Fünfzehn Thesen für eine angekündigte Revolution

Demokratie als Hypothese

rodriguez

Ilustración: Frank Diersch

Übersetzung: Johanna Bietau

Heutzutage eine Revolution anzustreben, oder schlimmer noch, eine Vereinigung zwischen Revolution und Demokratie als politische Hypothese zu verstehen, scheint nach wie vor eine unzeitgemäße und abgehobene Position zu sein. Hat nicht die lange Reihe sogenannter revolutionärer Ereignisse (Frankreich 1789, Russland 1917, China 1949, Cuba 1959) gezeigt, dass die einzig möglichen Folgen derartiger Unternehmungen der Terror, der Autoritarismus und die Zerstörung sind; allesamt gerechtfertigt vor dem Altar der guten Ideen? Kann man zu Beginn des neuen Jahrhunderts noch so etwas Bizarres wie die Möglichkeit einer Revolution vertreten? Ist auf der anderen Seite das aktuelle politische Regime nicht eine Demokratie? Und ist diese nicht das genaue Gegenteil der Schwärmerei und des revolutionären Abenteurertums? Die Idee hinter der folgenden Abhandlung ist die Entkräftung dieser Zweifel. Mehr noch, ihr Ausgangspunkt beruht auf einer klassischen Annahme: Der gegenwärtige Moment ist ein “revolutionärer” Moment und muss als ein solcher erkannt werden. Auf diese Gelegenheit zu verzichten, bedeutet, das Vertrauen auf eine unmögliche innere Wiederherstellung beizubehalten. Um sich diesen Vorannahmen anzuschließen, genügt es, die folgende These zu teilen: Das derzeitige politische Regime, das spanische und insbesondere das europäische Regime – welches andere sollte letztlich unser politischer Raum sein? – bewegen sich entlang einer Abwärtsspirale hin zu einer unumkehrbaren Degeneration. Diese Spirale könnte endlos sein und ohne einen Eingriff von außen (nennen wir ihn „demokratisierend“) wird es keine Umkehr geben. Es scheint, dass wir vor die uralte Alternative Revolution oder Reform gestellt, ohne Zweifel gezwungen sind, die erstere zu wählen. Die Schlussfolgerungen, die sich von dieser These ableiten, sind natürlich sowohl vorteilhafter als auch nachteilhafter Natur. Einerseits zwingt uns die Situation dazu, die Augen weit zu öffnen und Zeuge des Zerbrechens tausender Menschenleben, einschließlich der unseren, zu werden. Ich nenne hier nur die offensichtlichsten Bereiche: Arbeitslosigkeit, Zwangsräumungen und die Zerstörung des Öffentlichen haben innerhalb eines kurzen Zeitraumes die Möglichkeit für Autonomie und die Zukunftsaussichten großer Bevölkerungsschichten beschnitten. Andererseits drängt uns die Situation auf das Feld der Entscheidung, hin zu dem, was die Griechen „Kairos“ und die Klassiker „Revolution“ nannten.

Die folgenden Seiten sollen eine Annäherung an die Frage ermöglichen, wie wir uns diesen Entscheidungen stellen. Sie fragen, „Was bedeutet Gewinnen?“ und „Wie gewinnen wir?“ Die Antwort darauf ist jedoch komplexer als das, worauf die beiden Begriffe „Demokratie“ und „Revolution“ verweisen. Kurz gefasst ist eine Revolution ein radikaler Wandel eines institutionellen Regimes, der die politischen und wirtschaftlichen Eliten in eine Zeit versetzt, in der ihnen die althergebrachten Privilegien entzogen sind. Das Ziel der Revolution ist die Gleichheit der Chancen, des Lebensglücks und vor allem der Möglichkeit, politische Entscheidungen zu treffen. Dies bleiben aber alles leere Worte, wenn sie nicht in konkrete historische und politische Bedingungen eingebettet werden, unter denen sie sich als Bewegungen, Institutionen und Möglichkeiten des Wandels verkörpern. Letztendlich geht es um Momente, in denen Demokratie und Revolution gleichzeitig und in konkreter Form als verfassungsgebende Macht erscheinen. Die Aussage, dass die Demokratie jetzt „revolutionär auferlegt“ werden muss, beinhaltet weit mehr, als nur die lange gemeinsame Geschichte von Revolution und Demokratie aufzugreifen. Es setzt voraus, erneut in den alten Begriffen von Strategie, Taktik und Organisation zu denken.
Dies erfordert die klare Definition eines Bereiches, in dem sich die Widersacher und Feinde, deren Positionen es zu blockieren und zu verdrängen gilt, erkennen lassen. Es setzt also letztlich voraus, sich zu den Verhältnissen der „alten Politik“ zu bekennen. Dies ist etwas, das wir bis vor kurzem für uns ausgeschlossen haben. Dass wir uns heute Fragen wie nach dem „Gewinnen“ stellen können, wäre ohne das wegbereitende Ereignis des 15. Mai nicht möglich gewesen.1 Was nach diesem Tag auf den Plätzen der meisten spanischen Städte geschah, und was in Europa und den USA folgte, hat die jüngere Geschichte zweigeteilt. Seit die Bewegung auf den Plätzen aktiv ist, gibt es nicht nur einen tatsächlichen Protest gegen die Regierung der Finanzwelt und die selbstmörderische Auferlegung der Austeritätslogik, sondern es gibt auch eine genuine Forderung nach Demokratie. Der Begriff Demokratie hat einige seiner alten Bedeutungen wiedererlangt. Dazu gehört ihr Verständnis als direkter Regierungsausübung und Anprangerung der Oligarchie und ihrer Privilegien, wie versteckt sie in ihren heutigen Formen auch zu Tage treten mögen.
Ein geschichtliches Ereignis kommt jedoch selten allein zur Welt. Deshalb, und um die oben genannten Fragen zu beantworten, muss man die Geschichte gemäß der vielzitierten Aussage Walter Benjamins „gegen den Strich [...] bürsten“. Und dafür muss man zunächst einmal anerkennen, dass die Ereignisse in Südeuropa in Wahrheit zu einem Zyklus von Protestbewegungen und -erfahrungen gehören, die aufeinander aufbauen. Vielfach handelt es sich um erfolgreiche Protestformen, die sich gegen eine neoliberale Politik der Enteignung und Ausplünderung richten, aber auch gegen die politischen Regime, die von oligarchischen, durch das Parteiensystem legitimierten Mächten dominiert werden. Diese Regime berauben den Begriff Demokratie seines wesentlichen Gehaltes. (...)
Die hier beanspruchte „historische Methode“ erfordert gleichwohl zu hinterfragen, warum es heutzutage so schwierig ist, die Frage nach der Demokratie zu stellen. Warum es so schwierig ist, in strategischen Begriffen zu denken und warum die Umstände derart verworren erscheinen, selbst für diejenigen, die nach dem 15. Mai entschieden haben, ihnen entgegenzutreten. An diesem Punkt ist es entscheidend, zu verstehen, dass eine derartige Verwirrung ebenfalls eine historische Konsequenz ist. Anders formuliert, drängt sich mit dieser Methode die Frage auf, warum in der aktuellen Situation weder das klassische Schema von rechts und links, noch die allgemein gebräuchlichen Bilder von „der Revolution“, „der Demokratie“ oder sogar von „der Politik“ als Schlüssel zur Orientierung dienen. Um auf diesem weiterhin so nebulösen wie wirren Feld voranzukommen, muss man sich vergegenwärtigen, dass diese Fragen (Was bedeutet Gewinnen und wie gewinnen wir?) seit 250 Jahren im Mittelpunkt der politischen Debatte der Revolutionäre stehen. Dass sie uns heute derart bizarr erscheinen, liegt daran, dass sie in den vergangenen Jahrzehnten eine besondere Form der Annullierung erfahren haben.
In der Hoffnung, dass Benjamins Satz „Das Subjekt historischer Erkenntnis ist die kämpfende Klasse selbst“ auch für die heutige Situation gilt, knüpfen an den argumentativen Faden des Buches2 einige historische “Exkurse” an, die dazu dienen sollen, die Vorstellungskraft durch die Geschichte anzuregen. Selbstverständlich sollen diese “Fragmente” die eigentliche “Erzählung” lediglich unterstützen. Diese ist in Thesen strukturiert, in explizit dogmatischen Aussagen, die aufeinander zu folgen scheinen. Natürlich handelt es sich hierbei um ein Spiel; jedoch nicht um ironische Unterhaltung, die stets Distanz zu dem hält, was eigentlich ausgesagt werden soll. In erster Linie ist dieses Spiel ein Kinderspiel, das die elementare Physik der Kräfte, die die aktuelle wirtschaftliche und politische Krise umkreisen, entdeckend erforscht. (...)

These I
Für die europäische Krise gibt es keine Lösung

Durch die Vormachtstellung der finanziellen Interessen und das Beharren auf der neoliberalen Orthodoxie definiert (wir sprechen hier von der derzeitigen Form der Klassenherrschaft), gibt es für die europäische Krise keine Lösung. Anders formuliert: Solange die europäische Regierung dem Finanzkapital unterworfen ist, sind die Verelendung und damit die soziale Enteignung sowie die Verlängerung der Austeritätspolitik, die nur in einer größeren wirtschaftlichen Rezession und Depression münden können, die einzig mögliche Aussicht. Mit anderen Worten: Die Regierung der neoliberal Gläubigen ist heute das größte Hindernis für die wirtschaftliche Erholung, sowohl bezogen auf den konventionellen Kapitalismus als auch auf andere soziale und wirtschaftliche Ordnungen.

These II
Die Finanzialisierung ist heute die soziale und wirtschaftliche Form des Kapitalismus und eine tragfähige Lösung für seine mittelfristigen Widersprüche


Die Finanzialisierung hat die politische Ökonomie des aktuellen Kapitalismus soweit durchdrungen, dass der Reichtum heute vor allem ein finanzieller Reichtum, die wirtschaftliche Macht eine finanzielle Macht und der Ertrag ein finanzieller Ertrag ist. Trotzdem ist die Finanzialisierung als Antwort auf die Krise genauso prekär und zeitlich begrenzt wie ihr Wachstumsmechanismus – die Vermögens- und Kreditblasen. Deshalb kann die Instabilität des Finanzkapitalismus nur in einem Kapitalismus in der Krise resultieren.

These III
Die Krise ist eine systemische Krise


Sie ist weder eine zyklische Krise noch eine Krise, in der ein neues kapitalistisches Paradigma gesät wird. Die derzeitige Krise ist eine systemische Krise, die Auswirkungen auf die Gesamtheit der wirtschaftlichen und politischen Ordnungen hat, die das derzeitige Regime der Finanzakkumulation konstituieren. Die mit diesem Epochenwandel verbundene Ungewissheit wird durch die großen politischen und wirtschaftlichen Hindernisse für die Herausbildung einer neuen mittelfristigen Wachstumsphase noch verstärkt.

These IV
Die systemische Krise zeigt sich hauptsächlich als die Unfähigkeit, neue Rahmen institutioneller Regulierung für den globalen und somit europäischen Kapitalismus zu entwerfen


Die Unanwendbarkeit der erwähnten Lösungen auf die systemische Krise des globalen finanzialisierten Kapitalismus beruht auf der derzeitigen Unfähigkeit des kollektiven Kapitalisten, institutionelle Rahmen zu entwickeln, die auf einem Minimalkonsens der unterschiedlichen staatlichen, wirtschaftlichen und sozialen Akteure fußen. Es handelt sich deshalb und vor allem um ein politisches Problem.

These V
Die Krise ist eine revolutionäre Krise


Revolution ist ein Prozess, der einen substantiellen Anteil des Sozialkörpers (99 %?) dazu bringt, die wirtschaftlichen und politischen Eliten, die das effektive Regieren aufhalten, abzusetzen und dabei eine vollständige Veränderung der wesentlichen institutionellen Ordnungen herbeiführen. Unter den gegebenen Umständen handelt es sich um eine ideologische Alternative. Der Verlauf der Krise lässt keine andere Wahl, als dieses Risiko auf sich zu nehmen oder die soziale und politische Abwärtsbewegung zu akzeptieren. Die Revolution ist schlichtweg wieder zu unserer Aufgabe geworden.

These VI
Das Jahr 1968 ist ein Vorläufer der aktuellen Revolution: Die damaligen Probleme ähneln den heutigen


Wenn auch durch die gesamte kanonische Definition verdunkelt, sind die sogenannten sozialen Bewegungen, die die emanzipatorische Politik in der Ära vor der Krise begründeten, Erben einer zweifachen historischen Bewegung: Der Revolution von ‘68 und des Widerstands gegen die neoliberale Konterrevolution der 80er und 90er Jahre. Zwei Momente, die keine evidenten und klaren Kontinuitäten zeigen, zwei Momente, die jeweils Risse im Verlauf der Geschichte der revolutionären Politik hinterlassen. Der erste Moment, das Jahr 68, umfasst die Zeit einer globalen Revolution. Es ist ein Jahr des allumfassenden Aufstandes gegen die in der Nachkriegszeit geschaffenen institutionellen Ordnungen: gegen die bipolare Welt des Kalten Krieges und je nach Einflussgebiet die Unterwerfung gegenüber der USA oder der UdSSR; gegen die disziplinarischen Technologien der Führung von Produktionsstätten; gegen die Schule, das Gesundheitswesen und die hierarchische, bürokratische und patriarchalische Ordnung der Kultur; ebenso wie gegen die Reproduktion dieser „Verhältnisse“ innerhalb der real existierenden Linken, den kommunistischen Parteien, der Sozialdemokratie und den Bewegungen der nationalen Befreiung. Der zweite Moment zeigt sich vollkommen andersartig. Er folgt auf die politische Niederlage von ‘68 und zeichnet sich durch die “Restauration” aus. Er stellt die Errichtung einer neuen Hegemonie dar, die aus den politischen und kulturellen Herausforderungen der vorangegangenen Krise hervorgeht. Der erste Moment ist eine Zeit des Optimismus in einer Welt, die erobert und neu erfunden zu werden lockt. Der zweite Moment ist die Anpassung an eine Situation sozialen Verlusts, sozialer Fragmentierung und Marginalisierung. Dennoch sind wir weit davon entfernt, den politischen Erfindungsreichtum, der beide Momente begleitet, auf die Herausforderungen der Gegenwart anzuwenden.

These VII
Die Regierungsformen, die mit der Globalisierung der Finanzmärkte verbunden sind, sind die “konterrevolutionäre” Antwort auf die Herausforderungen von 1968


Das Jahr 1968 erzeugte ein wahres wirtschaftliches, soziales und politisches Erdbeben. Im Norden und im Süden, im kapitalistischen Westen und in den Reichen der verschiedenen Kommunismen (sowjetisch und maoistisch) des Ostens mussten die politischen Regime, die verschiedenen lokalen Oligarchen und das, was man damals die nationale Bourgeoisie nannte, schnell und entschlossen reagieren. Im Verlauf der Konterrevolution wurden neue Regierungsformen erfunden, in denen sich der alte Nationalstaat vom sogenannten Neoliberalismus genötigt und untergraben wiederfand. Das politische Paradox der Anti-68er-Reaktion ist, dass sie mit der Globalisierung nicht nur einen Weg zur Wiedererlangung des Ertrags entdeckt hat, sondern auch eine neue Regierungsform.

These VIII
Die Formen des Widerstands gegen die politische und kulturelle Konterrevolution, die auf ‘68 folgte, sind unser Erbe und bedeuten gleichzeitig unsere Grenzen


Die kritischen Bewegungen wurden an den Rand gedrängt und waren durch die harten, von der neoliberalen Regierung und der postmodernen kulturellen Atmosphäre auferlegten Bedingungen dazu gezwungen, sich geordnet zurückzuziehen. In ihrer DNA bewahrt sich jedoch ein großer Teil des Besten von ‘68 ebenso wie die Grenzen, die ihnen auferlegt wurden. Die Schlussfolgerungen und Unwegsamkeiten der Bewegungen aus jener Zeit sind deshalb unser wertvollstes Erbe und die deutlichste Demonstration der Grenzen, die wir heute überwinden müssen.

These IX
Die derzeitigen Umstände erfordern ein Überdenken und eine Aktualisierung der alten Taktik-, Strategie- und Organisationsprobleme


Die 68er-Revolution hat die klassischen Probleme der revolutionären Politik kritisch wieder aufgegriffen. Das Ergebnis fiel unterschiedlich aus und oszillierte zwischen rhetorisch überzogener Wiederholung und radikaler Erneuerung, zwischen Verschärfung des klassischen Revolutionismus und einer Korrektur der Totalität der traditionellen Formen der Emanzipation. Heute, in einer Zeit, in der die Welt an allen Ecken und Enden zu zerbrechen droht, scheint es unumgänglich, die bekannten Probleme wieder zu verhandeln und auf ihren Aktualitätsbezug hin zu prüfen.

These X
Von Revolution zu sprechen, bedeutet von Demokratie zu sprechen


Unser politisches Problem, das Problem, dem die Bewegungen heute immer wieder gegenüber stehen, scheint sich mit einem einzigen Wort fassen zu lassen: Demokratie. Indem sie zunehmend mit einem Zusammenspiel von Institutionen (Wahlen, Parteien und Parlament) identifiziert wird, hat die Demokratie nach und nach verloren, was sie im Kern ausmacht: Die soziale Verteilung und Teilung jeglicher Form von Macht, die radikale Gleichheit in der politischen Teilhabe und der Verteilung des Reichtums, die Anerkennung der Macht der Verfassung als Wurzel der Demokratie. Aus diesem Grunde stellen sich uns heute kaum dringendere Aufgaben als dieses alte Wort zurückzuerobern, zu aktualisieren und neue Formen der Demokratie zu versuchen.

These XI
Spanien ist keine Demokratie


Spanien ist keine Demokratie. Spanien ist durch das Fehlen realer Gleichheit der Chancen, und damit auch des Lebensglücks, keine Demokratie. Spanien ist keine Demokratie, da weder das einfache “Volk”, noch die “Staatsbürger” oder der Sozialkörper in seiner Vielfalt und Heterogenität (die Multitud?) als politische Subjekte ausreichend materielle und rechtliche Anerkennung bekommen. Spanien ist stattdessen eine Oligarchie, da die Handlungs- und Entscheidungsgewalt in den Händen einer professionellen Kaste, der politischen Klasse, liegen, die, in Parteien organisiert, alle Vorrechte und Kompetenzen bezüglich der institutionellen Ordnung und der politischen Macht innehat. Spanien ist auch deshalb eine Oligarchie, weil es weder Grenzen noch eine Trennung zwischen der genannten Kaste und den wirtschaftlichen Eliten gibt.

These XII
Die Degeneration des Regimes ist unumkehrbar. Die Bewegung 15-M ist sowohl Ursache als auch Folge ihrer Krise


Das 78er-Regime hat sich in eine Spirale der internen Selbstzerrüttung begeben, für die es kein anderes Ende als seine komplette Ersetzung zu geben scheint. Der Grund dafür lässt sich in einer doppelten Krise finden. Zum einen sind das der Kollaps des Immobilienfinanzierungsmodells und die Verhinderung eines schnellen wirtschaftlichen Auswegs durch die von der europäischen Troika auferlegte Austerität. Zum anderen ist es die mit 15-M beginnende institutionelle Krise, in der das, was noch an Legitimität übrig war, ruiniert wurde. In diesem Sinne eröffnet die Krise des Regimes ein Szenario, in dem eine Reform in immer weitere Ferne rückt. Gemäß den in diesem Text bereits eingeführten Begriffen entsteht dadurch ein revolutionäres Szenario.

These XIII
Die politische Hypothese ist heutzutage ein “verfassungsgebender Prozess”


Nachdem die Möglichkeiten für eine interne Reform des Regimes ausgeschöpft und jegliche aufständischen oder militärischen Lösungen ausgeschlossen sind, misst sich die Chance der demokratischen Revolution heute an der Ausarbeitung eines verfassungsgebenden Prozesses, also eines radikalen Wandels der Staatsform und der verfassungsrechtlichen Normen. In diesem Prozess sollten die bestehenden institutionellen Wege so weit wie möglich genutzt werden. Doch selbst wenn die Kraft ihrer Legitimität auf ihrem demokratischen und pazifistischen Charakter beruht, kann sich die Möglichkeit einer demokratischen Revolution nur im Konflikt durchsetzen, das heißt, mithilfe der Bildung eines Kräfteverhältnisses, das sie begünstigt.

These XIV
Wir wissen nicht, wie lange die Umstände noch günstig sind


Die demokratische Revolution wird sich einer möglichen Verschlechterung der Umstände stellen müssen, selbst wenn die Möglichkeit einer Umkehr zu den alten Bedingungen mit den alten Bestandteilen des politischen Regimes nicht mehr existiert, also das Aus jeder möglichen Reform erklärt wurde. Diese Verschlechterung könnte durch partielle verfassungsrechtliche Veränderungen ebenso wie durch den Austausch der politischen Hauptakteure geschehen.

These XV
Die Revolution wird eine europäische oder keine sein


Das Problem ist Europa. Der lange Weg der europäischen Integration hat letztendlich jede einzelne Stütze zerstört, die so etwas wie eine nationalwirtschaftliche Souveränität hätte darstellen können. In einem einzelnen Land isoliert bleiben daher der spanische oder auch der katalanische verfassungsgebende Prozess zur Nichtigkeit verdammt. Die Frage bleibt also weiterhin: Welche Revolution und für welches Europa?

Epilog
Demokratie und Republik. Notizen zu einem neuen europäischen Föderalismus


Wenn das Problem jedoch Europa ist, wenn die gemäßigte Revolution in Spanien oder den iberischen Republiken weiterhin gegen die altbekannte Wand der Revolution „in einem einzigen Land“ stößt, wenn die so oft phantasierte Hypothese einer demokratischen Revolution nur auf Ebene des gesamten Kontinents verwirklicht werden kann, was lässt sich für eine derartig große und komplexe Skala vorschlagen? Welches Modell von “Staat”, von Demokratie kann in einem durch die Grenzen und die unterschiedlichen patriotischen Gefühle zersplitterten und zerrissenen Europa zur Anwendung kommen? Die Angelegenheit ist überaus kompliziert. Das reale und institutionelle Europa, das sich von den Römischen Verträgen von 1956 bis zur EU entwickelte, war bis vor kurzem eine unhinterfragte Realität für all die wohlgesonnenen Seelen – sei es aus dem rechten oder dem linken Lager – die sich von dem im alten Europa tief verwurzelten Nationalchauvinismus zu befreien vermochten. Die Legitimität des Europäismus, die sich durch die “schrecklichen Jahre” der beiden großen Massaker begründet, bescherte Europa den kontinentalen Frieden als das entgegengesetzte Prädikat, die “wunderbaren Jahre” der Europäischen Union und der Europäischen Gemeinschaft. So hat sich Europa über die Jahre einer kraftlosen fortschreitenden Selbstgefälligkeit hingegeben und somit jede Kritikfähigkeit verloren, gerade als eine rassistische extreme Rechte oder eine extreme Linke, die in Europa nichts anderes als ein oligarchisches Projekt des Spätkapitalismus sehen kann, an Bedeutung gewann. [...]

Der “freie Staatenbund” war ein Vorhaben der Pariser Kommune. Aber können all diese Polemiken über das föderale Prinzip uns etwas für die aktuelle Situation des alten Kontinents mitgeben? Hat der föderale demokratische Radikalismus à la Jefferson oder Proudhon etwas mit dem aktuellen europäischen Föderalismus zu tun? In der auf die aktuelle Krise folgenden Debatte wurde der Föderalismus immer wieder als Absicherung gegen den Abgrund dargestellt, in dem Europa zu versinken droht. Dabei handelt es sich um einen zutiefst wirtschaftlich geprägten Föderalismus, der auf der Vereinheitlichung des Bankensystems, des Fiskus und des Haushalts basiert und im Finanzsektor die Einführung von Mechanismen zur gemeinsamen Verantwortungsübernahme umfasst. Sobald es sich jedoch um ein Denken in politischen und damit demokratischen Begriffen handelt, sind die Vorschläge ebenso vorhersehbar wie redundant: Die Macht des Parlaments stärken, Einrichtung einer per Wahlsystem zu wählenden europäischen Präsidentschaft, höhere Transparenz, Demokratisierung der Kommission und des Rats usw. Dies ist nicht viel mehr als ein Sprung auf der gleichen Skala der bekannten Dynamiken der repräsentativen Demokratie, die auf der Trias Parlament-Parteien-Repräsentation beruhen.

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Der grausame Kontinent Europa, der sich fünf lange Jahrhunderte der Eroberung der Welt gewidmet und sie unter das Joch der neuen kapitalistischen Wirtschaftspolitik gezwängt hat, befindet sich nun vielleicht auf seinem letzten großen Kreuzzug. Sein Schicksal wird zwischen der demokratischen Revolution und seiner Rückkehr in die Diktatur des Finanzkapitals besiegelt. Die Krise hat eine Wahrheit enthüllt, die sich heute unüberhörbar macht: In den Institutionen dieses gealterten Kontinents erinnert nichts mehr an seine ehemaligen zivilisatorischen Errungenschaften. Weder der Wohlfahrtsstaat, noch die Demokratie oder die Grundrechte.
Sich um sich selbst drehend wird das fragmentierte Europa nicht einmal in der Lage sein, das revolutionäre Erbe, das sein Bestes formte, in die Zukunft zu projizieren: Die Demokratie von 1848, die leuchtenden Überreste der sozialen Aufstände des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts sowie die subjektiven und kulturellen Revolutionen von ‘68. Es ist schlichtweg die Herausforderung unserer Epoche, nicht nur die selbstmörderische Krise des Finanzkapitalismus zu überwinden, sondern auch die revolutionären Traditionen wiederaufzunehmen, die diesen Kontinent zu einem erträglichen Ort für ein annehmbares Leben gemacht haben. Um es tragisch auszudrücken, könnte man es unsere Aufgabe nennen, Europa vor sich selbst zu retten.
Es bleibt noch anzumerken, dass eine derartige Aufgabe nicht dazu führen darf, unser Gewicht auf die unglückseligen Schultern anderer Kontinente zu verteilen. Es wird keinen imperialistischen Import des Reichtums geben, um den europäischen Völkern einen leichtfertigen Wohlstand zu verschaffen. Europa wird eine “Provinz unter anderen” sein und wird sein Schicksal jedes Mal mehr innerhalb seiner eigenen Grenzen und mit seinen eigenen Rohstoffen ausmachen müssen. Das Wachstum Ostasiens, die Revolutionen in Lateinamerika, der lange militärische und ökonomische Niedergang des alten Kontinents sollten anderes verhindern. Und so sollte zum ersten Mal eine wirkliche Demokratie möglich sein, ohne Plünderung anderer und ohne ökologische Ausbeutung. Eine Demokratie allein auf den Säulen der direkten Entscheidungen des Sozialkörpers, der Verteilung des Reichtums und der freien Vereinigung der alten europäischen Regionen.

1 15. Mai 2011, Beginn der Protestbewegung in Spanien. (Anm. d. Ü.) 2 Demokratie als Hypothese. Fünfzehn Thesen für eine angekündigte Revolution (Traficante de Sueños, 2013) ist das Ergebnis von Gesprächen, die in den politischen Räumen, die durch die Bewegung 15-M entstanden sind, geführt wurden. Die Bewegung der “Empörten” besetzte im Jahr 2011 Hunderte von Plätzen in Spanien. Die dem Buch zu Grunde liegenden Ideen wurden erstmalig auf den konstituierenden Versammlungen der Commons Stiftung (Fundación de los Comunes) im Sommer 2012 präsentiert. Der abgedruckte Auszug stellt eine stark gekürzte Fassung des Buches dar.