Utopie — ein Brückenschlag

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Ilustração: Elsa Klever

Übersetzung: Claudia Wente

Die Zukunft. Vor unseren Augen erstrecken sich Gleise parallel in die Ferne, es sieht ganz danach aus, als kämen wir voran, doch so ist es nicht, zumindest nicht in der Richtung, die wir uns vorgestellt hatten. Kaum blicken wir ein klein wenig voraus, sehen wir, wie der Zug der Tage mit Höchstgeschwindigkeit auf uns zurast, umraucht von Lärm und Zorn. Er hat aufgehört, uns einen Horizont vorzugaukeln und sich direkt auf uns zu in Bewegung gesetzt. An diesem Punkt haben wir uns fast schon mit der Katastrophe abgefunden.

Und trotzdem gelingt es uns nicht, uns zu bewegen. Es gibt etwas, das uns zurückhält, eine Bewegungsunfähigkeit, die uns darauf beschränkt, den Countdown herunterzuzählen, ohne jede Hoffnung. Wir ändern unseren Standpunkt in der Illusion, dass der Aufprall so sanft wie möglich ausfällen möge.

Alle haben ihre Gründe. Das größte Problem aber ist, dass wir unfähig sind, uns ein anderes Szenario vorzustellen. Die Kritik wird ausgerollt, findet mit überraschender Leichtigkeit ihre Beute, erstickt jedoch am Ende an ihrer eigenen Ohnmacht, während die Rituale des Kapitals unversehrt ihren Lauf nehmen. Es gibt eine Instanz, die alles aufsaugt, um es dann als Ware wieder auszuspucken. Es gibt eine Bestie, die sich auskennt, weil sie auch, weil sie vor allem, in uns haust.

In seinem Essayband zur Ideologie¹ schlägt Žižek vor, von dem Moment an, da sich die Ideologie als unüberwindbar zu erweisen scheint, nicht mehr darum zu kämpfen, ein nicht–ideologisches Denken zu erschaffen. Da die Ideologie ob man nun wolle oder nicht, am Ende stets wieder vor dem geistigen Fenster auftauche, müsse man vielmehr versuchen, eine Reihe von Schutzwällen aufzubauen. Diese hätten die Aufgabe, soweit irgend möglich zu verhindern, dass jedes nur mittelmäßig geäußerte Denken sich ideologisch ausweite und dadurch ein Verstehen der Realität unterbinde, das dieser möglichst nahe kommt. Diese Aussage ist, begreiflicherweise, mehr als diskutabel, aber es wird mir gestattet sein, sie hier als Ausgangspunkt aufzugreifen.

Die Ideologie ist, wie wir wissen, vor allem eine Art determiniertes Denken. Es ist das Denksystem, das den Individuen zu eigen wird, sobald es ihnen gelingt, eine Art Weltschema zu erzeugen. Sobald es ihnen gelingt, ein Erklärungsgebäude in seiner Gesamtheit zu errichten und zu artikulieren, das jederzeit und unter allen Umständen anwendbar ist und dem gemäß alles, was in der Realität passiert, nach zuvor etablierten Kategorien und Bezügen katalogisiert wird. Alles in allem ist es das, was vom Denken übrig bleibt, wenn es ein Bedeutungsnetz geschaffen hat, das es für unveränderlich hält. Dementsprechend liegt das niederschmetterndste Problem der Ideologie darin, dass sie, indem sie alles bündelt, dem Verstehen zugleich zwangsläufig Grenzen setzt. Alles, was nicht ins Schema passt oder nicht darin eingefügt werden kann, kann nicht weiter verarbeitet werden und wird auf die ein oder andere Weise abgelehnt. Die Ideologie tendiert immer zu ihrer eigenen Stabilität. Sie glaubt an ihre Unbeweglichkeit, sie betreibt ihre Ewigkeit.

Geschichtlich scheint die Ideologie in ihrer konkreten Form (in der Form, wie wir sie heute noch immer begreifen) mit der Machterlangung des Bürgertums Gestalt anzunehmen. Durch die Entsakralisierung der Welt (Max Weber) erfolgt eine Entfernung von den alten Welterklärungsmustern, die die feudale Gesellschaft aufbot. So vollzieht sich der Wandel vom religiösen zum ideologischen Denken. Der Hauptunterschied zwischen beiden besteht darin, dass die bürgerliche Ideologie vollkommen utilitaristisch wird und sich herausbildet, um einen dem Kapitalismus förderlichen Weltzustand zu unterhalten. Sie sucht keine Erklärung mehr für die Welt, sondern und vor allem deren Rechtfertigung. Die Vision einer Welt, in der die Religion die Welt erklärt, sie zugleich aber auch in einer Beziehung (re–ligare) mit dieser transzendiert und dabei gleichsam willkürlich pervertiert, wird so durch eine interessengesteuerte „Konstruktion“ „ersetzt“ 2. Durch ein Narrativ, das vor allem darauf abzielt, die Ausbeutung zu untermauern. In diesem Fall hat die Ideologie längst aufgehört, eine wie auch immer geartete „natürliche“ Beziehung zur Realität aufzuweisen. Sie ist voll und ganz den Erfordernissen des Kapitalismus angepasst (und von diesem Angepasstsein hängt ihre Zukunft ab), selbst wenn sie damit auf einem desaströsen Beurteilungsfehler beruht. Jeder Versuch einer Beschreibung ist einem Rechtfertigungsaufwand unterworfen und die Hauptintention der Ideologie besteht darin, vom menschlichen Denken mit der Natur der Dinge selbst verwechselt zu werden und sich so letztlich als einzig mögliche Form, die Welt zu verstehen, darzustellen.

Nach dem ersten Triumph der bürgerlichen Ideologie kam eine Zeit, als diese auf den Prüfstand gestellt wurde, nicht im Hinblick auf ihre Existenz an sich, sondern im Hinblick auf ihre Fundamente. Wenn die bürgerliche Ideologie falsch war, weil sie auf irrigen Prämissen beruhte, auf die sie sich ihres eigenen utilitaristischen Charakters wegen stützte; wenn diese Ideologie also vom Dasein abgespalten war, weil sie auf einer Lüge basierte, die vom Herrschaftsanspruch des Bürgertums selbst angetrieben war, müsste man folglich ein neues Fundament für die Schaffung einer Ideologie suchen, das auf Wahrheit gegründet wäre. Auf diese Weise, durch dieses Wahrheitskonzept, gelänge es, ein Glaubenssystem aufzubauen, das den wahren Bedürfnissen des Menschen entspräche. Für Louis Althusser wurde dieses Problem durch einen Rückgriff auf die Wissenschaft gelöst, das heißt, indem die neue Ideologie mit „objektiven“ Prinzipien untermauert wurde (dem historischen Materialismus). Für Lukács waren es im Gegensatz dazu die historische Rolle der Arbeiterklasse und deren Ausbildung eines Klassenbewusstseins, von denen eine Wandlung (eine magische Wandlung nebenbei bemerkt) hin zu einer „guten“ Ideologie abhing. All das legt den Gedanken nahe, dass das Scheitern der kommunistischen Ideologie neben vielen anderen Ursachen dem Versuch geschuldet war, eine Ideologie durch die Schaffung einer gegensätzlichen Ideologie zu bekämpfen. Kann man eine siegreiche Ideologie mit ihren eigenen Waffen schlagen? Diese Frage hat einen Großteil des revolutionären Kampfes während des 20. Jahrhunderts entschieden.

Es geht jedoch nicht darum, und das wissen wir heute nur zu gut, eine Ideologie durch eine andere zu ersetzen. Denn der Mechanismus der Ideologie selbst ist totalisierend und wird letztlich jeden Versuch, die Welt auf der Grundlage der Realität zu verändern, zum Scheitern verurteilen. Jede Ideologie, auf welcher Basis sie auch immer beruht, verwandelt sich innerhalb kurzer Zeit in eine Reihe von Rezepten, die auf aprioristische Weise funktionieren und wahres Verstehen verhindern. Die Ideologie torpediert immer die Bewegung des Realen, um es ihrer eigenen Unbeweglichkeit anzupassen. Die Dinge sind, wie sie sind, niemals so, wie sie gerade geschehen, und noch viel weniger, wie sie sein werden.

Trotzdem besteht das entscheidende Problem weiterhin darin, ob das ideologische Denken wirklich unüberwindbar ist. Und ob innerhalb eines Glaubenssystems und der Verflechtungen zwischen den Glaubensvorstellungen, die der Mensch zu fabrizieren neigt, genügend Raum bleibt, all jenes hereinzulassen, was in die konstruierte Realität einbricht und sie beschädigt. All jenes, was uns vereinter Weise einem wahren Verständnis des Lebens auf der Erde näherbringt und was in allzu vielen Fällen der verdichteten Vorstellung, die wir uns von diesem gemacht haben, konträr entgegengesetzt ist. Die Erlangung eines nicht–ideologischen Denkens, also eines solchen, das nicht zuvor bestimmt worden wäre, das aber auch nicht durch eine ethische Aufhebung der Gegensätze in die eigene postmoderne Unbestimmtheit abglitte, hat sich geradezu in den heiligen Gral der Kapitalismuskritik verwandelt. Denn in dem Augenblick, in dem wir die Ideologie am meisten zu bekämpfen glauben, scheint sie umso leichter wieder zum Fenster hereinzuschlüpfen und sich in einen immerwährenden wechselseitigen Vorwurf zwischen den einen und den anderen, zwischen Denksystemen und zwischen Individuen zu verkehren.

Alles scheint darauf hinzudeuten, dass die Ideologie in ihren Grundzügen ein überaus gefährliches Monstrum ist. Ihr reduktionistisches Wesen, ihre verblüffende Leichtigkeit ist so patent und kann so bequem „von oben“ manipuliert werden, dass jedem Vertrauen, das wir in sie setzen können, mit jeder Art von Vorsichtsmaßnahme und mit absolutem Misstrauen begegnet werden muss (wenn es denn wahr ist, dass sie sich für das Leben in den gegenwärtigen entwickelten Gesellschaften als notwendig erweist, da diese offensichtlich so komplex sind, dass die Beziehung zu den Phänomenen, die dieses Leben prägen, nicht in ihrer Gesamtheit vom Alltagsdenken erfasst werden kann). Ein Misstrauen, das uns dazu führt, das Ende des ideologischen Denkens, wie wir es bis zum heutigen Tag kennen, als eine für das Überleben des Erdenmenschen absolut notwendige Maßnahme, auszurufen.

Auch Slavoj Žižek widmet sich diesem Problem und schlägt vor, dass der Störfaktor, den man dem Diskurs systematisch hinzufügen könne, damit dieser nicht automatisch ideologisch werde, die Psychoanalyse sein könnte. Ein Element also, das wie ein Schutzwall ständig die Resultate des Diskurses hinterfragen würde, wobei der Dogmatismus und sein Abgleiten in eine Falschheit, wie sie Althusser verstand, möglichst zu vermeiden wären. Auch wenn wir für den Augenblick das Problem beiseite lassen, ob es prinzipiell eine „angemessene“ Ideologie geben kann und annehmen, dass der Apparat an Glaubensvorstellungen, Praktiken und Mediationen zwischen beiden, den eine Ideologie bei ihrem Siegeszug in Bewegung setzt, in seiner Nichtreduzierbarkeit, wie Žižek zuzugeben scheint, nötig sein könnte, so scheint es uns doch, dass Žižeks Ruf nach einer Einführung der Psychoanalyse als Mittel zur Eindämmung offenkundig unzureichend ist.

Wenn die Ideologie definiert „was ist“ , wenn es ihre Funktion ist, das Verhalten der Individuen in der Gegenwart zu rechtfertigen und zu prägen, scheint die zur Diskurskritik angewandte Psychoanalyse nicht in der Lage zu sein, zu formulieren, was wir mehr als alles andere wollen, nämlich einen Szenenwechsel. Zweifellos würde die Psychoanalyse als Waffe dienen, dieses „so ist es eben“ , das so typisch für die Ideologie ist, in Frage zu stellen. Aber sie wäre unzulänglich im Hinblick auf das „so wird es sein“ , das heute eine so lebensnotwendige Bedeutung für unsere Erkenntnis hat. Und hier liegt das gravierendste Paradoxon des kritischen Diskurses. Der Kritik an der herrschenden Ideologie gelingt es nicht, aus eigenen Kräften das Fundament für eine Zukunftsgestaltung auf der Basis anderer Prämissen zu kreieren. Beim gegenwärtigen Zustand des Lebens in den fortgeschrittenen Gesellschaften existiert eine fortwährende Leerstelle, ein brutaler epistemologischer Bruch zwischen der durch die kapitalistische Ideologie saturierten Gegenwart und demjenigen, was die Vision einer anderen Welt, die dem menschlichen Wesen eher entsprechen würde, sein könnte. Es gibt keinen Austausch, die Ideen stauen sich in ein und demselben Tümpel. Um es einfach auszudrücken, der Weg, der von diesem Ort an einen anderen führt, wurde abgeschnitten. Es wird für eine bessere Welt gekämpft, die Revolution wird herbeigesehnt, aber nirgends erscheint ein gangbarer Weg, um das gegebene Szenarium zu verlassen. Wieder und wieder scheint das Denken auf eine Mauer zu stoßen, über der nach wie vor das Schild "Ausgang" hängt. Angesichts dieser Perspektive entscheiden sich viele dafür, eine Kehrtwendung zu machen und ihre Runden in beleuchteter Szenerie fortzuführen.

Diesen Weg kann nur eines erneut freimachen, wenigstens erneut freimachen, mit aller heutzutage dafür nötigen Kraft: Das utopische Bewusstsein. Die konkrete revolutionäre Utopie ist die einzige, die beim gegenwärtigen Stand der Dinge das Fensterglas zerbrechen kann, um eine Druckentlastung von der Ideologie einzuleiten. Und zwar nicht nur von der hegemonialen Ideologie (Antonio Gramsci), sondern auch von allen anderen antagonistischen Ideologien, deren Stelen noch immer das Handlungsfeld abstecken, in dem sich die gesellschaftlichen Kämpfe, oder was davon übrig ist, abspielen. Wenn die Utopie ihren Weg in die Gesellschaft findet, wenn sie sich in der geistigen Welt ansiedelt, schafft sie es, alle Beteuerungen ins Wanken zu bringen, die das ideologische Denken und Handeln formen. Es geht darum, dass die Utopie, wenn sie die Funktion eines lacan'schen Spiegels einnimmt, die Realität neu dimensioniert, sei es nun zum Guten oder zum Schlechten. Der absolute Mangel utopischen Denkens in der gegenwärtigen Welt scheint der Hauptgrund zu sein, weshalb es der herrschenden Ideologie gelungen ist, das aktuelle Kontinuum, in dem wir leben, zu schaffen. Eine Gegenwart, in der es keinerlei möglichen Raum mehr für einen wie auch immer gearteten Imaginationsakt gibt, der danach strebte, diese Mauern zu überwinden.

Schon Bloch hat mit aller notwendigen Tiefgründigkeit und mit allem beeindruckenden wie obligatorischen Materialismus gezeigt, dass die auf der Hoffnung einer besseren Welt beruhende Utopie eine Grundkonstante menschlichen Seins ist. Und zwar von dem Moment an, da der Mensch die Misere seines Daseins erkennt. Tagträumerei, Vorhaben, Träume, Chimären der Wissenschaft, politische Organisationen, all das scheint seine Antriebskraft aus jenem Moment zu gewinnen, in dem die radikale Unzufriedenheit mit der Welt, in die wir geworfen sind, sich dem Individuum auf bewusste oder unbewusste Weise aufdrängt. Diese Kraft ist unverzichtbar, um ein jedes Projekt voranzutreiben. Doch diese Kraft braucht einen Inhalt, den sie in sich selbst suchen muss oder zumindest einen Horizont, den sie sich schmiedet. Die Utopie lässt Zeit in den Raum ein, beschwört den Tagesanbruch herauf. Viel zu oft verliert der Mensch aus dem Blick, dass es in Wirklichkeit eine andere Welt ist, die er braucht, um sein Leben zu finden und dass es diese Welt herbeizurufen, ja auszurufen gilt, damit sie schließlich real wird. „Das Imaginäre ist das, was dazu tendiert, real zu werden“ , schrieb André Breton. In dieser Bewegung liegt die wahre Natur der Utopie. Es ist notwendig, dass das Gespenst allmählich menschliche Gestalt annimmt, damit sich diese Tendenz materialisiert. Man muss es in die Realität holen. Selbst in den eigenwilligsten, subjektivsten Formen muss die Utopie der Welt demonstrativ zurückgegeben werden, damit sie sich überhaupt wieder im Individuum ansiedeln kann, sei es zum Beweis oder zur endgültigen Vernichtung. Denn das wäre immerhin der Anfang einer Bewegung, genau das, was uns in großem Maßstab fehlt.

Doch auf die Frage, was es zu suchen gilt, folgt die Frage, wie es zu finden ist. Es scheint völliger Unsinn, heutzutage auf der Basis eines Wahrheitskonzeptes — sei es nun wissenschaftlich, philosophisch oder kritisch — zu versuchen, eine neue Gesellschaft zu erschaffen. Sehr wohl aber existiert das Bestreben, eine neue Gesellschaft auf der Basis authentischer Wünsche der Menschen zu schaffen, jener Wünsche, die sich, von der Zentripetalkraft des Kapitalismus losgelöst, der Rolle des Menschen auf der Erde anpassen. Wir haben versucht, das utopische Denken als Methode der Destabilisierung und des Bruchs mit der hegemonialen Ideologie des Kapitalismus vorzuschlagen. Nun wäre jedoch alles verloren, wenn diese Utopie die Folge eines in unserem eigenen Geist derart fest verankerten Denkens wäre, dass sich dieses als unfähig erwiese, andere Lösungen, als die von der Ideologie vorweg gedachten, aufzugreifen. Existiert aber irgendeine andere Form des Denkens, die sich als Welterklärung verstehen ließe, die weder der Ideologie noch einer religiösen Transzendenz hin zu einer anderen Welt verfallen würde, auf die alle Antworten verschoben wären?

Der Mythos, so weiß man, entsteht auf spontane Weise und aus dem allgemeinen Bewusstsein. Was eine beliebige Erzählung in einen Mythos verwandelt, ist, dass dieser auf implizite Weise mit dem Innern der menschlichen Seele übereinstimmt. Das ist es, was den Mythos vom Rest der Erzählungen abhebt und ihn zu einem Abbild der Wünsche der Menschheit macht. Das ist es, was ihn zwingt, sich in tausend verschiedenen Formen zu wiederholen und was ihm erlaubt, die unterschiedlichsten Gesichter anzunehmen und in der menschlichen Seele über Jahrhunderte hinweg als bevorzugtes Welterklärungsmedium einen Widerhall zu erzeugen. Viele Facetten der Mythen sind, wie wir wissen, nicht besonders angenehm, aber die Mythen können nichts für die interessengeleitete Verwendung, der sie unterworfen sind. Die Mythen erlangen ihre Macht trotz ihrer selbst, sogar trotz uns selbst.3 Das zentrale Problem der Ideologie ist, wie wir gesehen haben, dass sie nicht spontan entsteht, sondern geschaffen wird, um die Realität anhand von Vorannahmen zu rechtfertigen. Wenn es darum geht, die Beziehung zwischen dem Menschen und der Welt wiederherzustellen — eine Beziehung, die einzig und allein dadurch gerettet werden kann, dass sie mit den menschlichen Wünschen in Beziehung gesetzt wird, genauer gesagt damit, was diese an Freiheit aufweisen (mit anderen Worten: ihre freie Äußerung, ihr Auftreten im Unvorhergesehenen, ihr Aufkommen als unkontrollierte Notwendigkeit, ihre nicht–ideologische Offenheit) — so wird man zugeben müssen, dass in den Mythen in reichlicher Form all jene Schlüsselmerkmale auftauchen, die es erlauben, etwas Konkretes darüber zu erfahren, was der Mensch wirklich wünscht.

Da der Mythos in dieser Form spontan entsteht und sich auf der Basis der Wünsche und Bedürfnisse des Menschen entwickelt, gelingt es ihm auf unvermittelte Weise die Repräsentation einer Welt zu sein, in der die Frage nach seiner Richtigkeit oder Falschheit irrelevant wird, weil nur noch der Begriff des Bedürfnisses zählt. An dem Punkt, da hier das Wort Bedürfnis im Sinne einer Notwendigkeit auftaucht, sollte sich die utopische Macht, die jedem Mythos innewohnt, problemlos begreifen lassen. Daher könnte der Mythos eine effektive Waffe für die Transformation der Welt sein, denn er strebt danach, den Platz einzunehmen, den die Ideologie als Hauptorganisationsmacht der Realität im Geist der Individuen unbesetzt lässt. Unglücklicherweise lassen sich Mythen aufgrund ihrer eigenen Natur nicht benutzen, ohne dass ihr spontaner Charakter, aus dem sie fast wie durch Zufall ihre Macht schöpfen, fatalerweise pervertiert würde. Eine Macht, die sich sobald sie sie aber erlangt haben, mit aller Gewalt zeigt. Die auf den Mythen aufbauende Arbeit kann im Gegensatz zu der von der Utopie ausgehenden nicht rational erfasst werden. Dennoch kann die Utopie während ihrer Entwicklung sehr wohl auf dem gesamten mythologischen Wissen der Menschheit aufbauen und bei der Suche nach den Lösungen für sich stellende Probleme von den Mythen lernen. Und es kann der Utopie gelingen, in ihrer Bewegung, in einer dialektischen Bewegung, mit den Mythen zu verschmelzen.

Doch bei allzu vielen Gelegenheiten verfällt der theoretische Diskurs über den Mythos in eine schmerzhafte Unbestimmtheit. Bei allzu vielen Gelegenheiten werden die Vorschläge hinsichtlich seiner Existenz verstanden und nicht verstanden. Daher ist es notwendig zu betonen, dass der Mythos, so wie es Roger Caillois darlegte4, seine eigene Praxis entwickeln muss und, dass es das Gebiet der Praxis ist (wie wir noch sehen werden), wo er seine wahre Existenz erlangt. Nehmen wir als Beispiel den Zustand von Vorstellung und Praxis der Liebe in unserer heutigen Gesellschaft. Wenige Konzepte werden heutzutage vom Kapitalismus so bestürmt wie dieses. Die Schutzmauern, die zu anderen Zeiten dazu gedient haben, die Liebe in den bedachtsamen Grenzen gesellschaftlicher Notwendigkeit zu halten, sind heute von einem ganzen Arsenal aktiver, zerstörerischer Zwänge überrollt worden. Es ist nicht mehr nur so, dass die Suche des Individuums nach Liebe wie zu vielen anderen Zeiten in den Hintergrund tritt, da das Individuum seine eigenen Erfahrungen mit den Schwierigkeiten machen muss, die sich ihm stellen und die gleichsam immer die Priorität in seiner Existenz einzunehmen scheinen. Es ist sogar so, dass die nötigen Mechanismen geschaffen wurden, die Liebe zu zerstören, wenn sie sich, sei es auch nur schüchtern, der Entwicklung des Kapitalismus entgegenstellt. Die Firmen, die ihren Angestellten untersagen, sich zu verlieben, die schwangere Frauen entlassen, die in der Arbeitswelt alle möglichen Freiheiten einschränken, von der Zerstörung der Zeit für die Liebe gar nicht erst zu sprechen, von ihrer Vernichtung durch Belastungen und Verpflichtungen bis hin zum gelungensten Coup: der Unmöglichkeit der Trennung des Paares im Falle der Erschöpfung wegen des durchaus realen Risikos eines ökonomischen Ruins; dicht gefolgt von all den destruktiven Kräften der Vorstellung von Liebe in unserer Gesellschaft, einer zerstörerischen Vorstellung, die erstaunlicherweise sogar all jene durchdrungen hat, die die Liebe mit mehr Einsatz verteidigen müssten. Lacans Aussage über das Nicht–Existieren der Frau paraphrasierend, könnte man heute sagen: Die Liebe existiert nicht. Mit anderen Worten, die Liebe als Vorstellung, als Projekt, existiert nicht. Es existiert allein die individuelle Liebe, das heißt, die Erfahrung einer Liebesbeziehung als prekären, außergewöhnlichen, nur individuell und in einem permanenten Ausnahmezustand erkennbaren Moment. An diesem Punkt nun gilt es, den Mythos der amor loco5 ins Spiel zu bringen, wenn man über die Basis einer neuen nicht ideologischen oder so wenig ideologisch wie möglichen Zivilisation nachdenken will, die auf den authentischen Wünschen des Menschen beruht. Einer Zivilisation, die den Saustall ausmistet, in den sich der Bereich der Liebeserfahrung verwandelt hat, und in dessen Zentrum es jenes wieder herzustellen gilt, um das unser Leben kreist. Dies lässt sich auch wie folgt erklären: Die Utopie kann im Mythos der amor loco den Weg finden, durch den es ihr gelänge, ein Szenarium (ausgereift genug, tiefgründig genug) zu erdenken, innerhalb dessen alle Phänomene der Repression von Liebe, von denen ich oben sprach, letztlich, undenkbar wären. Eine Welt, in der die Liebe die Rolle und die Priorität einnimmt, nach der unser ganzes Sein an jedem einzelnen Tag unseres Lebens schreit.

Doch der Kampf gegen das ideologische Denken, der Versuch, einen Ausweg aus der vollständigen Unterdrückung der Zukunft zu suchen, endet nicht hier, mit der Suche nach einer Denkart, die nicht wie ihre Vorgänger unvermeidbar die gleichen Fehler wieder und wieder beginge und der es schließlich gelänge, die Welt in welchem Maße auch immer, in einem anderen Zustand zu hinterlassen als jenem, der vor ihrem Erscheinen bestand. Um die Wahrheit zu sagen, man kann gar nicht umhin, zu beginnen. Denn sobald die Ideologie, im Sinne Gramscis, hegemonial wird, hört sie auf, eine Sammlung geistiger Regeln zu sein und wird zu etwas wesentlich Komplizierterem und Machtvollerem. In dem Maße, wie diejenige gesellschaftliche Klasse, welche die Ideologie vorantreibt, den Sieg davon trägt, verstärkt sich die Ideologie durch eine Reihe von Apparaten6, durch die sie weitergegeben und aufrechterhalten wird,sowie insbesondere durch rituelle Praktiken nach Art einer Religion (Hegel). Diese ideologischen Praktiken sind es am Ende, die der Ideologie ihren Sinn verleihen, denn genau darin — und das im Falle des Kapitalismus mehr als in jedem anderen — besteht ihre Natur. Der Erfolg des Kapitalismus hängt von dieser Übertragung ab, von dieser Konkretisierung durch ein Ritual, das im Falle der Religion bar eines utilitaristisch–materiellen Sinnes, im Falle des Kapitalismus jedoch das eigentliche Ziel ist. Und was fast noch wichtiger ist: Diese Praktiken dienen ebenfalls dazu, in einer Reflexbewegung die Macht der Ideologie zu stützen, indem sie diese als etwas in sich vollkommen Natürliches zeigen. In dem Augenblick, da sich die Ideologie wie eine unauflösbare Bedingung in das Denken, und nicht nur in das Denken, sondern durch ihre Praktiken (diejenigen, die am Ende „die Ideologie machen“ ) auch in die Gewohnheiten einzunisten scheint, ist es folglich notwendig, einen Ausgangspunkt zu finden, der den Ausbruch ermöglicht, falls wir ihr denn entfliehen möchten, um eine der Realität näherkommende Erkenntnis zu erlangen. Und dieser Punkt kann ausschließlich ein Punkt konkreter Natur sein.

Ein Punkt konkreter Natur deshalb, weil sich die Ideologie, wie wir sehen, durch Alltagshandlungen, die ihr Sinn verleihen, zu schützen scheint. Fast scheint die Ideologie ihr Wesen als organisierte Gesamtheit von Vorstellungen gegenwärtig übertroffen und auf das Alltagsleben, bis zu dessen vollkommener Beherrschung, übergegriffen zu haben. Das heißt: Die Unterdrückung der Ideen, die ideologische Gewalt, hat ganz allmählich abgenommen, bis sie sich praktisch gänzlich in das Zusammenspiel ritueller Praktiken verwandelt hat, in denen sie Gestalt annimmt. Heutzutage geht es dabei weniger um einen Zwang als um Verführung. 7 Dem Bild (im Sinne Debords) ist es gelungen, sich mit dem spezifischen Gewicht der Ideologie aufzuladen. Deshalb markiert das Ritual des Verkaufs, der längst von dem Komplex an Vorstellungen losgelöste Konsum, der es einst stützte, das Ideologisch–Werden des Kapitalismus. Man kann vortrefflich kaufen, ohne mit der kapitalistischen Ideologie einverstanden zu sein, doch solange gekauft und verkauft wird, wird diese Geste als absolut gültig angesehen werden. Aus dieser Perspektive betrachtet, wäre die Kritik an der Ideologie notwendig. Sie wäre jedoch ab dem Moment nicht ausreichend, da sie nicht mehr die Macht hat, den Komplex von Praktiken und Haltungen, die Teil des Kapitalismus sind, ausdrücklich zu verändern. In einer Welt, in der es keine faktische Opposition zum Kapitalismus gibt, die ihn um seine Zukunft bangen lässt, kümmern sich nicht einmal die Kapitalisten selbst darum, sich zu rechtfertigen. Der Kapitalismus folgt somit auf mehr oder weniger unveränderbare Weise seiner eigenen Dynamik. Denn solange wir nur alle weiter kaufen und verkaufen (uns kaufen und uns verkaufen), kann unser Geist so frei sein, wie er es nur wünscht, um zu denken, was immer er will, solange niemand zu einer Praxis übergeht, durch die sich der Kapitalismus einigermaßen beunruhigt fühlen könnte.

Der Kapitalismus ist so bis auf die andere Seite des ideologischen Szenariums vorgedrungen. Es ist ihm ziemlich egal, ob das, was er verkündet, mit der Realität übereinstimmt, denn seinem Projekt wird keine Erwiderung mittels eines anderen Projektes entgegengesetzt. Die Basis des Kapitalismus ist, wie wir allzu gut wissen, der Mehrwert, weshalb er jedes Dispositiv in Gang setzen wird, das es ihm gestattet, Gewinn zu machen, selbst ein solches, das in größtmöglichem Gegensatz zu seiner vorgeblichen Ideologie steht.8 Denn seine Logik ist, dass die Ideologie in Wirklichkeit nur auf dem Gebiet des Spektakels und von oben nach unten gilt. Der Kapitalismus als solcher hat keine Ideologie. Die Ideologie gehört zu den Individuen, sie ist für die Individuen in der Welt und erfüllt nur in ihnen ihren Sinn. Das Kapital wird in dasjenige investieren, was ihm die Möglichkeit bietet, einen Mehrwert zu erzeugen, und es wird dabei seine „Prinzipien“ auf die Individuen projizieren, ohne sich notwendigerweise nach diesen zu richten. Wenn der Kapitalismus sich also schon seit langem der angeblichen Notwendigkeit, Worten Taten folgen zu lassen, entledigt hat, so ruft eine solche Abspeckung der Ideologie in bestimmten Individuen die sogenannte zynische Vernunft (Peter Sloterdijk) hervor. Angesichts des alltäglichen Nonsens und in Anbetracht dessen, was sie umgibt, entscheidet sich ein beträchtlicher Teil der Individuen für den Zynismus. Dieser Zynismus muss in Anbetracht genau dieser Situation mangels Perspektiven erstarren. In dem Maße, wie Alternativen zum Kapitalismus aus dem geistigen Spektrum gestrichen wurden, steht das Individuum, nach vollzogener Ablösung von der hegemonialen Ideologie, mit dem Rücken zur Wand des Zynismus, unfähig, eine andere Antwort zu formulieren und überzeugt davon, dass es keinen möglichen Ausweg gibt. Wie ohne weiteres zu begreifen ist, sind dem Kapitalismus diese Individuen herzlich egal. Solange das Individuum konsumiert wie jedes andere auch (und in diesem Fall werden die besten Angebote für seine mehr oder weniger alternativen Bedürfnisse kreiert), solange kann es sich hinsetzen und mit absoluter Sicherheit darauf warten, dass ihm sein Zynismus zu den Ohren herausquillt.

Diese Praktiken stellen dergestalt das Grundprinzip des heutigen Kapitalismus dar. Sein Sieg reicht viel weiter als zu früheren Zeiten, weil er sich auf diese Weise als immun gegen Kritik erweist. Dem Kapitalismus ist es gelungen, sich zu verewigen, indem er direkt in die individuelle Sphäre verlegt wurde, in den Körper selbst, ohne die Notwendigkeit vom Individuum auch nur akzeptiert zu werden (Akzeptanz ist, bewusst oder unbewusst, ein Willensakt). Demgegenüber haben wir ein Individuum, das ungeachtet der eigenen, wie auch immer gearteten Ideologie weiter am Kapitalismus mit all seinen Praktiken teilnehmen wird, ohne sich diesen entziehen zu können. Praktiken, die auf die eine oder andere Weise sein Leben und die Struktur dieses Lebens bilden, als wären sie etwas Natürliches, Unverrückbares.

Dennoch lanciert der Kapitalismus seine Ideologie weiterhin Tag für Tag. Im Einklang mit dem zuvor Erläuterten kann man sich der Frage nicht erwehren, wozu eigentlich noch diese permanente Propaganda der herrschenden Ideologie durch die Medien, wenn sich diese für die Rechtfertigung kapitalistischer Praktiken doch als immer unnötiger erweist. Ist das bloßes Trägheitsprinzip? Vollkommen. Heute scheint die Ideologie weniger auf die Rechtfertigung eines bestimmten Weltzustands, als vielmehr darauf abzuzielen, den gesamten geistigen Raum des Individuums zu blockieren. Es ist ein Flächenbombardement, dessen einziger Nutzen es ist, bis zum Überdruss dieselbe Botschaft zu wiederholen, bis keiner mehr Zweifel daran hat, dass es gar keine andere gibt9, und was das Schlimmste ist, gar keine andere geben kann, ob man ihr glaubt oder nicht. Es geht darum, nicht einmal den winzigsten Tropfen Zukunftslicht durchdringen zu lassen.

Wenn die Kritik letztlich gegen die Rituale des Kapitalismus machtlos ist, dann weil diese sich auch, und zwar vornehmlich, auf einer tieferen Ebene als dem Denken des Individuums eingenistet haben; denn nunmehr geht es mehr um die Organisation der Körper und deren Bewegungen als um diejenigen des Geistes. Der Kapitalismus hat die berühmte Lektion Pascals bis zur Perfektion gelernt: Pascal empfahl denen, die am Glauben zweifelten, die Methode derer, die schon zum Glauben gefunden hatten, nämlich auf die Art zu beginnen, „in der sie begonnen haben. Das heißt, sie handelten in allem so, als glaubten sie, sie gebrauchten Weihwasser, ließen Messen lesen usw. Ganz natürlich wird Euch eben das Gleiche zum Glauben führen.“ 10 Mit anderen Worten, das Ritual schafft auch den Glauben. Der Kniefall ist gleichermaßen eine Waffe, um das Denken zu formen.

Angesichts dieses Szenariums wäre es demnach erforderlich, auf eine Waffe zu bauen, die die Macht der ideologischen Praktiken des Subjektes destabilisieren würde. Diese nicht–ideologische, auf Handlungsweisen ausgerichtete Praxis, die sich durch die Freiheit des Individuums bei dessen Suche nach einer eigenen Verbindung zu dem, was es umgibt und was in ihm wohnt, konkretisiert, kann in ihrer vollständigen Form, umfassend definiert, verschiedene Ausdrucksformen finden. Eine davon und unserem Verständnis nach die vollkommenste ist, die als Verhaltensweise verstandene Poesie. Der poetische Materialismus erweist sich somit (auch) als optimales Mittel, um Tag für Tag die Rituale der Wirtschaft zu unterminieren. Um diese sich selbst zu entfremden und derart eine Neutralisierung ihres gespenstischen Charakters, ihres naturgemäß „geheiligten“ Wesens, ihrer deterministischen Verkleidung zu erreichen.

An dieser Stelle muss man eine notwendige Präzisierung vornehmen. Die Poesie ist mit all ihren Mitteln, so wie wir sie verstehen, kein literarischer Akt, der durch das Schreiben der Sublimierung des Lebens dient. Sondern sie ist, aus einem radikaleren Blickwinkel betrachtet, der Moment, in dem die Freiheit und die Befreiung des Menschen um seiner selbst willen und als solche die Oberhand gewinnt. Die Poesie manifestiert sich durch jedwede Art von Verhalten, in welchem das Individuum mit eigenen Mitteln das findet, womit es sich auf direkte Weise verbunden fühlt. Was es mehr als alles andere selbst ist, und was ihm, in das Lustprinzip eingebettet, ermöglicht, sich ein Leben aufzubauen, das seinen wahren Neigungen wirklich entspricht. Unter keinen Umständen handelt es sich darum, das Leben in ein Kunstwerk zu verwandeln, sondern darum, die Existenz in wahres Leben zu verwandeln. Daher verkörpert sich diese poetische Praxis nicht notwendigerweise in der Schaffung eines „Lebensstils“ , sondern sie ist vielmehr das stillose Leben an sich, wodurch es automatisch sogar mit den Regeln bricht, die es sich selbst auferlegt hat. Was in Erscheinung tritt und sich zeigt, was sich nicht im Vorhinein definiert und was seine Souveränität aus sich selbst heraus gewinnt. Es handelt sich um das auf seine eigene Präsenz reduzierte Leben, ohne jede Projektion, ohne jede Vermittlung. Es gibt nichts jenseits davon. Darum geht es, um das Hier geht es, um die Zeit im Realen geht es.11 Die Poesie stellt mit allen Mitteln, durch ihre Nicht–Reglementiertheit, durch die Freiheit, auf der sie beruht und ohne die sie bloß in Form einer Karikatur existieren kann, zweifellos eine mehr als wirksame Methode gegen die Invasion der Rituale des Marktes dar. Denn wenn ihr souveräner Charakter die Poesie auch selbstgenügsam macht, heißt das nicht zwangsläufig, dass das Experimentieren mit ihr und ihre Vervielfältigung keine Bresche in das Bewusstsein schlagen und den ganzen rituellen Apparat, durch den sich der Kapitalismus im Verhalten der Individuen konkretisiert, in Frage stellen und in eine dauerhafte Krise stürzen kann. Und diese Krise ist, wie man begreifen wird, eine notwendige Krise.

Poetische Akte bergen ein faszinierendes utopisches Potenzial. Ihr bloßes Erscheinen setzt die eigene Lebensprojektion in Beziehung zu diesen (Was ist mein Leben? Ist das alles?). In der Lähmung bedeutet das jene menschliche Figur, die eine Bewegung beginnt, welche sich ausweitet. Ihr Licht erhellt nicht, sondern wirft vielmehr Schatten auf unser miserables Alltagsleben. Deshalb macht die Poesie nichts anderes, als uns einen Weg zur Umkehr zu zeigen. Und auf diese Weise bringt sie das Denken zurück, damit es sich in der als reinem Wunsch verstandenen Utopie von Neuem konkretisieren kann. .

Unter den aktuellen Lebensbedingungen in spektakulären Gesellschaften halten wir es für absolut notwendig, das Denken und die Aktion, die sich selbst als revolutionär bezeichnen, auf die Zukunft auszurichten. Wir wissen, dass die Sorge um die Zukunft, um eine andere Zukunft, ihren ganz eigenen Anteil am Impuls, die Welt zu verändern hat, ohne den dies hier nichts als ein leerer Diskurs wäre. Dennoch ist die Konkretisierung der Utopie in Form einer „gängigen Währung“ notwendig. Es handelt sich um eine Neuverortung, in der das utopische Denken einen Schritt nach vorn machen muss und — wo seine Waffen sich als notwendig erweisen — einen beständigen Dialog mit der Kapitalismuskritik pflegen muss. Die jüngsten gesellschaftlichen Bewegungen, wie diejenigen für ein Recht auf Wohnung in Spanien oder gegen den Klimawandel, enttäuschen uns noch immer in ihrer Machtlosigkeit gegenüber dem der Wirtschaft anheim gefallenen Staat. Auf der anderen Seite findet ein Teil der Kapitalismuskritik Vergnügen an einem lähmenden Pessimismus. Bei ihnen allen bemerkt man mehr als nirgendwo sonst dieses völlige Fehlen an Zukunftsperspektiven. Possibilismus, Reformismus oder verbittertestes Nachgeben scheinen in so vielen Köpfen den gesamten verfügbaren Raum eingenommen zu haben. Das Gefühl eines brutalen Bruches setzt sich in ihnen fest, weil sie sich schon damit abgefunden zu haben scheinen, dass es nichts außerhalb des Kapitalismus, außerhalb seines Machtgeflechts, geben kann. Aber um zu verlangen, was unmöglich scheint, sind wir hier. Um der Gesellschaft den Spiegel einer anderen möglichen Gesellschaft vorzuhalten, damit die Utopie sich — wenn sie einst Form angenommen hat — aus der ewigen Unzufriedenheit, aus der alltäglichen Scham selbst, geboren nennen kann.

Das Modell der leidenschaftlichen Anziehung von Charles Fourier trägt noch immer geistige Früchte und liefert der Vorstellungskraft eine wahre Goldmine. Ihm ist es auch zu verdanken, dass die Utopie seither nicht mehr nur missbräuchlicherweise, wie im Laufe der Geschichte oft geschehen, als Organisation der Zukunft auf der Basis eines wissenschaftlichen Ordnungstraums oder sogar noch geschmackloser, als Ruf nach einem verdummenden Schlaraffenland, aufgefasst wird. Sondern, dass die Utopie vielmehr als Neu–Organisation, als Nicht–Organisation, auf der Basis realer, notwendiger Leidenschaften des menschlichen Wesens betrachtet werden muss. „Das Glück besteht darin, viele Leidenschaften zu haben und die Mittel, sie zu befriedigen“ . Für den Menschen der Gegenwart stellt dieser Satz eine Rettung in der Not für das entfremdete Verhalten dar, bei dem alle Leidenschaften ihrer möglichen wirtschaftlichen Ertragsfähigkeit untergeordnet sind. Eine solche gesunde Praxis stellt demgegenüber einen konkreten Anfang utopischer Aktion dar.

Jeder Versuch, der die Mauer zu überwinden hilft, die unsichtbar werden lässt, was außerhalb des Kapitalismus liegt, muss gehört werden. Ob er ausreichend begründet ist oder nicht. Jede zukunftsträchtige Handlung, die das eigene Leben außerhalb der kapitalistischen Koordinaten ansiedelt, verdient es, realisiert zu werden. Die Realität weist Leerstellen auf, wo sich der Schmerz und das Gefühl der Niederlage machtvoll eingenistet haben, sehr zu unseren Ungunsten. Es ist an der Zeit, sie mit Zukunft zu füllen.

1 Slavoj Žižek (Hg.): Ideología, un estado de la cuestión, Fondo de Cultura Económica, Buenos Aires 2003.

2 Ersetzt in ihrer zentralen Rolle, versteht sich. Die Religion ist in die bürgerliche Ideologie integriert, wird aber nicht mehr der wesentliche Ausgangspunkt zum Verständnis der Welt sein.

3 Auch wenn die Mythen, und das zu betonen ist der Mühe wert, kein eigenes stratosphärisches und vom Individuum letztlich unabhängiges Leben besitzen. Ihre Unabhängigkeit beruht darauf, dass sie aus dem Unkontrollierten erwachsen, das in jedem von uns wohnt, aus dem Wunsch oder der Angst, die sich Bahn brechen, um sich zu manifestieren.

4 Roger Caillois, El mito y el hombre, Fondo de Cultura Económica, México D.F. 1988.

5 » l'amour fou« (Anm. d. Ü.)

6 Die berühmten ideologischen Staatsapparate Althussers, also die Schule, die Medien, die Politik, die Gerichte, die Werbung, die Gefängnisse. Alle Institutionen, durch die der Staat im Dienste des Kapitals das kapitalistische System schafft, betreibt und schützt.

7 Oder, wie Foucault es für die Zukunft in der wir uns nicht wiederfinden, beobachtete, es geht nicht mehr um Disziplin, sondern im Kontrolle.

8 Es gibt zahlreiche Beispiele: die pornografische Industrie, die Pharmaindustrie, die barbarischen Monopole von so respektierten und bejubelten Kapitalisten wie Bill Gates oder Silvio Berlusconi ... Die vor kurzem vorgenommenen, massiven Interventionen vonseiten des Staates, angeführt von denen, die sich noch Stunden vorher als Liberale bezeichneten, muten sarkastisch an. Nur Idioten, oder die armen, furchtbar schlecht informierten Leute haben sich darüber aufgeregt, dass der Präsident des spanischen Arbeitgeberverbands zu Beginn der Krise, die wir heute durchmachen, „eine Pause in der Marktwirtschaft“ forderte. Dem Kapital ist es ziemlich egal, was seine eigenen Ideologen oder think tanks über es verlauten lassen.

9 Stellen wir uns einen Augenblick lang ein Fernsehen vor, in dem von der Werbung vierundzwanzig Stunden am Tag Botschaften des Typs ausstrahlt werden wie: Lass deinen Job sein, wenn er dir nicht gefällt; kaufe nicht, was du nicht brauchst; lass dich von deinen Chefs nicht ausbeuten; die Manager sind Halunken ...

10 Blaise Pascal: Gedanken, aus dem Französischen von Ulrich Kunzmann, herausgegeben und mit einer Einführung von Jean–Robert Armogathe, Serie II 418/233, Reclam, Leipzig 1987, S. 171.

11 Für eine detailliertere Ausführung des Konzeptes der Poesie durch andere Mittel, siehe: AAVV: Situación de la poesía (por otros medios) a la luz del surrealismo, Ediciones de la Torre Magnética/Traficantes de sueños/Colectivo La Felguera/Fundació d'Estudis Llibertatis i Anarcosindicalistas, Madrid 2006.



Aus dem Spanischen von Claudia Wente

Der vorliegende Artikel ist mit dem Titel UTOPÍA PASO ELEVADO 2011 in der Ausgabe 19-20 von Salamandra erschienen.