FREI SEIN FÜR DIE BEFREIUNG?

jappe

Ilustración: Clara de Villiers

Übersetzung: Anja Rommel

ES GIBT ZWEI NACHRICHTEN. Die gute Nachricht ist, dass sich unser alter Feind, der Kapitalismus, anscheinend in einer gravierenden Krise befindet. Die schlechte Nachricht ist, dass für den Moment keine Form der sozialen Emanzipation greifbar scheint und nichts garantiert, dass das mögliche Ende des Kapitalismus in eine bessere Gesellschaft münden wird. Das ist, als ob man feststellen würde, dass das Gefängnis, in dem man seit langem eingesperrt ist, Feuer gefangen hat und dass sich unter den Wärtern Panik verbreitet, die Türen aber verriegelt bleiben …

Ich würde gerne mit einer persönlichen Erinnerung aus Mexiko beginnen. Ich besuchte Ihr Land* 1982, als ich 19 Jahre alt war, mit dem Rucksack auf dem Rücken. Damals lebte ich in Deutschland. Ungeachtet der Tatsache, dass man zu dieser Zeit von der „dritten Welt“ und ihrem Elend sprach, war es etwas anderes, diese tatsächlich zu erleben und mit Kindern konfrontiert zu sein, die barfuß auf der Straße betteln. In Mexiko wohnte ich in einer Art Jugendherberge, die von Schweizern geführt wurde. Als ich eines Abends - übermannt vom Anblick der Armut in der Stadt - dorthin zurückkehrte, begann ich eine herumliegende Ausgabe der deutschen Wochenzeitung Der Spiegel zu lesen. Ich stieß auf eine umfangreiche Reportage, die sich dem Zustand der deutschen Gesellschaft widmete. Diese schien ihren Tiefpunkt erreicht zu haben. Die Beschreibung war äußerst trostlos: nichts außer Depressionen, Medikamentenabhängigkeit, destrukturierter Familien, unmotivierter Jugendlicher und sozialem Zerfall. Ich fühlte mich selbst, als würde ich in einen Abgrund stürzen. Ich besaß bereits einige Erfahrung im Bereich der theoretischen und praktischen Kapitalismuskritik, aufgrund derer ich mir alles mögliche Schlechte dachte. Dennoch hatte ich zuvor noch nie mit solch einer Kraft gespürt, in was für einer Welt wir lebten. Eine Welt, in der die Einen an Hunger leiden und die Anderen, die die sich eigentlich am guten Ende der Kette befinden, genauso unglücklich sind, sich mit Medikamenten vollstopfen oder sich das Leben nehmen. (Zudem bestätigten meine Eindrücke vom Leben in Deutschland diese Reportage gänzlich.) Das war der Moment, in dem ich spürte, dass die Armen unglücklich sind, und die „Reichen“ genauso; dass der Kapitalismus also ein Unglück für alle ist. Ich verstand, dass dieses System letztendlich niemandem zugute kam, dass eine „Entwicklung“, welche die Armen zu dem machen würde, was die Reichen waren, nirgendwo hinführen würde und dass die Warengesellschaft der Feind der menschlichen Gattung war.

Aber zur gleichen Zeit schien dieses System stark zu sein, sehr stark im Jahre 1982, und es konnte einen nur deprimieren, wenn man bedachte, welches Kräfteverhältnis zwischen denen bestand, die dieses System auf die eine oder andere Weise verändern wollten, und jenen, die das besagte System verwalteten, auf welchem Konsens es trotz allem beruhte und welche materiellen Gewinne der Kapitalismus weiterhin verteilte.

Heute würde man sagen, dass sich die Situation radikal verändert hat. Dieser Tage ruft man sich in Europa in den politischen Institutionen und Mainstream-Medien katastrophale Szenarien der argentinischen Art wach. Es ist nicht notwendig, dass ich mich hier eingehender dem Fakt zuwende, dass man überall, spätestens seit 2008 permanent, eine schwerwiegende Krise des Kapitalismus spürt. Vielleicht haben Sie die Übersetzung meines Artikels gelesen, in dem ich versuche, mir vorzustellen, was auf die europäischen Gesellschaften zukäme, wenn das Geld, das gesamte Geld nach einem finanziellen und ökonomischen Zusammenbruch seine Bedeutung verlieren würde1. Die Zeitschrift Le Monde hat den Artikel veröffentlicht und zahlreiche Lesende haben ihn kommentiert, allerdings denke ich, dass man mich vor einigen Jahren noch in die Kategorie derjenigen gesteckt hätte, die Ufos gesehen haben …

Die Krise des Kapitalismus wird jedoch – und das ist eine wichtige erste Feststellung, die es zu machen gilt – nicht durch die Handlungen seiner Kontrahenten bedingt. Alle modernen revolutionären Bewegungen und fast jede Sozialkritik haben sich immer vorgestellt, dass der Kapitalismus verschwinden wird; besiegt durch organisierte Kräfte, die entschlossen wären, ihn abzuschaffen und durch etwas Besseres zu ersetzen. Die Schwierigkeit bestand darin, die immense Macht des Kapitalismus anzugreifen, die sich nicht nur in seinen Waffen ausdrückte, sondern in den Köpfen selbst verankert war. Aber wenn das gelungen wäre, wäre die Lösung des Wechsels schon greifbar. Und tatsächlich war es die Existenz eines alternativen Gesellschaftsprojekts selbst, die in letzter Instanz die Revolutionen auslöste.

Was wir heute sehen, ist der Zusammenbruch eines Systems, seine Selbstzerstörung, seine Erschöpfung, seine Versenkung. Es hat schließlich seine Grenzen, die Grenzen der Wertschöpfung, die es seit Beginn in seinem Kern trug, erreicht. Der Kapitalismus ist seinem Wesen nach eine Produktion von Wert, der sich im Geld verkörpert. Nur was Geld bringt, interessiert in der kapitalistischen Produktion. Das ist aber nicht in erster Linie der Gier der kapitalistischen Bösewichte geschuldet. Denn es begründet sich durch die Tatsache, dass allein die Arbeit den Waren Wert verleiht. Und das bedeutet, dass auch die Technologien den Waren keinen Wert hinzufügen. Umso mehr Maschinen und andere Technologien man nutzt, desto weniger Wert enthält jede Ware. Die Konkurrenz drängt die Eigentümer des Kapitals jedoch unaufhörlich dazu, Technologien zu benutzen, die die Arbeit ersetzen. Damit untergräbt das kapitalistische System sozusagen sein eigenes Fundament und das macht es seit seinem Beginn. Allein mit der fortwährenden Steigerung der Warenproduktion kann man der Tatsache entgegensteuern, dass jede Ware immer weniger „Wert“ und damit weniger Mehrwert besitzt, der sich in Geld übersetzen lässt2. Die ökologischen und sozialen Konsequenzen dieses verrückten Weges zu mehr Produktivität sind bekannt. Aber es ist genauso wichtig zu unterstreichen, dass der Verfall der Wertmenge nicht auf ewig kompensiert werden kann und dass er letztlich eine Krise der Kapitalakkumulation selbst herbeiführt. In den letzten Jahrzehnten wurde die weitgehend ausfallende Akkumulation unter Zuhilfenahme von Simulationen zum Großteil durch Finanzen und Kredite ersetzt. Dieses Leben „am Tropf“ des Kapitals ist jetzt ebenfalls an seine Grenzen gestoßen und die Krise des Verwertungsmechanismus scheint nunmehr irreversibel.

Diese Krise ist nicht, wie manche es glauben wollen, eine List der Kapitalisten selbst; eine Art noch unvorteilhaftere Maßnahmen auf Kosten der Arbeiter und der Empfänger von Sozialleistungen durchzusetzen, die öffentlichen Strukturen zu zerschlagen und die Profite der Banken und der Superreichen zu erhöhen. Es ist zwar unbestritten, dass es bestimmen Wirtschaftsakteuren gelingt, auch noch aus der Krise Riesengewinne zu ziehen, aber das bedeutet lediglich, dass ein kleinerer Kuchen für eine immer geringere Anzahl von Konkurrenten in immer größere Stücke geschnitten wird. Es ist unverkennbar, dass sich diese Krise jeglicher Kontrolle entzieht und das Überleben des kapitalistischen Systems als solches bedroht.

Natürlich bedeutet das nicht automatisch, dass wir dem letzten Akt des vor 250 Jahren begonnenen Dramas beiwohnen. Dass der Kapitalismus – in wirtschaftlicher, ökologischer und energiepolitischer Hinsicht – seine Grenzen erreicht hat, bedeutet nicht, dass er von einem Tag auf den anderen zusammenbrechen wird, selbst wenn dies nicht ganz auszuschließen ist. Man kann eher eine lange Periode des Niedergangs der kapitalistischen Gesellschaft vorhersehen – mit kleinen Inseln, die sich hier und dort häufig mit Mauern umgeben, hinter denen die kapitalistische Reproduktion noch läuft; und mit ausgedehnten Gebieten verbrannter Erde, auf der die post-marktwirtschaftlichen Subjekte, wie sie nur können, versuchen müssen, zu überleben. Der Drogenhandel und das Herumwühlen im Abfall sind zwei der emblematischsten Gesichter dieser Welt, die die Menschen selbst auf „Abfall“ reduziert und in der ihr größtes Problem nicht länger darin besteht, ausgebeutet zu werden, sondern darin, aus der Perspektive der Marktwirtschaft einfach „überflüssig“ zu sein. Die Möglichkeit, durch Landwirtschaft und Handwerk zu vorkapitalistischen Wirtschaftsformen des Lebensunterhaltes zurückzukehren, ist jedoch nicht mehr gegeben. Da, wo der Kapitalismus und sein Produktions- und Konsumzyklus zukünftig nicht mehr funktionieren, wird man nicht einfach auf alte Gesellschaftsformen zurückgreifen können; das Risiko besteht vielmehr darin, dass Gesellschaftsformen entstehen, die die schlechtesten Elemente sozialer Verhältnisse kombinieren. Sicher ist, dass diejenigen, die in den Zonen der Gesellschaft leben, die noch „funktionieren“, ihre Privilegien mit Waffen und immer ausgefeilteren Überwachungstechniken energisch verteidigen werden. Selbst als sterbende Bestie kann der Kapitalismus noch schreckliche Schäden anrichten: Nicht nur, indem er Kriege und Gewalt aller Art auslöst, sondern auch indem er beispielsweise durch genetisch manipuliertes Saatgut, Nanopartikel, etc. irreversible ökologische Zerstörungen verursacht. Wenn man es philosophisch betrachtet, ist der schlechte Gesundheitszustand des Kapitalismus jedoch vor allem eine notwendige und keineswegs eine hinreichende Bedingung für die Entstehung einer befreiten Gesellschaft. Die alleinige Tatsache, dass das Gefängnis brennt, führt zu nichts, wenn die Tür verschlossen bleibt oder sie sich nur über einem Abgrund öffnet.

Dies stellt einen großen Unterschied zur Vergangenheit dar: Mehr als ein Jahrhundert lang bestand die Aufgabe der Revolutionäre darin, Mittel zu finden, um das Monster zu besiegen. Wenn dies erst gelungen wäre, wäre es unvermeidbar, dass der Sozialismus, die freie Gesellschaft, oder welchen Namen man ihr auch gegeben hat, die Nachfolge antreten würde. Heutzutage zeigt sich die Aufgabe derer, die einst Revolutionäre waren, in umgekehrter Form: Angesichts der Desaster, die das Ergebnis unaufhörlicher Revolutionen durch das Kapital sind, gilt es einige essenzielle Errungenschaften der Menschheit zu „bewahren“ und zu versuchen, diese zu einer nächsthöheren Form zu entwickeln. In diesem Moment ist es nicht mehr notwendig, die Zerbrechlichkeit des Kapitalismus aufzuzeigen, der das historische Potenzial seiner Evolution erschöpft hat – und das ist eine gute Nachricht. Es ist nicht länger notwendig – und das ist eine weitere gute Nachricht – Alternativen zum Kapitalismus zu entwerfen, die ihn in ihrer Form eher fortsetzen. Ich würde sagen, dass heute viel mehr Klarheit über die Zielsetzungen des seit 40 Jahren währenden Kampfes herrscht. Glücklicherweise haben zwei Konzeptionsvarianten des Post-Kapitalismus, die während des gesamten 20. Jahrhunderts bestimmend waren, – zwei Varianten, die darüber hinaus im Allgemeinen miteinander verwoben waren – jüngst viel an Glaubwürdigkeit eingebüßt, auch wenn ihr Verschwinden noch in der Ferne liegt.

Auf der einen Seite steht das Projekt, den Markt auf der Grundlage von Staat, Zentralisierung, Modernisierung durch Aufholen zu überwinden und den Kampf dafür an von Funktionären gesteuerte Massenorganisationen zu übergeben. Dass jeder einer Arbeit nachgehen kann, war das primäre Ziel dieser Formen des „real-existierenden Sozialismus“; man muss daran erinnern, dass die Fabrik von Henry Ford für Lenin wie für Gramsci ein kommunistisches Produktionsmodell war. Es ist wahr, dass die staatliche Vorgehensweise weiterhin Anhänger findet - sei es der Enthusiasmus für den Caudillo (“Oberhaupt“) Chávez oder das Befürworten des wachsenden staatlichen Interventionismus in Europa. Insgesamt hat der Leninismus jedoch in all seinen Varianten vor 30 Jahren weitgehend an Einfluss verloren, und das ist sehr gut.

Auf der anderen Seite wird das Überwinden des Kapitalismus in einer Weise verstanden, die blind auf den Nutzen der Entwicklung von Produktivkräften und Technologien vertraut und eher an die Zeiten der Intensivierung und Modernisierung des Kapitalismus selbst erinnert. In beiden Fällen war die kommunistische Gesellschaft etc. grundsätzlich auf eine gerechtere Verteilung der Früchte ausgerichtet, die der Entwicklung einer weitgehend unveränderten kapitalistischen und industriellen Gesellschaft entspringen. Die Hoffnung, dass Technologie und Maschinen all unsere Probleme lösen werden, hat durch die Geburt eines ökologischen Bewusstseins und die zunehmende Sichtbarkeit der paradoxen Auswirkungen der technologischen Entwicklung auf die Menschen seit 40 Jahren schwere Schläge erlitten (Ich möchte trotz all meiner Vorbehalte gegenüber einigen Aspekten seines Werkes, diesbezüglich daran erinnern, dass Ivan Illichs großer Verdienst darin bestand, diese paradoxen Aspekte hervorzuheben und damit am Glauben an den „Fortschritt“ gekratzt zu haben).

Der Glaube, dass ein technologischer Fortschritt einen moralischen und sozialen Fortschritt mit sich bringt, zeigt sich kaum deutlicher als in der Begeisterung für „sozialistische“ Kernkraftwerke, die Eisen- und Stahlindustrie oder in der bedingungslosen Begrüßung des Produktivismus. Dennoch konnte er aufgrund von Hoffnungen, die oft auf groteske Weise in die Informatik und die „immaterielle“ Produktion gesetzt werden, einen neuen Aufschwung erleben; zum Beispiel im Verlauf der aktuellen Debatte über die „Aneignung“, mit der man neuerdings das Konzept der „commons“ und des „Gemeinwohls“ assoziiert. Es ist wahr, dass die gesamte Geschichte und die Vorgeschichte des Kapitalismus die Geschichte der Privatisierung von Ressourcen ist, die zuvor Gemeingüter waren; wofür die „enclosures“ in England einen exemplarischen Fall darstellen. Nach einer weit verbreiteten Auffassung, die zumindest in Informatikkreisen vorherrscht, ist der Kampf für die Unentgeltlichkeit und den unbegrenzten Zugang zu digitalen Gütern eine Schlacht, welche die gleiche historische Bedeutung besitzt – und sie wird seit Jahrhunderten die erste Schlacht sein, die von den Befürwortern der Unentgeltlichkeit und gemeinschaftlicher Nutzung von Ressourcen gewonnen wird. Allerdings sind digitale Güter niemals essenzielle Güter. Unentgeltlich über die letzte Musik oder den letzten Videoclip zu verfügen, kann nett sein – aber Nahrung, Heizung oder Unterkunft lassen sich nicht herunterladen, sie sind im Gegenteil einer immer stärkeren Verknappung und Kommerzialisierung unterworfen. Das Filesharing kann eine interessante Praxis sein und ist doch im Vergleich zur Verknappung von Trinkwasser auf der Welt oder zur Globalen Erwärmung nichts weiter als ein Epiphänomen.

Die Technophilie tritt heute dank erneuerter Formen weniger „altmodisch“ als das Projekt der „Machtübernahme“ auf und bildet möglicherweise eine bedeutende Hürde für einen tiefgreifenden Bruch mit der Logik des Kapitalismus. Die sich verbreitenden Vorschläge wie Décroissance (Wachstumsrücknahme), Ökosozialismus, radikale Ökologie sowie die Rückkehr alternativer landwirtschaftlicher Bewegungen auf der ganzen Welt, etc. verweisen in all ihrer Heterogenität und mit all ihren Grenzen hingegen darauf, dass ein Teil der aktuellen Protestbewegungen nicht auf den technischen Fortschritt setzt, wenn es um die Aufgabe geht, uns in Richtung einer emanzipierten Gesellschaft zu befördern. Und das ist noch eine gute Nachricht …

Ich würde sagen, dass derzeit im Prinzip eine größere Klarheit über die Konturen einer echten Alternative zum Kapitalismus existiert. Ein „Programm“ wie jenes, das Jérôme Baschet während der Zusammenkunft 20093 skizzierte, scheint mir vollkommen angemessen, und es ist besonders wichtig, sich nicht auf die Kritik einer einzigen ultraliberalen Form des Kapitalismus zu beschränken, sondern den gesamten Kapitalismus ins Auge zu fassen, sprich, die auf abstrakter Arbeit und Wert, Geld und Ware basierende Warengesellschaft.

Wenn wir uns also etwas sicherer als zuvor darüber sind, dass sich der Kapitalismus in einer Krise befindet und wenn es ein wenig mehr Klarheit über die Alternativen gibt, stellt sich die folgende Frage: Wie gelangen wir dorthin? Ich will mich hier nicht strategischen oder pseudo-strategischen Überlegungen hingeben und dennoch steht die Frage im Raum, welcher Schlag von Frauen und Männern die nötige soziale Transformation vollbringen kann. Und hier liegt der Hase im Pfeffer begraben: Um es gleich zu sagen, oft hat man tatsächlich den Eindruck, dass die wahrhafte „anthropologische Regression“, die durch das Kapital insbesondere während der letzten Jahrzehnte verursacht wurde, gleichermaßen die getroffen hat, die sich ihm widersetzen hätten können oder wollen. Dies ist eine bedeutende Veränderung, der nicht immer die nötige Aufmerksamkeit zu Teil wird. Die Marktwirtschaft ist in sehr begrenzten Sektoren einiger Länder hervorgebracht worden und hat anschließend im Laufe von zweieinhalb Jahrhunderten die halbe Welt, nicht nur im geografischen Sinne, sondern auch das Innere einer jeden Gesellschaft – man hat dies auch „die innere Kolonisierung“ genannt – erobert. Nach und nach nahm jede Tätigkeit, jeder Gedanke, jede Empfindung im Inneren kapitalistischer Gesellschaften die Gestalt einer Ware an oder wurde durch Waren befriedigt. Man hat die Wirkungen der Konsumgesellschaft und ihre besonders schädlichen Konsequenzen bei der brutalen Einführung in „zurückgebliebene“ Verhältnisse (und hier könnte ich erneut Illich zitieren) vielfach beschrieben. Das ist allseits bekannt und ich werde es hier nicht wiederholen. Aber man vergegenwärtigt sich zu wenig, dass die kapitalistische Gesellschaft auf Grund dieser Evolution nicht mehr nur einfach aufgeteilt scheint in Beherrschende und Beherrschte, Ausbeutende und Ausgebeutete, Verwaltende und Verwaltete, Täter und Opfer. Der Kapitalismus ist immer offensichtlicher eine Gesellschaft, die von anonymen und blinden, automatischen und unkontrollierbaren Mechanismen der Wertproduktion regiert wird. Jeder erscheint zur gleichen Zeit als Akteur und Opfer dieses Mechanismus, selbst wenn die gespielten Rollen und die erhaltenen Belohnungen offensichtlich nicht die gleichen sind.

In den klassischen Revolutionen - die mit der spanischen Revolution von 1936 einen Höhepunkt erreichten - wurde der Kapitalismus von der Bevölkerung bekämpft, die ihn wie einen äußeren Zwang, eine Auferlegung, eine Invasion erlebte. Sie setze ihm gänzlich andere Werte, Lebensarten, Konzepte des menschlichen Zusammenlebens (die man gleichwohl nicht idealisieren muss) entgegen; sie schuf – wohl oder übel – eine qualitative Alternative zur kapitalistischen Gesellschaft. Und ob sie es zugeben oder nicht, diese Bewegungen zogen einen großen Teil ihrer Kraft aus ihrer Verankerung in vorkapitalistischen Lebensweisen: Von den altruistischen Anlagen, der Großzügigkeit, dem Leben im Kollektiv, der Geringschätzung materieller Reichtümer zum Selbstzweck, bis hin zu einer anderen Konzeption von Zeit … Marx selbst musste am Ende seines Lebens zugeben, dass die Reste der alten kollektiven Eigentümer der Erde, wie sie zu seiner Zeit noch bei vielen Völkern vorhanden waren, eine Grundlage für eine zukünftige kommunistische Gesellschaft darstellen würden. Soweit man weiß, existieren diese Reste sogar heute noch, oft bei den indigenen Völkern Lateinamerikas. Ich lasse Sie entscheiden, ob diese eine Grundlage für eine zukünftige emanzipierte Gesellschaft darstellen, deren Wurzeln in die Vergangenheit zurückreichen (aber ich stelle mir vor, dass ihre Antwort ja ist …).

Wenn dies ein Licht am Ende des Tunnels sein kann, muss man im Gegenzug anerkennen, dass dies auch anzeigt, dass die Individuen in den sogenannten „entwickelten“ Ländern wie in den Megapolis, im Rest der Welt, bis hin zu entlegenen Landstrichen, also beinahe überall die omnipräsente Ware immer weniger als eine fremde Unterwerfung ihrer Traditionen, sondern im Gegenteil als ein Objekt der Begierde ansehen. Ihre Ansprüche kreisen vorwiegend um die Teilnahmebedingungen an dieser Herrschaft, wie das schon bei der klassischen Arbeiterbewegung der Fall war.

Ob es sich um einen durch die Gewerkschaften verhandelten Lohnkonflikt oder um die Ausschreitung in der Vorstadt handelt, die Frage dreht sich fast immer um den Zugang zum Warenreichtum. Dieser Zugang ist zweifellos meistens notwendig, um in der Warengesellschaft zu überleben, aber es ist ebenso erwiesen, dass diese Kämpfe nicht den Anspruch haben, das aktuelle System zu überwinden und eine andere Lebensweise hervorzubringen.

In vielerlei Hinsicht scheint das Individuum der „entwickelten“ Gesellschaften einer emanzipatorischen Lösung ferner als jemals zuvor zu sein. Es fehlt ihm an subjektiven Voraussetzungen für die Befreiung und somit auch an einem Verlangen danach, weil es die kapitalistische Art zu Leben (Konkurrenz, Schnelligkeit, Erfolg, etc.) verinnerlicht hat. Seine Proteste betreffen im Allgemeinen die Angst, aus dieser Lebensweise ausgeschlossen zu werden oder dort nicht anzukommen; eine reine und einfache Ablehnung dieser ist sehr viel seltener. Die Warengesellschaft lässt die lebendigen Quellen der Vorstellungskraft bereits bei Kindern versiegen, die schon im frühen Alter von wahren Verdummungsmaschinen bombardiert werden. Das ist mindestens genauso schlimm wie die Rentenkürzungen – bringt aber nicht Millionen von Menschen dazu, in den Straßen zu protestieren oder die Produktion von Videospielen oder die Kanäle von „Baby TV“ zu stürmen.

Die Bewegungen, die derzeit zum Vorschein kommen, entbehren nicht einer gewissen Widersprüchlichkeit. Häufig protestieren die Leute einfach nur, weil das System seine Versprechen nicht gehalten hat; auf diese Weise demonstrieren sie für die Verteidigung des status quo, oder vielmehr für den status quo ante. Nehmen wir die Bewegung Occupy Wall Street und ihre Verlautbarungen. Hier schreibt man die aktuelle Krise dem Finanzwesen zu und behauptet, dass die Wirtschaft und schließlich die gesamte Gesellschaft von der Hochfinanzwelt beherrscht wird. Laut der Kritik an der Finanzwelt, die aktuell sehr verbreitet ist, investieren die Banken, die Versicherungen und die Hedgefonds nicht mehr in die reale Produktion, sondern verschleudern nahezu das gesamte verfügbare Geld mit der Spekulation, die nur die Spekulanten bereichert, während sie Arbeitsplätze zerstört und die Misere kreiert. Das Finanzkapital, so versichert man, kann sein Gesetz sogar Regierungen von mächtigen Ländern diktieren, wenn es nicht vorrangig darauf aus ist, sie zu korrumpieren. Außerdem kauft es gleichermaßen die Medien und so findet sich die Demokratie ihrer gesamten Substanz entleert.

Aber ist man sich sicher, dass die Hauptursache für die aktuellen Turbulenzen in der Allmacht des Finanzmarktes und in der diese Allmacht unterstützenden neoliberalen Politik liegt? Und wenn sie im Gegenteil nichts weiter als das Symptom für eine viel tiefgreifendere Krise, eine Krise der gesamten kapitalistischen Gesellschaft sind? Die Spekulation ist mitnichten der Faktor, der eine sonst solide Wirtschaft durcheinanderbringt, aber sie hat es erlaubt, dass die Fiktion vom kapitalistischen Wohlstand während der letzten Jahrzehnte fortwährte. Ohne die Stützen der Finanzialisierung wäre die Marktgesellschaft bereits gescheitert mit ihren Arbeitsplätzen und auch mit ihrer Demokratie. Was sich als Finanzkrise abbildet, ist die Erschöpfung der Grundpfeiler des Kapitalismus: Ware und Geld, Arbeit und Wert.

Angesichts des Totalitarismus der Ware kann man sich nicht damit begnügen, die Spekulanten und andere große Diebe mit dem Ausruf: „Gebt uns unser Geld zurück“, zu adressieren. Man muss vielmehr den äußerst destruktiven Charakter des Geldes, der Ware und der Arbeit, die sie hervorbringt, begreifen. Die Forderung, dass sich der Kapitalismus erst „stabilisieren“ muss, damit er wieder in Gang kommt und gerechter werden kann, ist illusorisch: Die aktuellen Naturkatastrophen sind nicht die Konsequenz einer Verschwörung der habgierigsten Fraktion der herrschenden Klasse, sondern sie sind die unvermeidbare Auswirkung von Problemen, die von je her zur Natur des Kapitalismus selbst gehören. Das Leben auf Kredit war keine korrigierbare Perversion, sondern ein letztes Aufflammen für den Kapitalismus – und für all jene, die ihn leben.

Wer sich dessen bewusst ist, tappt nicht in die Falle des Populismus, der die „Erwerbstätigen und anständigen Sparer“ als einfache Opfer des Systems betrachtet und vom Einfluss eines Übels befreien will, das in der Figur des Spekulanten Gestalt annimmt. Den Kapitalismus retten zu wollen, indem man all seine Mängel auf die Machenschaften einer internationalen Minderheit von „Parasiten“ zurückführt, das hat man in Europa bereits gesehen.

Die einzige Alternative ist eine wirkliche Kritik der kapitalistischen Gesellschaft in all ihren Aspekten – und nicht allein des Neoliberalismus. Der Kapitalismus ist nicht identisch mit dem Markt: Der Staat bildet sein anderes Gesicht. Strukturell gänzlich dem Kapital untergeordnet, hat dieses ihm die erforderlichen ökonomischen Mittel der Intervention zu beschaffen. Der Staat kann niemals ein öffentlicher Ort der souveränen Entscheidung sein. Aber selbst als das Binom Staat-Markt entspricht der Kapitalismus nicht oder nicht mehr einem schlichten Zwang, der sich den stetig widerspenstigen Subjekten von Außen auferlegt. Die Lebensweise, die er geschaffen hat, wird seit langer Zeit fast überall als höchst erstrebenswert und sein mögliches Ende als eine Katastrophe reflektiert. Die Beschwörung der „Demokratie“, selbst der „direkten“ oder „radikalen“ Demokratie hat keinen Zweck, wenn die Subjekte, denen man ihre Stimme zurückgeben will, weitgehend Ausdruck des Systems sind, welches sie umfasst.

Et voilà, dass der Slogan „Wir sind die 99%“, welcher anscheinend von einem ehemaligen Werbetexter, Kalle Lasn, der zur Anti-Werbung (adbusters) übergelaufen ist, erdacht wurde, von den Medien als „genial“ betrachtet wird, erscheint mir verrückt. Es würde ausreichen, sich vom Einfluss des reichsten und mächtigsten Hundertstels der Bevölkerung zu befreien, damit die Anderen glücklich leben können? Wie viele der „99%“ verbringen jeden Tag Stunden vor dem Fernseher, beuten ihre Angestellten aus, bestehlen ihre Kunden, parken ihr Auto auf dem Bürgersteig, essen bei McDonald’s, schlagen ihre Frauen, überlassen ihre Kinder Videospielen, gehen dem Sextourismus nach, geben ihr Geld für Markenkleidung aus, konsultieren alle zwei Minuten ihre Handys, kurzum, bilden einen vollwertigen Bestandteil der kapitalistischen Gesellschaft? Herbert Marcuse hat das Paradoxon, den wahren Teufelskreis jeder Unternehmung der Befreiung, der sich seither ohne Unterlass verschärft hat, bereits trefflich definiert: Die Sklaven müssen für ihre Befreiung bereits frei sein.

Diese Kritiken werden von Einigen als überzogen, kleinlich, ja sogar als sektiererisch bezeichnet. Das Wichtigste sei es, so sagt man, dass sich die Leute endlich bewegen, protestieren, die Augen öffnen. Anschließend werden sie die Gründe für ihre Revolte durchdringen und ihr Bewusstseinsgrad kann sich erhöhen. Das ist möglich und unser Heil hängt genau davon ab. Aber um dort anzukommen, muss man alles kritisieren, was es an diesen Bewegungen zu kritisieren gibt, statt ihnen hinterherzulaufen. Es stimmt nicht, dass jede Opposition, jeder Protest bereits eine gute Nachricht ist. Mit den Katastrophen, welche eine nach der anderen auf uns zukommen, und den wirtschaftlichen-, ökologischen- und Energiekrisen, die sich verschärfen werden, ist es vollkommen gewiss, dass die Leute gegen das, was auf sie zukommt, revoltieren werden.

Aber die Frage ist, wie sie reagieren werden: Sie können Drogen verkaufen und ihre Frauen zur Prostitution schicken; sie können Mohrrüben vom Biobauern stehlen oder sich einer Miliz anschließen; sie können ein sinnloses Massaker an Bankiers und Politikern organisieren oder auf die Jagd nach Immigranten verfallen. Sie können inmitten des Debakels nur ihr eigenes Überleben organisieren; sie können Anhänger faschistischer und populistischer Bewegungen werden, die Schuldige für den öffentlichen Pranger entwerfen. Oder aber sie können sich dem kollektiven Aufbau einer besseren Lebensweise in den vom Kapitalismus hinterlassenen Ruinen verpflichten. Nicht alle werden sich auf die letzte Option stürzen, sie bleibt sogar die schwierigste. Sollte sie zu wenig Menschen anziehen, wird sie zermalmt. Was man heute im Wesentlichen tun kann, ist: sich einzusetzen, damit die Proteste, an deren Entstehung es in jeder Hinsicht nicht mangeln wird, einen guten Weg einschlagen. Sicher ist, dass die Präsenz der noch bestehenden Elemente der vorkapitalistischen Gesellschaften sehr viel dazu beitragen können, den guten Weg auszuwählen.

1 Das französische Original «L’argent est-il devenu obsolète ?» ist in gekürzter Fassung am 01. 11. 2011 in Le Monde und in vollständiger Fassung am 16. 12. 2011 in Offensive Libertaire et Sociale, Nr.32 erschienen.

2 Siehe, von A. Jappe, Die Abenteuer der Ware. Für eine neue Wertkritik, Münster, Unrast Verlag, 2005, und Credit à mort: la décomposition du capitalisme et ses critiques, Lignes, 2011.

3 Unter dem Titel «Anticapitalisme, post-capitalisme» in Réfractions, Nr.25 veröffentlicht und auf den folgenden Seite in dieser Ausgabe der Utopie zu finden.



*Der vorliegende Text entstammt einem Kommuniqué, das im Rahmen des „Zweiten Internationalen Seminars der Reflexion und Analyse: Planet Erde, anti-systemische Bewegungen“ (30. Dez 2011 – 02. Jan 2012) in San Christobal de las Casas (Mexiko) präsentiert wurde. Parallel dazu fanden die Feierlichkeiten zum 18. Jahrestag des Aufstandes der Zapatisten statt, was die Anspielungen und die Ansprache an das Publikum begründen.