Für eine nächtliche Politik
Übersetzung: Horst Rosenberger
Einführung von JCG
Wütend kämpft Santiago López Petit mit den Grenzen des Möglichen, dort wo sich das Denken fast immer erschöpft. Wenn das Denken schon nichts mehr zu sagen vermag, dann weil die Realität die Fähigkeit zu denken übersteigt oder besser gesagt, weil die Realität den Akt eines lebendigen Denkens, eines Denkens des Lebens besiegt hat. Sprechen wir von dieser Realität, die wir alle sehr gut kennen: der Realität der Ausgeschlossenen und Hyperprekären oder im besten Fall der Kleinunternehmer. Sprechen wir von der Armut in unseren Taschen und vor allem von der Misere, mit der man unsere Seelen nähren will. Einer Realität, die nicht mehr vor unserer Tür zu finden ist, weil sie sich tief verwurzelt hat in unserem Körper. Sprechen wir über das Massengrab, in dem sie uns begraben wollen. Und davon, dass zu leben nichts weiter heißt, als diese Realität zu reproduzieren, die sich an unsere Haut, an die Haut der menschlichen Spezies, geheftet hat. Alles hinzunehmen: Den Tod der Träume, den Tod der Ideale, den Tod dessen, was es hieße, die Wahrheiten, die uns erdrücken, in Ketten zu legen. In wahrheitslosem Glauben und glühendem Nihilismus alles hinzunehmen, was uns diese Zeit in den Weg stellt und auferlegt, bedeutet, dem zu folgen, was als einzig möglicher Ausweg erscheint, als die “versprochene Rettung”, während es sich in Wahrheit um nichts weiter als um den roten Faden des ultrarealistischen kapitalistischen Films handelt. Dieser virusartige und globale Lauf eines einzigen Bildes, das weder Spiegel noch tote Winkel kennt, nimmt uns an die Hand. Geht ein und aus in den Dunkelkammern, in denen uns die Macht lähmt und preisgibt. Vertieft die Bedingungen der Unterwerfung der menschlichen Existenz. Einmal führt dieser rote Faden den symbolischen Tod des freien Denkens an, ein anderes Mal zeigt er sich als Spule des Stacheldrahts. Einmal bedeutet die Dunkelkammer die Leere der toten Seele und ein anderes Mal ist es das Massengrab des Mittelmeers.
Wir können davon ausgehen, dass die Aufgabe der revolutionären Philosophie (von Marx bis zu den Situationisten) sich erschöpft und gleichsam dazu geführt hat, in die Falle der Hermeneutik zu tappen, in die Falle der Theorie ohne Praxis, wie in eine Grube ohne Boden aus Angst. López Petit sah und fühlte die Niederlage an Stelle des Kampfes. Erkannte den Fall. Ein mitnichten freier Fall, der seinen unaufhaltsamen Abstieg fortsetzt und alle versenkt. In seinem ewigen Sirenengesang flüsternd, dass das mögliche Gleichgewicht entweder der Rückzug oder der Zynismus, die Auslieferung an die geistige Magersucht und die physische Bulimie, die mit Annehmlichkeiten versorgte Einsamkeit oder den Schwindel des einzelnen happy ends sei. In diesem düsteren Tunnel erkannte der Autor von Entre el Ser y el Poder. Una apuesta por el querer vivir zuerst den Fall, sah dann, wo das Schreien und Weinen der Organe herrührt und brachte den Antriebsmoment seines Denkaktes hervor: Die gemeinsame Existenz in der heutigen Welt zu denken und damit das Herz der Angst zu durchdringen. Ihn zu lesen, bedeutet einen Angriff anzuerkennen. Einen Angriff auf das Leben, das wir hassen. Wer das Herz der Angst durchdringt, ist bereit für die nächtliche Politik.
Dies sind zwingende Gründe für uns, mit der Verbreitung und Veröffentlichung dieses einzigartigen Denkers auf Deutsch fortzufahren. Während die Tiefe der Reflexion des katalanischen Philosophen sich auf klassische Bezugspunkte wie die Dekonstruktion von Hegel oder Marx, von Gramsci oder Negri, auf eine Ausweitung von Spinoza und Deleuze stützt, so ist sein Stil ebenso eigen, da er sich an dem Saft der Literatur von Kleist und Artaud betrinkt. Wir eröffnen den LeserInnen das letzte Kapitel des Buches La movilización global. Breve tratado para atacar la realidad (Die globale Mobilisierung. Kurzes Traktat für einen Angriff auf die Realität), welches in Spanien, Portugal und Argentinien erschienen ist.*
Aus dem Portugiesischen von CE
* Aufgrund der singulären Kategorien, die der Autor im Laufe seines Werkes geschaffen hat, um sein Denken zu verankern, könnte es nützlich sein, sich diesen Konzepten beschreibend zu nähern und dadurch eine gründlichere Lektüre des hier veröffentlichten Kapitels zu ermöglichen. Ein Begriffsglossar findet sich am Ende des Textes.
Für eine nächtliche Politik
Eine nächtliche Politik ist diejenige Politik, die mit den politischen Kategorien der Moderne gebrochen hat, insbesondere mit der Vorstellung des politischen Raums oder des Raums des Erscheinens, der auf die griechische Polis zurückgeht. Stattdessen nimmt die nächtliche Politik die Folge: gemeinsames Inneres/Kraft der Anonymität/Räume der Anonymität in Anspruch. Sie verfolgt das Ziel, das soziale Unbehagen zu politisieren und die Kraft der Anonymität zum Ausdruck zu bringen. Aber dieser Ausdruck darf nicht mit seiner Repräsentation verwechselt werden. Die Kraft der Anonymität verschmäht und untergräbt ihrem Wesen nach jede Form von Repräsentation. Auf diese Weise beginnt eine neue Politik, die darauf abzielt, ein Niemandsland zu errichten, eine Politik, die versucht, eine Grammatik radikaler Gesten zu entwerfen. Eine nächtliche Politik, die keinen Horizont hat und deshalb unaufhaltsam ist.
Die Schlussfolgerung wurde damit bereits vorweggenommen. In einer Zeit, in der die großen historischen Subjekte zerschlagen sind, kann die globale Mobilisierung einzig unterbrochen und sabotiert werden, indem wir von uns selbst, von unserem eigenen Lebenwollen ausgehen. Vom Unbehagen ausgehend, das voraussetzt, leben zu wollen, es jedoch nicht zu können. Aus diesem Grund ist die nächtliche Politik zuallererst eine Politik des Lebenwollens. Eine Politik, die jederzeit die persönliche und kollektive Dimension beinhaltet, die dem Begriff „Lebenwollen“ eingeschrieben sind. Als solche basiert sie auf einer Ontologie der Ambivalenz. An dieser Stelle ist eine Klarstellung notwendig. Es geht hier nicht um die Ambivalenz im soziologischen Sinne, nicht um ein einfaches Synonym für Mehrdeutigkeit. In dieser Form ist die Verwendung des Begriffs Ambivalenz vollkommenen inkonsistent. Sie wird jedoch zu einem ergiebigen Begriff, wenn sie als „Verbindung“ zwischen dem Endlosen und dem Nichts verstanden wird, als Spiel von Gegensätzen, von expansiven und nihilisierenden Dynamiken. Man kann behaupten, dass die wohl wichtigste Charakteristik einer nächtlichen Politik in der Annäherung der „Bejahung des Lebenwollens“ an die „Radikalisierung des Nihilismus“ besteht, auch wenn man sich jederzeit darüber bewusst sein muss, dass der Nihilismus ohne den Grund zu berühren, nie zu seiner eigenen Umkehrung führen kann.
Die nächtliche Politik beschränkt sich nicht auf eine Variante des aktiven Nihilismus, denn weder die Kraft der Anonymität noch das Lebenwollen lassen sich in aktiv/passiv unterscheiden.
Die nächtliche Politik findet in einer postpolitischen Epoche statt, was den Charakter der von ihr angestrebten Politisierung bestimmt. Als These formuliert hieße das: 1) Nichts ist politisch, aber alles ist politisierbar. 2) Die Politisierung ist indes apolitisch. Diese Politisierung ohne politischen Raum, die die Dualität rechts/links kurzschließt, ist die Politisierung des sozialen Unbehagens.
Wir haben an anderer Stelle bereits drei unterschiedliche Beziehungen zur Anonymität herausgearbeitet: 1) die Erfahrung der Anonymität zu machen (was der sozialen Figur des anonymen Menschen entspricht); 2) die Erfahrung der Kraft der Anonymität zu machen (was der Öffnung von Räumen der Anonymität entspricht); 3) uns die Erfahrung der Kraft der Anonymität zu eigen zu machen. Die nächtliche Politik kommt im dritten Verhältnis zum Tragen, und zwar indem sie affirmativ erwidert: Wir können uns die Erfahrung der Kraft der Anonymität zu eigen machen. Die nächtliche Politik basiert also auf dem Entschluss, die Kraft der Anonymität anzutreiben und sich nicht einfach in Wartestellung zu begeben. Aber ist diese Entscheidung nicht unstimmig, um nicht zu sagen, unmöglich? Wie bereits erläutert, besteht das Ziel der nächtlichen Politik prinzipiell in der Aufspaltung der Folge gemeinsames Inneres/Kraft der Anonymität/Räume der Anonymität. Das Problem besteht darin, dass diese Folge im Grunde keine ist und dass das bezeichnende Modell nicht funktioniert. Weder äußert sich die Kraft der Anonymität über das gemeinsame Innere, noch sind die Räume der Anonymität Ausdruck der Kraft der Anonymität, sondern sie haben eine merkwürdige Bedeutung. Deshalb gehen wir auch davon aus, dass es sich nicht um eine echte Folge handelt. Es verhält sich vielmehr so, dass sich die Kraft der Anonymität sowohl zurückblickend (auf das gemeinsame Innere) als auch vorausschauend (auf die Räume der Anonymität) entfaltet. Wie kann demnach die Verbindung zwischen Entscheidung und Kraft der Anonymität entschlüsselt werden? Diese Verbindung muss von zwei Seiten her gedacht werden, da die Kraft der Anonymität sich sowohl auf das gemeinsame Innere als auch auf die Räume der Anonymität bezieht. Im ersten Fall bringt uns dies zu der Formulierung, „sich mit dem gemeinsamen Inneren zu verbinden, damit die Kraft der Anonymität Gestalt annehmen kann“; im zweiten kommen wir zu der Formulierung: „Räume der Anonymität durch die Wiederholung radikaler Gesten zu öffnen“. Diesen beiden – einander entgegengesetzten – Fällen geht die Entscheidung voraus, die Kraft der Anonymität vorantreiben zu wollen. Es handelt sich jedoch nicht um einen Rückfall in das alte leninistische Modell, wenn wir die Kraft der Anonymität und den Entschluss, sie zu nutzen, miteinander in Beziehung setzen. Das von Lenin verteidigte politische Führungsprinzip – die führende Rolle der Partei – zeichnete sich durch seine Äußerlichkeit und seine Beständigkeit aus. Diese Form von politischer Führung wird von der Kraft der Anonymität vollkommen zurückgewiesen, da diese ihre Kraft gewinnt, indem sie jede Form von Hierarchie oder äußerer Macht dekonstruiert. Die Kraft der Anonymität zu nutzen, indem wir sie uns in dem Maße zu eigen machen, wie wir anonym werden, bedeutet sie miteinander zu teilen. Tief im Inneren der Anonymität der Kraft der Anonymität. „Sich mit dem gemeinsamen Inneren verbinden, damit die Kraft der Anonymität Gestalt annehmen kann“, ist die erste Aufgabe der nächtlichen Politik. Sich mit dem gemeinsamen Inneren zu verbinden, ist kein Prozess einer inneren Suche zur Stärkung des eigenen Ichs. Ganz im Gegenteil geht es dabei um die Schaffung der notwendigen Voraussetzungen, damit die Kraft der Anonymität aus sich heraustreten kann. Zur Schaffung dieser Voraussetzungen gibt es schon die klassische Formulierung, „die Herstellung einer Situation“. Es waren die Situationisten, die diesen Ansatz am weitesten gebracht haben. Unabhängig von der ursprünglichen Polemik des Begriffs – zwischen einem an technischen Fragen der Architektur und einem stärker am Klassenkampf ausgerichteten Verständnis – hat er heute zunehmend klarere Umrisse gewonnen, wenn auch keinen endgültigen Status erlangt. In dem Maße, in dem sich die Situationistische Internationale den politischen Positionen der kommunistischen Linken annäherte, wurde die „Herstellung von Situationen“ nach und nach durch Begriffe wie Selbstverwaltung, Rätekommunismus usw. verdrängt. Die „hergestellte Situation“ soll das Vakuum zwischen der kritisierten Gegenwart und der zukünftigen revolutionären Veränderung füllen. Sie ist indes keine bloße Brücke, sondern stellt die Einheit zwischen Theorie und Praxis im Inneren einer Theorie der Selbstbefreiung wieder her und richtet sich damit gegen einen Stellvertretungsansatz. Erinnern wir uns an Marx’ bekannte 3. These über Feuerbach1. Es war keineswegs leicht, die „hergestellte Situation“ als kritischen Begriff zu bestimmen. Zuerst wurde sie als räumlich-zeitliche Lebenseinheit definiert. Danach wurde mit ihr eine Verhaltenseinheit bezeichnet, die über den aktuellen Stand der Dinge hinausgeht, die ein Weg der radikalen Kritik ist und die schließlich ein höheres Spiel darstellt, das auf ein anderes, zukünftiges Leben verweist. Wir gehen an dieser Stelle nicht weiter darauf ein.Wir möchten hier lediglich hervorheben, dass diese Bestimmungen des Begriffs es nicht vermochten, ihn von seiner Mehrdeutigkeit zu befreien. Sicher ist die hergestellte Situation jedoch zu jeder Zeit „die Nordwestpassage der Geographie des wahren Lebens“, der Schlüssel, der das Tor zu einem anderen Leben öffnet. Da aber dieser Begriff nicht konkretisiert werden konnte, wurde er letztendlich aufgegeben.
Dennoch kann der Terminus der „hergestellten Situation“ eine sehr wichtige Rolle innerhalb einer nächtlichen Politik spielen, wenn er völlig umformuliert wird. Die hergestellte Situation ist der Dualität von Leben und Tod verpflichtet und der gesamte situationistische Ansatz basiert auf einer Kritik des Alltagslebens, die von der Warte eines anderen (authentischeren, wahrhafteren ...) Lebens aus geäußert wird. Heute – da das Leben selbst zu unserem Gefängnis geworden ist – wissen wir, dass eine Kritik des Alltagslebens nicht ausreicht, sondern dass wir sie als eine Kritik am Leben selbst formulieren müssen. Von dieser neuen, auf die globale Mobilisierung zentrierten Perspektive aus können wir den alten situationistischen Begriff wieder aufnehmen und ihn von jeder Mehrdeutigkeit befreien. Die hergestellte Situation definierte eine Grenzlinie, hinter der es weder die uns bekannte Kunst noch das uns bekannte Leben gab. In ihr – und jenseits von ihr – ließen wir die verallgemeinerte Passivität des Spektakels hinter uns, um uns in wahre Subjekte zu verwandeln. In der auf diese Art hergestellten Situation gab es keinen Nihilismus, sondern Negation. Erinnern wir uns an die Losung „Stellen Sie sich selbst eine Situation ohne Zukunft her“. Die hergestellte Situation hatte keine Zukunft, einfach deshalb, weil sie ein Durchgangsort war, und nicht weil sie vom Nihilismus angesteckt worden wäre. Mit dem Niedergang des revolutionären Projekts kann die hergestellte Situation von ihrer radikalsten Zukunftslosigkeit her gedacht werden. Im Inneren der globalen Mobilisierung – die das Leben erzeugt und mit ihm verschmilzt – eine Situation herzustellen, heißt, ein Niemandsland durchzusetzen. Als Niemandsland verweist die hergestellte Situation zwar nicht mehr auf ein anderes Leben, aber sie kann durchaus zu einem Ort werden, an dem neue Formen des Widerstands erprobt werden können.
Das Niemandsland verkörpert ein unbesetztes Gebiet, das an der Kampffront, die das Leben ist, die vordersten Reihen von den feindlichen Heeren trennt: Die Antriebskraft2 auf der einen Seite, die Kraft der Anonymität auf der anderen Seite. Aber diese Trennung ist eine Täuschung, denn wir sind sowohl die eine als auch die andere Kraft. Deshalb muss klar sein, dass die Front durch uns selbst und eben nicht als Linie außerhalb von uns verläuft. Von diesem Standpunkt aus ist die Durchsetzung eines Niemandslandes immer das Ergebnis einer Entleerung. Wenn wir die Reise durch den Nihilismus starten, entleeren wir uns von dem, was wir sind; lösen wir uns von uns selbst. Diese Durchquerung des Nihilismus kann mit dem Öffnen zahlreicher Türen beginnen: Sich zu widersetzen ohne etwas zu erhoffen, denn es gibt nichts zu tun ... Vor kurzem erklärte ein junger Grieche mit Hosentaschen voller Steine: „Wir haben nichts zu verlieren. Was spielt es also für eine Rolle, was wir wollen?“ Mit diesen Sätzen und vielen anderen, die noch zu erfinden sind, beginnt eine Durchquerung des Nihilismus und ein Niemandsland kündigt sich bereits an.
Das Niemandsland, das wir der Realität aufzwingen, tragen wir in uns.
Ein Niemandsland durchsetzen, in dem wir mit unserem Lebenwollen experimentieren.
Ein Niemandsland durchsetzen, in dem das soziale Unbehagen zum Vorschein kommen kann. Das ist es, was wir wollen.
Das Niemandsland ist eine hergestellte Situation, die unzweideutig ist, da sie auf’s Engste mit dem Nihilismus verbunden ist. Diese Beziehung muss indes genauer verortet werden: Das Niemandsland befindet sich dort, wo das Lebenwollen und der Nihilismus in ihrem stärksten Ausdruck zueinander finden. Daher kann das Niemandsland zu einem wahren Ort des Experimentierens werden. Aber es ist noch mehr. Gerade aufgrund dieser besonderen Beziehung zum Nihilismus ist das Niemandsland auch ein fruchtbarer Ort für die Entstehung der Kraft der Anonymität. In der Kraft der Anonymität liegt ein essenzieller Nihilismus, der sich aus der Natur dieser Kraft ergibt – nämlich aus der Radikalisierung einer Ohnmacht – und der es ermöglicht, dass das gemeinsame Innere im Niemandsland wie zu Hause ist. In einem in Barcelona eröffneten Niemandsland wurde der Satz erfunden: „Du wirst im ganzen Scheißleben kein Zuhause haben“3. Dieser politisch unkorrekte Satz, den jeder politische Aktivist zurückgewiesen hätte, sprach jedoch das gemeinsame Innere an. Zwei Mal gingen rund zwanzigtausend Menschen auf die Straße, um ihre Zustimmung dazu kundzugeben. Der Satz drückte aus, was wir alle fühlten und dachten.
Ein Niemandsland durchsetzen, heißt: Das Leben gegen das Leben befreien.
Ein Niemandsland ist noch kein Loch in der Realität. Das Sich-Widersetzen muss notwendigerweise auch ein Erschaffen sein.
Ein Niemandsland ist kein Raum der Anonymität. Räume der Anonymität zu schaffen, heißt, eine radikale Geste zu schaffen, die sich wiederholt und in ihrer Wiederholung territorialisiert. Diese Territorialisierung ist jedoch nicht mehr als ein provisorischer Moment, denn der Raum der Anonymität neigt in seiner Entstehung – da er über ansteckende Wirkung entsteht – immer zu einer Deterritorialisierung, also dazu, aus sich herauszugehen und sich auszudehnen.
Das Niemandsland ist eine hergestellte Situation. Der Raum der Anonymität ist anderen Ursprungs. Trotzdem besteht eine Beziehung zwischen beiden. In dem Maße, in dem das Niemandsland sich mit dem gemeinsamen Inneren verbindet, ermöglicht es die Entfaltung der Kraft der Anonymität. Man kann also behaupten, dass das Niemandsland eine Brücke zum Raum der Anonymität ist. Und vielleicht – darüber wissen wir bisher noch nichts – ist das Niemandsland sogar das Substrat, das die verschiedenen Räume der Anonymität miteinander verbindet.
Wenn die globale Widerstandsbewegung erfolgreich war – und deshalb wurde sie ja solange angegriffen, bis es zu einem Mord4 kam – dann nicht etwa aufgrund ihrer Parole „Eine andere Welt ist möglich“, sondern weil ihre Geste in ihrer Konkretisierung und Ausdehnung („Dieser Gipfel wird nicht stattfinden“) die Macht schlicht und einfach lächerlich machte.
Ein irakischer Journalist wirft auf einer Pressekonferenz seine Schuhe auf den US-amerikanischen Präsidenten Bush. Diese schlichte Geste wird als eine außerordentlich herausfordernde Handlung interpretiert. Tausende von Menschen gehen auf die Straße und tun es dem mutigen Journalisten nach: Ihre Zielscheibe sind jetzt aber die Besatzungskräfte.
Die radikale Geste darf nicht als eine bloße Provokation verstanden werden, denn dann wäre sie schnell verpufft und nicht in der Lage, einen Raum der Anonymität zu erzeugen. Sie ist sicherlich immer eine Sabotage der Realität, aber sie findet nicht immer in der Form einer Übertretung statt, die im Grunde die Grenze stärkt, die sie überwinden will. Ebensowenig ist sie eine Form der reinen Negation.
Die radikale Geste ist Teil dessen, was sich als Grammatik radikaler Gesten beschreiben lässt. Diese Grammatik beinhaltet die Methoden und die notwendigen Anleitungen, um eine Unterbrechung auszulösen. Es ist eine dringliche Aufgabe, eine solche Grammatik zu entwerfen, auch wenn es damit noch nicht getan ist. Unsere ganzen Anstrengungen müssen darauf gerichtet sein, die radikale Geste von dem Ereignis unabhängig zu machen, das der Grund für ihr Auftreten ist. Der Schlüssel dafür liegt im Insistieren auf ihrer Wiederholung.
Die radikale Geste, die sich wiederholt, klärt weder auf noch erweckt sie: Sie ist ein Nahkampf. Ihre Kraft beruht darauf, dass sie nichts erklären will, weshalb sie sich auch nicht in den Netzen der Macht verfängt. Sie genügt sich selbst. Nichtsdestotrotz bleibt die große Frage: Was ist zu tun, um einen Raum der Anonymität dauerhaft zu machen? Wir glauben, dass die Autonomie – das heißt gleichzeitig als Widerstand und als Kreativität verstandene Formen der Selbstorganisation – den Räumen der Anonymität Konsistenz verleihen kann.
Wir haben versucht, die Entscheidung mit der Kraft der Anonymität zu verbinden. Diese Verbindung konkretisiert sich in dem Maße, in dem sich die Autonomie als eine autonome Praxis ohne Subjekt definiert. Genau dies zeichnet sich heute ab: vom Zapatismus bis zu V de Vivienda, von der Bewegung der Hausbesetzungen bis zu den Kämpfen gegen die Prekarität. Es scheint, dass sich das soziale Unbehagen selbst organisiert, sobald es formuliert wird. Und trotzdem addieren sich die Kämpfe nicht. Es sieht fast so aus, als wären sie unvereinbar, genau wie die erschaffenen Räume der Anonymität nicht miteinander vereinbar sind. Die heutige autonome Praxis hat in dem Sinn kein Subjekt, wie sie zu niemandem gehört als zu der uns alle durchdringenden anonymen Kraft. Wir können somit behaupten, dass die Autonomie ebenfalls eine (radikale) Geste ist, die sich wiederholt und all denen „zur Verfügung steht“, die kämpfen wollen. Dieses „Zur-Verfügung-Stehen“ ermöglicht uns, die Frage der Dauer zu stellen. Autonomie bleibt also weiterhin das, was sie schon immer war: die radikale Erfindung von neuen Formen des Lebens und des Widerstands. Allerdings erfolgt diese Erfindung in unserer Epoche nicht mehr innerhalb des Vektors Zeit, sondern im Vektor Raum. Das Soziale (und sein Unbehagen) kommen zum Vorschein, wenn die globale Mobilisierung blockiert wird, wenn die Zeit ausgeklammert wird. Wenn „das Soziale“ räumlich wird wie ein Raum der Anonymität. Die Räume der Anonymität sind die schwarzen Löcher der Multirealität. Tatsächlich wissen wir nicht, wozu ein Raum der Anonymität in der Lage ist. Es ist jedoch sicher, dass jeder Raum der Anonymität die Autonomie neu erfinden muss. Diese Neuerfindung, die wir heute nur erahnen, haben wir „subjektlose autonome Praxis“5 genannt.
Niemandsländer, Räume der Anonymität, gemeinsames Inneres ... sind die Waffen einer nächtlichen Politik, deren einziges und fortwährendes Ziel es ist, die Realität anzugreifen. Die Realität anzugreifen, um atmen zu können.
1 “Die materialistische Lehre von der Veränderung der Umstände und der Erziehung vergißt, dass die Umstände von den Menschen verändert und der Erzieher selbst erzogen werden muß...” Marx-Engels Werke, Band 3, Seite 5ff. Dietz Verlag Berlin, 1969. 2 Die globale Mobilisierung fügt der kapitalistischen Ausbeutung einen semiotischen Reduzierungsprozess hinzu. Das Lebenwollen ist heute nicht nur beschlagnahmt, sondern auch als Beziehungszentrum fixiert und in eine (Handels-) Marke verwandelt. „Ich bin” heißt: „Ich bin meine eigene Marke”. Die Antriebskraft setzt sich somit aus diesen Marken und dem Wunsch, Marke zu sein zusammen, sowie aus der Bewegung dieser Beziehungszentren, die jede/r von uns werden muss, wenn wir nicht aus der Mobilisierung herausfallen wollen, in die sich unser Leben verwandelt hat. 3 “No tendrás casa en la puta vida”, Flyer, Aufkleber und Demoplakate von V de Vivienda. V de Vivienda (in Anlehnung an den Film „V für Vendetta“) war eine Bewegung für den Kampf um Wohnraum, die im Mai 2006 infolge eines anonym über SMS verschickten Mobilisierungsaufrufes entstand. Diese jenseits von Aktivistenkreisen entstandene Bewegung zeichnete sich u.a. durch eine sehr direkte Sprache und kreative Interventionsformen aus. V de Vivienda kann als Vorläufer der sehr viel breiteren Bewegung der Platzbesetzungen im Jahr 2011 angesehen werden. Eines der Verdienste dieses Textes besteht darin, dass er zahlreiche Charakteristiken der Bewegung von 2011 antizipiert hat. (Anm. Ü.) 4 Carlo Giuliani wurde bei Protesten gegen den G8-Gipfel in Genua am 20. Juli 2001 erschossen. (Anm. Ü.) 5 Luchas autónomas en los setenta. Del antagonismo obrero al malestar social. (Autonome Kämpfe in den Siebzigern. Vom Arbeiterantagonismus zum sozialen Unbehagen), Madrid 2008
Begriffsglossar
Das gemeinsame Innere beschreibt die persönliche Anerkennung eines gemeinschaftlichen Unbehagens und einer Bereitschaft für deren Subjektivierung in Form eines sozialen Prozesses. Dieses Unbehagen ist nicht einfach ein psychologischer Zustand. Es besteht darin, leben zu wollen, es jedoch nicht zu können. In diesem Sinn ist seine geteilte Erscheinungsform eine politische Subjektivierung.
Der (freie) Hass besteht darin, die natürliche Haltung der Akzeptanz zur Welt in Klammern zu setzen. Diese Inklammersetzung unserer Beziehung der Weltakzeptanz, die totale Ablehnung der Welt fällt mit dem Hass auf das Leben zusammen. Noch genauer: mit dem Hass auf das eigene Leben. Der Hass auf das eigene Leben ist die Verwirklichung der totalen Ablehnung der Welt. Der gegen das eigene Leben gerichtete Hass führt eine Demarkationslinie zwischen dem Lebenwollen und dem Nichtlebenwollen ein. Nur wer sein Leben hasst, kann es wirklich ändern. In diesem Sinne agiert der (freie) Hass als eine Kraft der Entleerung und wird so zu einem politisierenden Akt.
Das Lebenwollen als Herausforderung. Dieser Ansatz schlägt eine kritische Neubetrachtung des Konzepts von Leben vor und fokussiert auf die Vorstellung des „Lebenwollens“ statt des „Lebens“. Der Idee von Foucault folgend, dass die Macht nicht als solche existiert, sondern lediglich die Strukturen der Macht, lautet López Petits These, dass das Leben als solches nicht existiert, sondern lediglich das „Lebenwollen“. Wer diese Vorstellung annimmt, trifft seiner Ansicht nach bereits eine politische Entscheidung. Mit López Petit heißt politisch zu denken heute, von einer Politik des Lebenswollens ausgehend zu denken. In seinen Worten: „Heutzutage ist das Leben unser wahres Gefängnis, das Instrument, das die Macht nutzt, um uns zu beherrschen und zu unterwerfen.“
Diese globale Mobilisierung des Lebens – die uns in dem gleichen Maße unterwirft wie sie uns preisgibt – hat ein neue Art von Individuum erschaffen: Das prekäre Wesen, ein fragiles Subjekt, das sich aus reinem Überlebensinstinkt – aus dem reinem Verlangen zu leben – an alle möglichen Formen existenzieller Bedingungen anpasst. Mit López Petit ist die Prekarität kein Umstand; nichts, was uns in einem bestimmten Zeitraum des Lebens passiert und danach verschwindet; vielmehr ist es ein Unterscheidungsmerkmal unserer Existenz als zeitgenössische Wesen; ein Element, das unsere Identität formt.
Im Angesicht unserer Kondition als prekärer Subjekte sind der Hass (auf das Leben, nicht auf den „Anderen“ oder auf einen selbst) und das „Lebenwollen“ (als Herausforderung) die einzige Möglichkeit, sich der Maschinerie der globalen Mobilisierung des Lebens zu entziehen. Das Lebenwollen kann sich jedoch auf politische Weise nur in dem Maße zeigen, wie es sich mit einem wir verbindet, und nicht an eine individuelle Lösung gebunden ist (auf ein Neues wird die Realität total und zu einer einzigen: Die individuelle Lösung ist nichts weiter als ein Produkt falscher neoliberaler Versprechungen; der Beste aller Weltherren sein zu wollen, bedeutet dem Kurs einer Realität zu folgen, die total, brutal und tödlich geworden ist.)
Die Kraft der Anonymität ist vor allem eine destituierende Kraft, die einsetzt, wenn das Vermögen des Lebenwollens die Verbindung zu jenem wir gefunden hat. Die Kraft der Anonymität berücksichtigt die Innovation, die die argentinische Bewegung voraussetze, als sie sich in den Aufständen 2001 um die Parole “Que se vayan todos” („Verschwindet alle“) organisiert hat.
In den Räumen der Anonymität macht sich das Lebenwollen zur kollektiven Herausforderung. Es ist sehr einfach, den Raum der Anonymität zu definieren: Es ist der Ort, an dem die Menschen die Angst verlieren. Mit den Räumen der Anonymität erlangt die nächtliche Politik eine kollektive Dimension.
Dieses Begriffsglossar soll nicht vergessen lassen, dass die Sprache von Santiago López Petit nicht darauf abzielt, sich in der diskursiven Ordnung zu erneuern oder neu zu erfinden. Vielmehr will sie sich in der gelebten Welt selbst bilden. Worte, die der Kraft der Veränderung entrissen sind; antidiskursive Worte, in denen der Zorn sprießt, die Beunruhigung, der Instinkt der Transformation, der unablässige Kampf. „Denn was uns zu tun bleibt, ist ein neues Feld der Schlacht zu eröffnen, eine nächtliche Politik.“
Wütend kämpft Santiago López Petit mit den Grenzen des Möglichen, dort wo sich das Denken fast immer erschöpft. Wenn das Denken schon nichts mehr zu sagen vermag, dann weil die Realität die Fähigkeit zu denken übersteigt oder besser gesagt, weil die Realität den Akt eines lebendigen Denkens, eines Denkens des Lebens besiegt hat. Sprechen wir von dieser Realität, die wir alle sehr gut kennen: der Realität der Ausgeschlossenen und Hyperprekären oder im besten Fall der Kleinunternehmer. Sprechen wir von der Armut in unseren Taschen und vor allem von der Misere, mit der man unsere Seelen nähren will. Einer Realität, die nicht mehr vor unserer Tür zu finden ist, weil sie sich tief verwurzelt hat in unserem Körper. Sprechen wir über das Massengrab, in dem sie uns begraben wollen. Und davon, dass zu leben nichts weiter heißt, als diese Realität zu reproduzieren, die sich an unsere Haut, an die Haut der menschlichen Spezies, geheftet hat. Alles hinzunehmen: Den Tod der Träume, den Tod der Ideale, den Tod dessen, was es hieße, die Wahrheiten, die uns erdrücken, in Ketten zu legen. In wahrheitslosem Glauben und glühendem Nihilismus alles hinzunehmen, was uns diese Zeit in den Weg stellt und auferlegt, bedeutet, dem zu folgen, was als einzig möglicher Ausweg erscheint, als die “versprochene Rettung”, während es sich in Wahrheit um nichts weiter als um den roten Faden des ultrarealistischen kapitalistischen Films handelt. Dieser virusartige und globale Lauf eines einzigen Bildes, das weder Spiegel noch tote Winkel kennt, nimmt uns an die Hand. Geht ein und aus in den Dunkelkammern, in denen uns die Macht lähmt und preisgibt. Vertieft die Bedingungen der Unterwerfung der menschlichen Existenz. Einmal führt dieser rote Faden den symbolischen Tod des freien Denkens an, ein anderes Mal zeigt er sich als Spule des Stacheldrahts. Einmal bedeutet die Dunkelkammer die Leere der toten Seele und ein anderes Mal ist es das Massengrab des Mittelmeers.
Wir können davon ausgehen, dass die Aufgabe der revolutionären Philosophie (von Marx bis zu den Situationisten) sich erschöpft und gleichsam dazu geführt hat, in die Falle der Hermeneutik zu tappen, in die Falle der Theorie ohne Praxis, wie in eine Grube ohne Boden aus Angst. López Petit sah und fühlte die Niederlage an Stelle des Kampfes. Erkannte den Fall. Ein mitnichten freier Fall, der seinen unaufhaltsamen Abstieg fortsetzt und alle versenkt. In seinem ewigen Sirenengesang flüsternd, dass das mögliche Gleichgewicht entweder der Rückzug oder der Zynismus, die Auslieferung an die geistige Magersucht und die physische Bulimie, die mit Annehmlichkeiten versorgte Einsamkeit oder den Schwindel des einzelnen happy ends sei. In diesem düsteren Tunnel erkannte der Autor von Entre el Ser y el Poder. Una apuesta por el querer vivir zuerst den Fall, sah dann, wo das Schreien und Weinen der Organe herrührt und brachte den Antriebsmoment seines Denkaktes hervor: Die gemeinsame Existenz in der heutigen Welt zu denken und damit das Herz der Angst zu durchdringen. Ihn zu lesen, bedeutet einen Angriff anzuerkennen. Einen Angriff auf das Leben, das wir hassen. Wer das Herz der Angst durchdringt, ist bereit für die nächtliche Politik.
Dies sind zwingende Gründe für uns, mit der Verbreitung und Veröffentlichung dieses einzigartigen Denkers auf Deutsch fortzufahren. Während die Tiefe der Reflexion des katalanischen Philosophen sich auf klassische Bezugspunkte wie die Dekonstruktion von Hegel oder Marx, von Gramsci oder Negri, auf eine Ausweitung von Spinoza und Deleuze stützt, so ist sein Stil ebenso eigen, da er sich an dem Saft der Literatur von Kleist und Artaud betrinkt. Wir eröffnen den LeserInnen das letzte Kapitel des Buches La movilización global. Breve tratado para atacar la realidad (Die globale Mobilisierung. Kurzes Traktat für einen Angriff auf die Realität), welches in Spanien, Portugal und Argentinien erschienen ist.*
Aus dem Portugiesischen von CE
* Aufgrund der singulären Kategorien, die der Autor im Laufe seines Werkes geschaffen hat, um sein Denken zu verankern, könnte es nützlich sein, sich diesen Konzepten beschreibend zu nähern und dadurch eine gründlichere Lektüre des hier veröffentlichten Kapitels zu ermöglichen. Ein Begriffsglossar findet sich am Ende des Textes.
Für eine nächtliche Politik
Eine nächtliche Politik ist diejenige Politik, die mit den politischen Kategorien der Moderne gebrochen hat, insbesondere mit der Vorstellung des politischen Raums oder des Raums des Erscheinens, der auf die griechische Polis zurückgeht. Stattdessen nimmt die nächtliche Politik die Folge: gemeinsames Inneres/Kraft der Anonymität/Räume der Anonymität in Anspruch. Sie verfolgt das Ziel, das soziale Unbehagen zu politisieren und die Kraft der Anonymität zum Ausdruck zu bringen. Aber dieser Ausdruck darf nicht mit seiner Repräsentation verwechselt werden. Die Kraft der Anonymität verschmäht und untergräbt ihrem Wesen nach jede Form von Repräsentation. Auf diese Weise beginnt eine neue Politik, die darauf abzielt, ein Niemandsland zu errichten, eine Politik, die versucht, eine Grammatik radikaler Gesten zu entwerfen. Eine nächtliche Politik, die keinen Horizont hat und deshalb unaufhaltsam ist.
Die Schlussfolgerung wurde damit bereits vorweggenommen. In einer Zeit, in der die großen historischen Subjekte zerschlagen sind, kann die globale Mobilisierung einzig unterbrochen und sabotiert werden, indem wir von uns selbst, von unserem eigenen Lebenwollen ausgehen. Vom Unbehagen ausgehend, das voraussetzt, leben zu wollen, es jedoch nicht zu können. Aus diesem Grund ist die nächtliche Politik zuallererst eine Politik des Lebenwollens. Eine Politik, die jederzeit die persönliche und kollektive Dimension beinhaltet, die dem Begriff „Lebenwollen“ eingeschrieben sind. Als solche basiert sie auf einer Ontologie der Ambivalenz. An dieser Stelle ist eine Klarstellung notwendig. Es geht hier nicht um die Ambivalenz im soziologischen Sinne, nicht um ein einfaches Synonym für Mehrdeutigkeit. In dieser Form ist die Verwendung des Begriffs Ambivalenz vollkommenen inkonsistent. Sie wird jedoch zu einem ergiebigen Begriff, wenn sie als „Verbindung“ zwischen dem Endlosen und dem Nichts verstanden wird, als Spiel von Gegensätzen, von expansiven und nihilisierenden Dynamiken. Man kann behaupten, dass die wohl wichtigste Charakteristik einer nächtlichen Politik in der Annäherung der „Bejahung des Lebenwollens“ an die „Radikalisierung des Nihilismus“ besteht, auch wenn man sich jederzeit darüber bewusst sein muss, dass der Nihilismus ohne den Grund zu berühren, nie zu seiner eigenen Umkehrung führen kann.
Die nächtliche Politik beschränkt sich nicht auf eine Variante des aktiven Nihilismus, denn weder die Kraft der Anonymität noch das Lebenwollen lassen sich in aktiv/passiv unterscheiden.
Die nächtliche Politik findet in einer postpolitischen Epoche statt, was den Charakter der von ihr angestrebten Politisierung bestimmt. Als These formuliert hieße das: 1) Nichts ist politisch, aber alles ist politisierbar. 2) Die Politisierung ist indes apolitisch. Diese Politisierung ohne politischen Raum, die die Dualität rechts/links kurzschließt, ist die Politisierung des sozialen Unbehagens.
Wir haben an anderer Stelle bereits drei unterschiedliche Beziehungen zur Anonymität herausgearbeitet: 1) die Erfahrung der Anonymität zu machen (was der sozialen Figur des anonymen Menschen entspricht); 2) die Erfahrung der Kraft der Anonymität zu machen (was der Öffnung von Räumen der Anonymität entspricht); 3) uns die Erfahrung der Kraft der Anonymität zu eigen zu machen. Die nächtliche Politik kommt im dritten Verhältnis zum Tragen, und zwar indem sie affirmativ erwidert: Wir können uns die Erfahrung der Kraft der Anonymität zu eigen machen. Die nächtliche Politik basiert also auf dem Entschluss, die Kraft der Anonymität anzutreiben und sich nicht einfach in Wartestellung zu begeben. Aber ist diese Entscheidung nicht unstimmig, um nicht zu sagen, unmöglich? Wie bereits erläutert, besteht das Ziel der nächtlichen Politik prinzipiell in der Aufspaltung der Folge gemeinsames Inneres/Kraft der Anonymität/Räume der Anonymität. Das Problem besteht darin, dass diese Folge im Grunde keine ist und dass das bezeichnende Modell nicht funktioniert. Weder äußert sich die Kraft der Anonymität über das gemeinsame Innere, noch sind die Räume der Anonymität Ausdruck der Kraft der Anonymität, sondern sie haben eine merkwürdige Bedeutung. Deshalb gehen wir auch davon aus, dass es sich nicht um eine echte Folge handelt. Es verhält sich vielmehr so, dass sich die Kraft der Anonymität sowohl zurückblickend (auf das gemeinsame Innere) als auch vorausschauend (auf die Räume der Anonymität) entfaltet. Wie kann demnach die Verbindung zwischen Entscheidung und Kraft der Anonymität entschlüsselt werden? Diese Verbindung muss von zwei Seiten her gedacht werden, da die Kraft der Anonymität sich sowohl auf das gemeinsame Innere als auch auf die Räume der Anonymität bezieht. Im ersten Fall bringt uns dies zu der Formulierung, „sich mit dem gemeinsamen Inneren zu verbinden, damit die Kraft der Anonymität Gestalt annehmen kann“; im zweiten kommen wir zu der Formulierung: „Räume der Anonymität durch die Wiederholung radikaler Gesten zu öffnen“. Diesen beiden – einander entgegengesetzten – Fällen geht die Entscheidung voraus, die Kraft der Anonymität vorantreiben zu wollen. Es handelt sich jedoch nicht um einen Rückfall in das alte leninistische Modell, wenn wir die Kraft der Anonymität und den Entschluss, sie zu nutzen, miteinander in Beziehung setzen. Das von Lenin verteidigte politische Führungsprinzip – die führende Rolle der Partei – zeichnete sich durch seine Äußerlichkeit und seine Beständigkeit aus. Diese Form von politischer Führung wird von der Kraft der Anonymität vollkommen zurückgewiesen, da diese ihre Kraft gewinnt, indem sie jede Form von Hierarchie oder äußerer Macht dekonstruiert. Die Kraft der Anonymität zu nutzen, indem wir sie uns in dem Maße zu eigen machen, wie wir anonym werden, bedeutet sie miteinander zu teilen. Tief im Inneren der Anonymität der Kraft der Anonymität. „Sich mit dem gemeinsamen Inneren verbinden, damit die Kraft der Anonymität Gestalt annehmen kann“, ist die erste Aufgabe der nächtlichen Politik. Sich mit dem gemeinsamen Inneren zu verbinden, ist kein Prozess einer inneren Suche zur Stärkung des eigenen Ichs. Ganz im Gegenteil geht es dabei um die Schaffung der notwendigen Voraussetzungen, damit die Kraft der Anonymität aus sich heraustreten kann. Zur Schaffung dieser Voraussetzungen gibt es schon die klassische Formulierung, „die Herstellung einer Situation“. Es waren die Situationisten, die diesen Ansatz am weitesten gebracht haben. Unabhängig von der ursprünglichen Polemik des Begriffs – zwischen einem an technischen Fragen der Architektur und einem stärker am Klassenkampf ausgerichteten Verständnis – hat er heute zunehmend klarere Umrisse gewonnen, wenn auch keinen endgültigen Status erlangt. In dem Maße, in dem sich die Situationistische Internationale den politischen Positionen der kommunistischen Linken annäherte, wurde die „Herstellung von Situationen“ nach und nach durch Begriffe wie Selbstverwaltung, Rätekommunismus usw. verdrängt. Die „hergestellte Situation“ soll das Vakuum zwischen der kritisierten Gegenwart und der zukünftigen revolutionären Veränderung füllen. Sie ist indes keine bloße Brücke, sondern stellt die Einheit zwischen Theorie und Praxis im Inneren einer Theorie der Selbstbefreiung wieder her und richtet sich damit gegen einen Stellvertretungsansatz. Erinnern wir uns an Marx’ bekannte 3. These über Feuerbach1. Es war keineswegs leicht, die „hergestellte Situation“ als kritischen Begriff zu bestimmen. Zuerst wurde sie als räumlich-zeitliche Lebenseinheit definiert. Danach wurde mit ihr eine Verhaltenseinheit bezeichnet, die über den aktuellen Stand der Dinge hinausgeht, die ein Weg der radikalen Kritik ist und die schließlich ein höheres Spiel darstellt, das auf ein anderes, zukünftiges Leben verweist. Wir gehen an dieser Stelle nicht weiter darauf ein.Wir möchten hier lediglich hervorheben, dass diese Bestimmungen des Begriffs es nicht vermochten, ihn von seiner Mehrdeutigkeit zu befreien. Sicher ist die hergestellte Situation jedoch zu jeder Zeit „die Nordwestpassage der Geographie des wahren Lebens“, der Schlüssel, der das Tor zu einem anderen Leben öffnet. Da aber dieser Begriff nicht konkretisiert werden konnte, wurde er letztendlich aufgegeben.
Dennoch kann der Terminus der „hergestellten Situation“ eine sehr wichtige Rolle innerhalb einer nächtlichen Politik spielen, wenn er völlig umformuliert wird. Die hergestellte Situation ist der Dualität von Leben und Tod verpflichtet und der gesamte situationistische Ansatz basiert auf einer Kritik des Alltagslebens, die von der Warte eines anderen (authentischeren, wahrhafteren ...) Lebens aus geäußert wird. Heute – da das Leben selbst zu unserem Gefängnis geworden ist – wissen wir, dass eine Kritik des Alltagslebens nicht ausreicht, sondern dass wir sie als eine Kritik am Leben selbst formulieren müssen. Von dieser neuen, auf die globale Mobilisierung zentrierten Perspektive aus können wir den alten situationistischen Begriff wieder aufnehmen und ihn von jeder Mehrdeutigkeit befreien. Die hergestellte Situation definierte eine Grenzlinie, hinter der es weder die uns bekannte Kunst noch das uns bekannte Leben gab. In ihr – und jenseits von ihr – ließen wir die verallgemeinerte Passivität des Spektakels hinter uns, um uns in wahre Subjekte zu verwandeln. In der auf diese Art hergestellten Situation gab es keinen Nihilismus, sondern Negation. Erinnern wir uns an die Losung „Stellen Sie sich selbst eine Situation ohne Zukunft her“. Die hergestellte Situation hatte keine Zukunft, einfach deshalb, weil sie ein Durchgangsort war, und nicht weil sie vom Nihilismus angesteckt worden wäre. Mit dem Niedergang des revolutionären Projekts kann die hergestellte Situation von ihrer radikalsten Zukunftslosigkeit her gedacht werden. Im Inneren der globalen Mobilisierung – die das Leben erzeugt und mit ihm verschmilzt – eine Situation herzustellen, heißt, ein Niemandsland durchzusetzen. Als Niemandsland verweist die hergestellte Situation zwar nicht mehr auf ein anderes Leben, aber sie kann durchaus zu einem Ort werden, an dem neue Formen des Widerstands erprobt werden können.
Das Niemandsland verkörpert ein unbesetztes Gebiet, das an der Kampffront, die das Leben ist, die vordersten Reihen von den feindlichen Heeren trennt: Die Antriebskraft2 auf der einen Seite, die Kraft der Anonymität auf der anderen Seite. Aber diese Trennung ist eine Täuschung, denn wir sind sowohl die eine als auch die andere Kraft. Deshalb muss klar sein, dass die Front durch uns selbst und eben nicht als Linie außerhalb von uns verläuft. Von diesem Standpunkt aus ist die Durchsetzung eines Niemandslandes immer das Ergebnis einer Entleerung. Wenn wir die Reise durch den Nihilismus starten, entleeren wir uns von dem, was wir sind; lösen wir uns von uns selbst. Diese Durchquerung des Nihilismus kann mit dem Öffnen zahlreicher Türen beginnen: Sich zu widersetzen ohne etwas zu erhoffen, denn es gibt nichts zu tun ... Vor kurzem erklärte ein junger Grieche mit Hosentaschen voller Steine: „Wir haben nichts zu verlieren. Was spielt es also für eine Rolle, was wir wollen?“ Mit diesen Sätzen und vielen anderen, die noch zu erfinden sind, beginnt eine Durchquerung des Nihilismus und ein Niemandsland kündigt sich bereits an.
Das Niemandsland, das wir der Realität aufzwingen, tragen wir in uns.
Ein Niemandsland durchsetzen, in dem wir mit unserem Lebenwollen experimentieren.
Ein Niemandsland durchsetzen, in dem das soziale Unbehagen zum Vorschein kommen kann. Das ist es, was wir wollen.
Das Niemandsland ist eine hergestellte Situation, die unzweideutig ist, da sie auf’s Engste mit dem Nihilismus verbunden ist. Diese Beziehung muss indes genauer verortet werden: Das Niemandsland befindet sich dort, wo das Lebenwollen und der Nihilismus in ihrem stärksten Ausdruck zueinander finden. Daher kann das Niemandsland zu einem wahren Ort des Experimentierens werden. Aber es ist noch mehr. Gerade aufgrund dieser besonderen Beziehung zum Nihilismus ist das Niemandsland auch ein fruchtbarer Ort für die Entstehung der Kraft der Anonymität. In der Kraft der Anonymität liegt ein essenzieller Nihilismus, der sich aus der Natur dieser Kraft ergibt – nämlich aus der Radikalisierung einer Ohnmacht – und der es ermöglicht, dass das gemeinsame Innere im Niemandsland wie zu Hause ist. In einem in Barcelona eröffneten Niemandsland wurde der Satz erfunden: „Du wirst im ganzen Scheißleben kein Zuhause haben“3. Dieser politisch unkorrekte Satz, den jeder politische Aktivist zurückgewiesen hätte, sprach jedoch das gemeinsame Innere an. Zwei Mal gingen rund zwanzigtausend Menschen auf die Straße, um ihre Zustimmung dazu kundzugeben. Der Satz drückte aus, was wir alle fühlten und dachten.
Ein Niemandsland durchsetzen, heißt: Das Leben gegen das Leben befreien.
Ein Niemandsland ist noch kein Loch in der Realität. Das Sich-Widersetzen muss notwendigerweise auch ein Erschaffen sein.
Ein Niemandsland ist kein Raum der Anonymität. Räume der Anonymität zu schaffen, heißt, eine radikale Geste zu schaffen, die sich wiederholt und in ihrer Wiederholung territorialisiert. Diese Territorialisierung ist jedoch nicht mehr als ein provisorischer Moment, denn der Raum der Anonymität neigt in seiner Entstehung – da er über ansteckende Wirkung entsteht – immer zu einer Deterritorialisierung, also dazu, aus sich herauszugehen und sich auszudehnen.
Das Niemandsland ist eine hergestellte Situation. Der Raum der Anonymität ist anderen Ursprungs. Trotzdem besteht eine Beziehung zwischen beiden. In dem Maße, in dem das Niemandsland sich mit dem gemeinsamen Inneren verbindet, ermöglicht es die Entfaltung der Kraft der Anonymität. Man kann also behaupten, dass das Niemandsland eine Brücke zum Raum der Anonymität ist. Und vielleicht – darüber wissen wir bisher noch nichts – ist das Niemandsland sogar das Substrat, das die verschiedenen Räume der Anonymität miteinander verbindet.
Wenn die globale Widerstandsbewegung erfolgreich war – und deshalb wurde sie ja solange angegriffen, bis es zu einem Mord4 kam – dann nicht etwa aufgrund ihrer Parole „Eine andere Welt ist möglich“, sondern weil ihre Geste in ihrer Konkretisierung und Ausdehnung („Dieser Gipfel wird nicht stattfinden“) die Macht schlicht und einfach lächerlich machte.
Ein irakischer Journalist wirft auf einer Pressekonferenz seine Schuhe auf den US-amerikanischen Präsidenten Bush. Diese schlichte Geste wird als eine außerordentlich herausfordernde Handlung interpretiert. Tausende von Menschen gehen auf die Straße und tun es dem mutigen Journalisten nach: Ihre Zielscheibe sind jetzt aber die Besatzungskräfte.
Die radikale Geste darf nicht als eine bloße Provokation verstanden werden, denn dann wäre sie schnell verpufft und nicht in der Lage, einen Raum der Anonymität zu erzeugen. Sie ist sicherlich immer eine Sabotage der Realität, aber sie findet nicht immer in der Form einer Übertretung statt, die im Grunde die Grenze stärkt, die sie überwinden will. Ebensowenig ist sie eine Form der reinen Negation.
Die radikale Geste ist Teil dessen, was sich als Grammatik radikaler Gesten beschreiben lässt. Diese Grammatik beinhaltet die Methoden und die notwendigen Anleitungen, um eine Unterbrechung auszulösen. Es ist eine dringliche Aufgabe, eine solche Grammatik zu entwerfen, auch wenn es damit noch nicht getan ist. Unsere ganzen Anstrengungen müssen darauf gerichtet sein, die radikale Geste von dem Ereignis unabhängig zu machen, das der Grund für ihr Auftreten ist. Der Schlüssel dafür liegt im Insistieren auf ihrer Wiederholung.
Die radikale Geste, die sich wiederholt, klärt weder auf noch erweckt sie: Sie ist ein Nahkampf. Ihre Kraft beruht darauf, dass sie nichts erklären will, weshalb sie sich auch nicht in den Netzen der Macht verfängt. Sie genügt sich selbst. Nichtsdestotrotz bleibt die große Frage: Was ist zu tun, um einen Raum der Anonymität dauerhaft zu machen? Wir glauben, dass die Autonomie – das heißt gleichzeitig als Widerstand und als Kreativität verstandene Formen der Selbstorganisation – den Räumen der Anonymität Konsistenz verleihen kann.
Wir haben versucht, die Entscheidung mit der Kraft der Anonymität zu verbinden. Diese Verbindung konkretisiert sich in dem Maße, in dem sich die Autonomie als eine autonome Praxis ohne Subjekt definiert. Genau dies zeichnet sich heute ab: vom Zapatismus bis zu V de Vivienda, von der Bewegung der Hausbesetzungen bis zu den Kämpfen gegen die Prekarität. Es scheint, dass sich das soziale Unbehagen selbst organisiert, sobald es formuliert wird. Und trotzdem addieren sich die Kämpfe nicht. Es sieht fast so aus, als wären sie unvereinbar, genau wie die erschaffenen Räume der Anonymität nicht miteinander vereinbar sind. Die heutige autonome Praxis hat in dem Sinn kein Subjekt, wie sie zu niemandem gehört als zu der uns alle durchdringenden anonymen Kraft. Wir können somit behaupten, dass die Autonomie ebenfalls eine (radikale) Geste ist, die sich wiederholt und all denen „zur Verfügung steht“, die kämpfen wollen. Dieses „Zur-Verfügung-Stehen“ ermöglicht uns, die Frage der Dauer zu stellen. Autonomie bleibt also weiterhin das, was sie schon immer war: die radikale Erfindung von neuen Formen des Lebens und des Widerstands. Allerdings erfolgt diese Erfindung in unserer Epoche nicht mehr innerhalb des Vektors Zeit, sondern im Vektor Raum. Das Soziale (und sein Unbehagen) kommen zum Vorschein, wenn die globale Mobilisierung blockiert wird, wenn die Zeit ausgeklammert wird. Wenn „das Soziale“ räumlich wird wie ein Raum der Anonymität. Die Räume der Anonymität sind die schwarzen Löcher der Multirealität. Tatsächlich wissen wir nicht, wozu ein Raum der Anonymität in der Lage ist. Es ist jedoch sicher, dass jeder Raum der Anonymität die Autonomie neu erfinden muss. Diese Neuerfindung, die wir heute nur erahnen, haben wir „subjektlose autonome Praxis“5 genannt.
Niemandsländer, Räume der Anonymität, gemeinsames Inneres ... sind die Waffen einer nächtlichen Politik, deren einziges und fortwährendes Ziel es ist, die Realität anzugreifen. Die Realität anzugreifen, um atmen zu können.
1 “Die materialistische Lehre von der Veränderung der Umstände und der Erziehung vergißt, dass die Umstände von den Menschen verändert und der Erzieher selbst erzogen werden muß...” Marx-Engels Werke, Band 3, Seite 5ff. Dietz Verlag Berlin, 1969. 2 Die globale Mobilisierung fügt der kapitalistischen Ausbeutung einen semiotischen Reduzierungsprozess hinzu. Das Lebenwollen ist heute nicht nur beschlagnahmt, sondern auch als Beziehungszentrum fixiert und in eine (Handels-) Marke verwandelt. „Ich bin” heißt: „Ich bin meine eigene Marke”. Die Antriebskraft setzt sich somit aus diesen Marken und dem Wunsch, Marke zu sein zusammen, sowie aus der Bewegung dieser Beziehungszentren, die jede/r von uns werden muss, wenn wir nicht aus der Mobilisierung herausfallen wollen, in die sich unser Leben verwandelt hat. 3 “No tendrás casa en la puta vida”, Flyer, Aufkleber und Demoplakate von V de Vivienda. V de Vivienda (in Anlehnung an den Film „V für Vendetta“) war eine Bewegung für den Kampf um Wohnraum, die im Mai 2006 infolge eines anonym über SMS verschickten Mobilisierungsaufrufes entstand. Diese jenseits von Aktivistenkreisen entstandene Bewegung zeichnete sich u.a. durch eine sehr direkte Sprache und kreative Interventionsformen aus. V de Vivienda kann als Vorläufer der sehr viel breiteren Bewegung der Platzbesetzungen im Jahr 2011 angesehen werden. Eines der Verdienste dieses Textes besteht darin, dass er zahlreiche Charakteristiken der Bewegung von 2011 antizipiert hat. (Anm. Ü.) 4 Carlo Giuliani wurde bei Protesten gegen den G8-Gipfel in Genua am 20. Juli 2001 erschossen. (Anm. Ü.) 5 Luchas autónomas en los setenta. Del antagonismo obrero al malestar social. (Autonome Kämpfe in den Siebzigern. Vom Arbeiterantagonismus zum sozialen Unbehagen), Madrid 2008
Begriffsglossar
Das gemeinsame Innere beschreibt die persönliche Anerkennung eines gemeinschaftlichen Unbehagens und einer Bereitschaft für deren Subjektivierung in Form eines sozialen Prozesses. Dieses Unbehagen ist nicht einfach ein psychologischer Zustand. Es besteht darin, leben zu wollen, es jedoch nicht zu können. In diesem Sinn ist seine geteilte Erscheinungsform eine politische Subjektivierung.
Der (freie) Hass besteht darin, die natürliche Haltung der Akzeptanz zur Welt in Klammern zu setzen. Diese Inklammersetzung unserer Beziehung der Weltakzeptanz, die totale Ablehnung der Welt fällt mit dem Hass auf das Leben zusammen. Noch genauer: mit dem Hass auf das eigene Leben. Der Hass auf das eigene Leben ist die Verwirklichung der totalen Ablehnung der Welt. Der gegen das eigene Leben gerichtete Hass führt eine Demarkationslinie zwischen dem Lebenwollen und dem Nichtlebenwollen ein. Nur wer sein Leben hasst, kann es wirklich ändern. In diesem Sinne agiert der (freie) Hass als eine Kraft der Entleerung und wird so zu einem politisierenden Akt.
Das Lebenwollen als Herausforderung. Dieser Ansatz schlägt eine kritische Neubetrachtung des Konzepts von Leben vor und fokussiert auf die Vorstellung des „Lebenwollens“ statt des „Lebens“. Der Idee von Foucault folgend, dass die Macht nicht als solche existiert, sondern lediglich die Strukturen der Macht, lautet López Petits These, dass das Leben als solches nicht existiert, sondern lediglich das „Lebenwollen“. Wer diese Vorstellung annimmt, trifft seiner Ansicht nach bereits eine politische Entscheidung. Mit López Petit heißt politisch zu denken heute, von einer Politik des Lebenswollens ausgehend zu denken. In seinen Worten: „Heutzutage ist das Leben unser wahres Gefängnis, das Instrument, das die Macht nutzt, um uns zu beherrschen und zu unterwerfen.“
Diese globale Mobilisierung des Lebens – die uns in dem gleichen Maße unterwirft wie sie uns preisgibt – hat ein neue Art von Individuum erschaffen: Das prekäre Wesen, ein fragiles Subjekt, das sich aus reinem Überlebensinstinkt – aus dem reinem Verlangen zu leben – an alle möglichen Formen existenzieller Bedingungen anpasst. Mit López Petit ist die Prekarität kein Umstand; nichts, was uns in einem bestimmten Zeitraum des Lebens passiert und danach verschwindet; vielmehr ist es ein Unterscheidungsmerkmal unserer Existenz als zeitgenössische Wesen; ein Element, das unsere Identität formt.
Im Angesicht unserer Kondition als prekärer Subjekte sind der Hass (auf das Leben, nicht auf den „Anderen“ oder auf einen selbst) und das „Lebenwollen“ (als Herausforderung) die einzige Möglichkeit, sich der Maschinerie der globalen Mobilisierung des Lebens zu entziehen. Das Lebenwollen kann sich jedoch auf politische Weise nur in dem Maße zeigen, wie es sich mit einem wir verbindet, und nicht an eine individuelle Lösung gebunden ist (auf ein Neues wird die Realität total und zu einer einzigen: Die individuelle Lösung ist nichts weiter als ein Produkt falscher neoliberaler Versprechungen; der Beste aller Weltherren sein zu wollen, bedeutet dem Kurs einer Realität zu folgen, die total, brutal und tödlich geworden ist.)
Die Kraft der Anonymität ist vor allem eine destituierende Kraft, die einsetzt, wenn das Vermögen des Lebenwollens die Verbindung zu jenem wir gefunden hat. Die Kraft der Anonymität berücksichtigt die Innovation, die die argentinische Bewegung voraussetze, als sie sich in den Aufständen 2001 um die Parole “Que se vayan todos” („Verschwindet alle“) organisiert hat.
In den Räumen der Anonymität macht sich das Lebenwollen zur kollektiven Herausforderung. Es ist sehr einfach, den Raum der Anonymität zu definieren: Es ist der Ort, an dem die Menschen die Angst verlieren. Mit den Räumen der Anonymität erlangt die nächtliche Politik eine kollektive Dimension.
Dieses Begriffsglossar soll nicht vergessen lassen, dass die Sprache von Santiago López Petit nicht darauf abzielt, sich in der diskursiven Ordnung zu erneuern oder neu zu erfinden. Vielmehr will sie sich in der gelebten Welt selbst bilden. Worte, die der Kraft der Veränderung entrissen sind; antidiskursive Worte, in denen der Zorn sprießt, die Beunruhigung, der Instinkt der Transformation, der unablässige Kampf. „Denn was uns zu tun bleibt, ist ein neues Feld der Schlacht zu eröffnen, eine nächtliche Politik.“