene mit amüsiertem Wohlwollen. Unruhen und in Ausschreitungen endende Demonstrationen wie in Frankreich, England, Griechenland und Schweden werden hingegen weniger wohlwollend aufgenommen. Bei den Konservativen spricht man von Randalierern, die nur an der Plünderung der teuren Markengeschäfte interessiert seien. Die Linken konstatieren ein fehlendes politisches Bewusstsein. Dieses Abgrenzungsverhalten ist der Ausdruck von Beunruhigung – berechtigter Beunruhigung, denn die für die Aufrechterhaltung der Ordnung Verantwortlichen wissen, wohin es führen könnte, wenn solche Ausbrüche des Volksbegehrens organisiert und koordiniert würden. Um das zu verhindern, werden deshalb in allen “demokratischen” Staaten will-kürlich ausgewählte “Anführer” unter den Bedingungen des Ausnahmezustands, der nichts mehr mit rechtsstaatlichen Prinzipien zu tun hat, zu exorbitanten Strafen verurteilt.
In den letzten Jahren gab es in Paris und London mehrere Konferenzen zur “Idee des Kommunismus”. Aus ihnen gingen Bücher hervor, die sehr nützlich sind, da sie dazu beigetragen haben, dass es nun wieder möglich ist, das Wort Kommunismus zu benutzen, ohne sich dafür zu entschuldigen. Doch nirgendwo – wenn wir uns nicht irren – wird ernsthaft vorgeschlagen, die kapitalistische Demokratie zu stürzen, und hier und jetzt an der – noch so ein verdammtes Wort – Revolution zu arbeiten. Angesichts eines lebensunfähigen Systems, das überall Risse hat, sollten wir über diese Stille, diese seltsame Abwesenheit nachdenken.
1 Die Parti Socialiste (PS) ist keine sozialistische Partei im engeren Sinne, sondern das französische Äquivalent der SPD in Deutschland. (Anm. d. Ü.) 2 Eine Partei links der PS, in etwa das Pendant der deutschen Partei Die Linke. (Anm. d. Ü.)
Um das Wort Demokratie hat sich mit der Zeit eine Aura pflichtbewusster Hochachtung gebildet. Die Demokratie ist ein Regierungssystem, das dem zivilisierten Herzen des Westens entsprungen ist, der dem Rest der Welt nun auf unterschiedliche Weise hilft, ebenfalls eine solche Regierungsform zu erreichen. Für alle Staatsoberhäupter, von den tolerantesten Sozialdemokraten bis zu den schlimmsten Despoten, ist die öffentlich bekundete Sorge um die Demokratie eine Pflichtaufgabe. Die Demokratie ist unbestritten, denn sie ist das Regime der Freiheit und, durch eine schleichende Bedeutungserweiterung, des Liberalismus, des Freihandels, der Wettbewerbsfreiheit und des Neoliberalismus. Seit dem Ende der sogenannten “Volksdemokratien”, die wir in verhängnisvoller Erinnerung behalten, ist die Demokratie untrennbar mit dem Kapitalismus und seinen verschiedenen Tarnnamen verbunden. Im Folgenden werden wir deshalb von kapitalistischer Demokratie sprechen. Sie hat sich heute als letzte und vermeintlich endgültige Form des gesellschaftlichen Zusammenlebens durchgesetzt, und das nicht nur als Ideologie der Eliten, sondern gerade auch in der Vorstellung der Bevölkerung. Ihre Legitimation beruht nun auf drei recht porösen, im Verfall begriffenen Säulen.
Die erste Säule besteht in der konstanten Steigerung der Lebensqualität, die zur Bildung einer universellen Mittelschicht führen soll. Sie ist durch den Fordismus geprägt (die Erhöhung der Löhne mittels Produktivitätssteigerungen, damit die Arbeiter mehr kaufen können und so die Industrie ankurbeln) und die verschiedenen sozialdemokratischen Maßnahmen, wie sie der amerikanische New Deal, die französische Volksfront-Regierung und der sozialistische Flügel der Labour-Partei in der Nachkriegszeit in England entwickelt hatten. Dieser Grundpfeiler existiert heute nur noch in der Vorstellung, das heißt in den Vorhersagen von Finanzministerien und internationalen Organisationen, die die sozialstaatlichen Maßnahmen trotz aller Bilanzfälschung regelmäßig noch weiter zurücknehmen und nach unten korrigieren. Daneben steht als zweite Säule der Weltfrieden, den die kapitalistische Demokratie nach den “Gräueln der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts” auf dem Planeten herrschen lässt. Nun muss man allerdings kein großer Geopolitologe sein, um zu erkennen, dass sich überall Kriege ausbreiten. Seien es die – je nach Ausgangslage unterschiedlich heftigen – Bürgerkriege, in Europa eher lautlos, im Mittleren Osten dagegen erbittert; seien es die schrecklichen Kriege um Edelsteine, Diamanten und Nahrungsmittel in Afrika; seien es die vergessenen Aufstände in Myanmar und auf den Philippinen; seien es die endlosen Kriege in Afghanistan, Somalia und Palästina. Alles Kriege zwischen Stämmen, Volksgruppen und Religionen? Nein, hinter jedem einzelnen von ihnen steckt die kapitalistische Demokratie, die mit unterschiedlichen Masken ihre eigenen Interessen verfolgt, nämlich die Kontrolle von Bodenschätzen, Nahrungsmitteln, Erdöl und strategisch wichtigen Stellungen. Als großer Friedensbringer, als Leviathan der Welt, hat die kapitalistische Demokratie längst jede Glaubwürdigkeit verloren.
Die wackeligste Säule aber ist die durch das allgemeine Wahlrecht begründete “demokratische Legitimation”. Schließlich wird das Volk von Menschen geführt, die man gewählt hat. Und wenn man mit ihnen nicht zufrieden ist, muss man beim nächsten Mal nur andere auswählen. Dieses Argument diente bereits dem republikanischen Politiker François Arago, als er im Juni 1848 die Barrikaden im Quartier Latin von Paris stürmen ließ: Das Volk hat gesprochen und kein Recht, die Waffen gegen die zu erheben, die es selbst gewählt hat. Aber bei aller Etymologie und trotz der Verfassungsartikel, die die Souveränität des Volkes versichern, in keinem Land der Welt geht die Macht wirklich vom demos aus. Das ist seit langem offensichtlich. Neu ist jedoch, dass die Macht auch nicht mehr bei der Kaste der Politiker liegt, die unter sich traditionellerweise im Rhythmus von Legislaturperioden die Minister- und Verwaltungsposten aufteilen. Diese Form von Politik ist nur mehr nichts weiter als eine leere Hülle. Mit der “Krise” trat offen zutage, was als Hintergrund schändlich verborgen lag: Wirtschaft ist unmittelbar Politik. Die Macht liegt nirgendwo anders als, wie man beschönigend sagt, bei den “Märkten”, die ihre Ängste, ihre Launen und ihre Erwartungen in den Zeitungsüberschriften drucken und von Experten aller Couleur kommentieren lassen (der Experte ist neben dem Wachmann sicherlich das personifizierte Sinnbild unserer Zeit). Märkte, das ist beruhigend – denn was ist friedlicher, als auf dem Markt einkaufen zu gehen? Das Wort Märkte wahrt die Anonymität dessen, was sich dahinter verborgen und maskiert findet, all der Strukturen, mithilfe derer wir an unserer eigenen Enteignung mitwirken. Oft lesen wir, dass die Märkte “besorgt”, sogar “beunruhigt” seien.
Gewiss wären die Reaktionen in der Bevölkerung weniger friedfertig, weniger resigniert, wenn man ihnen klar sagte: Wer hier unzufrieden ist, das sind die Vorstände der großen Banken, der Versicherungen und all die Verwalter der Fonds – der Pensionsfonds, in denen die Ersparnisse der Rentner verwaltet werden; der hoch riskanten Hedgefonds; der Investmentfonds (private equity) – und des Schattenbankensystems, welches im Namen schon darauf verweist, im Dunkel der absoluten Deregulierung zu operieren. Unter diesen Akteuren der privaten Finanzwirtschaft mag es unterschiedliche Interessen geben. Dennoch teilen sie dieselben Ansichten und bilden daher ein Ganzes (“die Märkte”). Sie kommen aus der gleichen Denkschule, lesen die gleichen Texte, bewegen sich in den gleichen Netzwerken und haben die gleiche Auffassung davon, was gut für die Welt und vor allem davon, was gut für sie selbst ist. Die Beziehung zwischen der privaten Finanzwirtschaft auf der einen und den Regierungen, Zentralbanken und der Europäischen Kommission auf der anderen Seite, ist durch absolute Durchlässigkeit charakterisiert. Sie wird gewährleistet durch einen doppelten Mechanismus: den offiziellen Lobbyismus und die Drehtür zwischen Wirtschaft und Politik. Das große Karriereziel von französischen Finanzaufsichtsbeamten ist der Wechsel an die Spitze von Privatbanken, der mit einer Erhöhung ihres Einkommens um das zehn- bis zwanzigfache einhergeht. Dies erklärt u.a. auch das beschämende Zurückrudern der sozialistischen Regierung Frankreichs bei der Bankenreform, einem Wahlversprechen des amtierenden Präsidenten François Hollande. Ursprünglich sollte der Geschäfts- vom Privatkundenbereich getrennt werden, um die privaten Spareinlagen von faulen Fonds trennen zu können, die aus der Deregulierung des Finanzsystems stammen. Doch den Finanzaufsichtsbeamten, die das Gesetz vorbereitet haben, lag wenig daran, ihre zukünftigen Arbeitgeber zu verärgern. Das Geld der Sparer wird also weiterhin dazu dienen, die katastrophalen Folgen des liberalisierten, ungezügelten Finanzsystems abzufedern. Mittlerweile haben es die “Märkte” auf hoch verschuldete Staaten abgesehen. Damit Griechenland in der Eurozone bleiben kann, hat die Troika (Europäische Union, IWF, EZB) faktisch die Macht übernommen und wahrt nicht einmal mehr den “demokratischen” Schein. Zypern ereilte vor kurzem das gleiche Schicksal, und Portugal, Spanien und Italien stehen unter der Aufsicht dieser neuen Heiligen Allianz.
Wenn die “Krise” eines gezeigt hat, so ist es weniger die Schuld der “Märkte” als die politische Unterwerfung aller Staaten unter die Logik der Wirtschaft. In Frankreich beginnt der Zerfall der konstitutionellen Macht 1983. In diesem Jahr begannen die Sozialisten1, “Härte zu zeigen”. Sie haben also entschieden, dass Regieren nichts anderes ist als die Anpassung an den allgemeinen Lauf der Dinge. In der Folge ist es erneut ein Sozialist (der am 01. Mai 1993 unter ungeklärten Umständen tot aufgefundene Pierre Bérégovoy), der 1986 als Wirtschafts- und Finanzminister die Deregulierung des Finanzsystems vorantrieb. Danach nehmen die folgenden Regierungen lediglich die Verschlechterung der materiellen und sozialen Bedingungen in dem ihnen anvertrauten Land und seiner Bevölkerung zur Kenntnis. Sie begnügen sich damit, Ministerien zu schaffen, die ihrem Namen nach – Wirtschaftlicher Aufschwung, Nationale Identität, Solidarische Wirtschaft, Föderalismus – angelegt scheinen, die gesellschaftliche Realität zu beschwören.
Doch die Feststellung, das daraus entstandene System sei zynisch, ungerecht und brutal, greift zu kurz. Wer gegen das System protestiert, demonstriert und Unterschriftensammlungen initiiert, erkennt implizit an, dass Anpassungen im Angesicht der Krise möglich sind. Denn was Krise genannt wird, ist für die Politik ein entscheidendes Mittel, um die Bevölkerung – die produktive wie die “überzählige” – zu kontrollieren. Der Krisendiskurs ist deshalb in allen industrialisierten Ländern verbreitet und wird permanent von den Medien und politischen Institutionen aufgegriffen. Die “Bewältigung der Krise” geht so naturgemäß mit dem “war on terror” einher, da beide sich auf dem selben grundlegenden Reflex gründen: der Angst vor dem Chaos.
Nachdem die Armen mit einer Schwemme billiger Kredite ruhig gestellt wurden, nachdem als Folge der allgemeinen Verschuldung nach und nach die verschiedensten Finanzblasen geplatzt sind, fordern die “Märkte” nun das Dogma der Austerität und hoffen so, ihre Verluste auf Kosten der Allgemeinheit wieder wettzumachen (ein Prozess, der “Rückkehr zum finanziellen Gleichgewicht” genannt wird). Die Regierungen bedienen sich des berühmten Arguments von Margaret Thatcher: TINA (There Is No Alternative). Sie befolgen die Vorgaben der “Märkte” und schüren die Angst vor der Katastrophe, damit die notwendigen Opfer von der Bevölkerung willig erbracht werden. Aber das Volk ist nicht dumm. Es macht sich lustig über die Märchengeschichten der Wirtschaftsvertreter. Die unzähligen Gipfeltreffen, die alle der “Krise” ein Ende bereiten sollen, stoßen auf eine bemerkenswerte Gleichgültigkeit. Der Hass auf die Brüsseler Bürokratie ist so weit verbreitet wie die Geringschätzung des politischen Personals, unabhängig welcher Couleur. “Politisches Personal” beschreibt ziemlich gut die dressierten schwatzhaften Angestellten der Wirtschaft, denen die Führungspositionen des Staates und die alltäglichen Verwaltungsaufgaben übertragen werden, wenn sie im Gegenzug dafür die Drecksarbeit machen und der Bevölkerung die Entscheidungen ihrer wahren Herrscher schmackhaft machen. So sehr der demokratische Kapitalismus auch verachtet und gehasst wird, ernsthaft angegriffen wird er nicht. Man möchte ihn allenfalls korrigieren, gerechter, lebenswerter und moralischer machen. Doch das widerspricht seinem Wesen – erst recht seit der “Krise”, deren „Behandlung“ sich auf Niedriglöhne und organisierte Armut stützt. Kein Wort davon, ihm das gleiche Schicksal zu bereiten wie anderen Unterdrückungssystemen vor ihm. Kein Wort davon, ihn ein für alle Mal hinter sich zu lassen. Von der radikalen Linken ist nichts zu erwarten. Seit langem schon ist ihre Rhetorik nicht mehr mit anzuhören, ist ihre Lebenskraft erloschen, und ihre Vorstellung von Glückseligkeit vollkommen trostlos. Selbst die angesehensten Parteigänger – diejenigen, die zur rechten Zeit am rechen Platz sein werden – glauben nicht mehr wirklich an die versteinerten trotzkistischen Ideen, die von einem Großteil der linken Organisationen und Gruppen geteilt werden. Sie sind nur noch da aus Loyalität, weil es nichts Besseres gibt. Man wartet. In Frankreich ruft die Großmäuligkeit der Parti de gauche2 zwar noch ein gewisses Echo hervor, aber ihre aktiven Mitglieder werden bald begreifen, dass die Jakobinermütze zu tragen, die Marseillaise zu singen und alle Unruhen in den Vororten als Spielerei abzutun, so wenig ein Programm ist, wie Léon Gambetta einem Louis-Auguste Blanqui ähnelt.
Bewegungen wie Occupy oder die spanischen Indignados haben das Bewusstsein von Personen geweckt, die bisher völlig unpolitisch waren. Ein nicht zu verachtendes Ergebnis, das aber noch zu keinen Erschütterungen im System geführt hat: Die kapitalistische Demokratie hat schon viele andere Bewegungen kommen und gehen sehen und betrachtet solche Phänomene mit amüsiertem Wohlwollen. Unruhen und in Ausschreitungen endende Demonstrationen wie in Frankreich, England, Griechenland und Schweden werden hingegen weniger wohlwollend aufgenommen. Bei den Konservativen spricht man von Randalierern, die nur an der Plünderung der teuren Markengeschäfte interessiert seien. Die Linken konstatieren ein fehlendes politisches Bewusstsein. Dieses Abgrenzungsverhalten ist der Ausdruck von Beunruhigung – berechtigter Beunruhigung, denn die für die Aufrechterhaltung der Ordnung Verantwortlichen wissen, wohin es führen könnte, wenn solche Ausbrüche des Volksbegehrens organisiert und koordiniert würden. Um das zu verhindern, werden deshalb in allen “demokratischen” Staaten will-kürlich ausgewählte “Anführer” unter den Bedingungen des Ausnahmezustands, der nichts mehr mit rechtsstaatlichen Prinzipien zu tun hat, zu exorbitanten Strafen verurteilt.
In den letzten Jahren gab es in Paris und London mehrere Konferenzen zur “Idee des Kommunismus”. Aus ihnen gingen Bücher hervor, die sehr nützlich sind, da sie dazu beigetragen haben, dass es nun wieder möglich ist, das Wort Kommunismus zu benutzen, ohne sich dafür zu entschuldigen. Doch nirgendwo – wenn wir uns nicht irren – wird ernsthaft vorgeschlagen, die kapitalistische Demokratie zu stürzen, und hier und jetzt an der – noch so ein verdammtes Wort – Revolution zu arbeiten. Angesichts eines lebensunfähigen Systems, das überall Risse hat, sollten wir über diese Stille, diese seltsame Abwesenheit nachdenken.
1 Die Parti Socialiste (PS) ist keine sozialistische Partei im engeren Sinne, sondern das französische Äquivalent der SPD in Deutschland. (Anm. d. Ü.) 2 Eine Partei links der PS, in etwa das Pendant der deutschen Partei Die Linke. (Anm. d. Ü.)